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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart

schreiben! gehütet, seine Kräfte stets zusammengehalten und sie nur dann
ausgebeutet, wenn sich ihm ein nettes Problem aufdrängte oder ihm für
ein altes eine neue Beleuchtung notwendig erschien. Überall zeigt sich in den
neuern Romanen eine schärfere Beobachtung, eine knappere Darstellung und
eine sichrere Charakterzeichnung. Der Realismus hat bei Feuillee eine aristo¬
kratische Form angenommen; seine Romane sind nicht mehr schattenhafte
Phantasiegespinste, sondern Studien aus dem Leben der höhern Gesellschaft,
owäö8 Ä<z 1a vis inoirältins. Liebe, Ehre, Adelsstolz, Religion sind die vier
Motive, die fast in allen Werken Feuillets die Handlungen und die Katastrophe
bestimmen. Die Kämpfe des materiellen Lebens, die großen sozialen Fragen
der Gegenwart spielen nur wenig hinein. Seine Gestalten brauchen nicht den
rauhen Kampf ums Dasein zu führen; sie stehen in gesellschaftlicher und
finanzieller Beziehung so hoch da, daß die trüben Wogen von unten sie gar
nicht berühren. Fenillets Kunst besteht vor allem in der Fähigkeit, selbst die
maßvollsten, ruhigsten Seelen, deren kalte, nüchterne Lebensauffassung überall
betont, deren vornehme Gesinnung niemals verschwiegen wird, nach und nach
in einen Zustand zu versetzen, wo sie alle sittlichen Grundsatze und Pflichten
vergessen und unter dem Sturm der Leidenschaften zusammenbrechen. Er weiß,
daß die Geschichte und das Schicksal des weiblichen Herzens im Grnnde weniger
durch leidenschaftliche Regungen bestimmt wird, als dnrch Unthätigkeit, Lange¬
weile, unbewußte Neigungen und Träumereien, durch Mitleid und Eitelkeit.
Hier setzt der Schriftsteller ein und führt mit unerbittlicher Logik selbst die
sichersten Wesen, die edelsten Geschöpfe ins Verderben.

Seine Frauen und Mädchen haben in ihrem Wesen, ihren Neigungen und
Bedürfnissen alle etwas Gemeinsames. Sie verraten nicht wie die Gestalten
George Sands ein sanguinisches Temperament, sie sind nicht wie die Frauen
Balzacs berechnende Verstandesmenschen, das Gemeinsame in ihnen ist die
Nervosität, die Willensschwäche, die unbewußte Sinnlichkeit. Ihr ganzes
Handeln hängt von Vorurteilen, von Anwandlungen und Launen ab, sie haben
eine geringe Selbsterkenntnis und wenig Verstand, denn sie gehen wie Nacht¬
wandler bis ans Ende ihrer Leidenschaften. Lemaitre nennt sie sehr richtig
6<Z8 növrozMIiW cleosniös et ä'uus 6l6A'cM(ziz irrLproÄmvIs. Auffallend ist es,
daß bei Feuillee fast überall die Frauen die Verführer sind, und daß sich in
der psychologischen Entwicklung fast bei alleu drei Stufen nachweisen lassen.
Sie zeigen dem Manne gegenüber znerst eine Art von Abneigung und Furcht,
als ahnten sie ungefähr, daß eine nähere Berührung mit ihm gefährlich werden
könnte, daß sie durch ihn um Leib und Seele Schaden nehmen werden. Dann
entbrennt in ihnen ein unbestimmtes Verlangen, genährt durch Eitelkeit, Neu¬
gierde und Sinnlichkeit, und sie versuchen alle Mittel der Koketterie. Endlich
kommt das dritte Stadium, das entweder in der völligen, stürmischen Hin¬
gebung oder in Verzweiflung und Selbstmord endigt.


Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart

schreiben! gehütet, seine Kräfte stets zusammengehalten und sie nur dann
ausgebeutet, wenn sich ihm ein nettes Problem aufdrängte oder ihm für
ein altes eine neue Beleuchtung notwendig erschien. Überall zeigt sich in den
neuern Romanen eine schärfere Beobachtung, eine knappere Darstellung und
eine sichrere Charakterzeichnung. Der Realismus hat bei Feuillee eine aristo¬
kratische Form angenommen; seine Romane sind nicht mehr schattenhafte
Phantasiegespinste, sondern Studien aus dem Leben der höhern Gesellschaft,
owäö8 Ä<z 1a vis inoirältins. Liebe, Ehre, Adelsstolz, Religion sind die vier
Motive, die fast in allen Werken Feuillets die Handlungen und die Katastrophe
bestimmen. Die Kämpfe des materiellen Lebens, die großen sozialen Fragen
der Gegenwart spielen nur wenig hinein. Seine Gestalten brauchen nicht den
rauhen Kampf ums Dasein zu führen; sie stehen in gesellschaftlicher und
finanzieller Beziehung so hoch da, daß die trüben Wogen von unten sie gar
nicht berühren. Fenillets Kunst besteht vor allem in der Fähigkeit, selbst die
maßvollsten, ruhigsten Seelen, deren kalte, nüchterne Lebensauffassung überall
betont, deren vornehme Gesinnung niemals verschwiegen wird, nach und nach
in einen Zustand zu versetzen, wo sie alle sittlichen Grundsatze und Pflichten
vergessen und unter dem Sturm der Leidenschaften zusammenbrechen. Er weiß,
daß die Geschichte und das Schicksal des weiblichen Herzens im Grnnde weniger
durch leidenschaftliche Regungen bestimmt wird, als dnrch Unthätigkeit, Lange¬
weile, unbewußte Neigungen und Träumereien, durch Mitleid und Eitelkeit.
Hier setzt der Schriftsteller ein und führt mit unerbittlicher Logik selbst die
sichersten Wesen, die edelsten Geschöpfe ins Verderben.

Seine Frauen und Mädchen haben in ihrem Wesen, ihren Neigungen und
Bedürfnissen alle etwas Gemeinsames. Sie verraten nicht wie die Gestalten
George Sands ein sanguinisches Temperament, sie sind nicht wie die Frauen
Balzacs berechnende Verstandesmenschen, das Gemeinsame in ihnen ist die
Nervosität, die Willensschwäche, die unbewußte Sinnlichkeit. Ihr ganzes
Handeln hängt von Vorurteilen, von Anwandlungen und Launen ab, sie haben
eine geringe Selbsterkenntnis und wenig Verstand, denn sie gehen wie Nacht¬
wandler bis ans Ende ihrer Leidenschaften. Lemaitre nennt sie sehr richtig
6<Z8 növrozMIiW cleosniös et ä'uus 6l6A'cM(ziz irrLproÄmvIs. Auffallend ist es,
daß bei Feuillee fast überall die Frauen die Verführer sind, und daß sich in
der psychologischen Entwicklung fast bei alleu drei Stufen nachweisen lassen.
Sie zeigen dem Manne gegenüber znerst eine Art von Abneigung und Furcht,
als ahnten sie ungefähr, daß eine nähere Berührung mit ihm gefährlich werden
könnte, daß sie durch ihn um Leib und Seele Schaden nehmen werden. Dann
entbrennt in ihnen ein unbestimmtes Verlangen, genährt durch Eitelkeit, Neu¬
gierde und Sinnlichkeit, und sie versuchen alle Mittel der Koketterie. Endlich
kommt das dritte Stadium, das entweder in der völligen, stürmischen Hin¬
gebung oder in Verzweiflung und Selbstmord endigt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/186>, abgerufen am 23.07.2024.