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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart

(beliebten einen Skeptiker, einen Freigeist, einen Ungläubigen erkennt. Sibylle,
die strenge Katholikin, die sogar ihren eignen Pfarrer zu einem tiefern Glauben
zu bekehren weiß, verstößt ihren Geliebten Raoul, weil er es nicht über sich
gewinnen kann, in die Messe zu gehen. Raoul verkleidet sich als Maler, "in
die Kirche in Sibylleus Pfarrdorf auszuschmücken und sich seiner Geliebten
wieder zu nähern. Aber auch jetzt vermag seine Liebe noch nichts; eine Ver¬
mählung erscheint Sibyllen unmöglich, denn Raoul kann nicht mehr glauben,
er kaun aber auch nicht heucheln. Sibylle stirbt, und erst der Sterbenden
darf Raoul den Brautkuß geben. Es ist kein Wunder, daß dieser Roman von
der realistische" Kritik mit lautem Hohngelächter aufgenommen wurde und daß
selbst die Feuilletschwärmer ,den Kopf schüttelten, weil sie denk Schriftsteller
auf das religiöse Gebiet nicht zu folgen vermochten. Nur wenige haben sich
die Mühe gegeben, die künstlerischen Absichten des Dichters zu erkennen und
die psychologische Entwicklung auf ihre Wahrscheinlichkeit zu prüfen. Wo dies
aber geschehen ist, da hat man dem Roman vollen Beifall gezollt. So sagt
treffend der Philosoph Caro von ihm: "Er ist das Gemälde des Glaubens,
eines religiösen Phänomens, das sich in seiner geläutertsten Gestalt einer
jungen Seele bemächtigt und alle andern Empfindungen dieser Seele zu seiner
Höhe emporhebt. Es schließt weder die menschliche Liebe aus, noch die ge¬
heimen Erregungen und Schwächen des Herzens oder die Bestrebungen nach
irdischer Glückseligkeit. Es opfert von alledeut nichts, aber es ordnet alles
den Empfindungen einer höhern Art unter. Es erweckt und unterstützt jene
heldenmütige Treue, die sich von der Liebe eine so hohe Vorstellung macht,
daß sie die Liebe zurückstößt, wem, sie nicht in Gott ihre ewige Dauer findet.
Welche Thorheit und Lächerlichkeit sollte denn hierin liegen? Diese Idee
strahlt inmitten der Gemeinheiten und Schändlichkeiten, worin sich der zeit¬
genössische Roman versenkt hat; in diesem Strome, in diesem Sturzbad einer
lärmenden, nichtssagenden, oberflächlichen Litteratur, das Tag für Tag auf
uns einbricht, ist man glücklich, unter dem Sande und dem Schlamme einige
reine Goldkörner zu finden." Der Philosoph und Akademiker, der seinem
Kollegen dieses Lob spendete, fand bei den Gegnern leider wenig Gehör.

Der Gedanke, daß man ohne Religion, ohne kirchliche Gesinnung dem
Materialismus, den Leidenschaften und Lastern zum Opfer fallen müsse, erscheint
fast in allen Romanen Feuillets, am pnckeudsteu in dem vorletzten: 1^ Nord<>,
worin Sabine Tallerant, ein mit positivistischer Philosophie und kirchenfeind¬
lichen Anschauungen großgezogenes Mädchen, die Frau ihres Nachbars ver¬
giftet, um diesen zu heiraten.

Feuillee hat die gesunden Grundsätze der realistischen Kunstauffasfnng Wohl
erkannt und auch die Schöpfungen der neuen Schule auf sich einwirken lassen.
Flauberts Ausspruch: l'vno osuvro sse om-ulaiunoo, vir so Ä6vin<z l'kiuwm-
ist auch für Feuillee maßgebend gewesen. Er hat sich mit Flaubert vor Vicl-


Grenzboten IV 1890 23
Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart

(beliebten einen Skeptiker, einen Freigeist, einen Ungläubigen erkennt. Sibylle,
die strenge Katholikin, die sogar ihren eignen Pfarrer zu einem tiefern Glauben
zu bekehren weiß, verstößt ihren Geliebten Raoul, weil er es nicht über sich
gewinnen kann, in die Messe zu gehen. Raoul verkleidet sich als Maler, »in
die Kirche in Sibylleus Pfarrdorf auszuschmücken und sich seiner Geliebten
wieder zu nähern. Aber auch jetzt vermag seine Liebe noch nichts; eine Ver¬
mählung erscheint Sibyllen unmöglich, denn Raoul kann nicht mehr glauben,
er kaun aber auch nicht heucheln. Sibylle stirbt, und erst der Sterbenden
darf Raoul den Brautkuß geben. Es ist kein Wunder, daß dieser Roman von
der realistische« Kritik mit lautem Hohngelächter aufgenommen wurde und daß
selbst die Feuilletschwärmer ,den Kopf schüttelten, weil sie denk Schriftsteller
auf das religiöse Gebiet nicht zu folgen vermochten. Nur wenige haben sich
die Mühe gegeben, die künstlerischen Absichten des Dichters zu erkennen und
die psychologische Entwicklung auf ihre Wahrscheinlichkeit zu prüfen. Wo dies
aber geschehen ist, da hat man dem Roman vollen Beifall gezollt. So sagt
treffend der Philosoph Caro von ihm: „Er ist das Gemälde des Glaubens,
eines religiösen Phänomens, das sich in seiner geläutertsten Gestalt einer
jungen Seele bemächtigt und alle andern Empfindungen dieser Seele zu seiner
Höhe emporhebt. Es schließt weder die menschliche Liebe aus, noch die ge¬
heimen Erregungen und Schwächen des Herzens oder die Bestrebungen nach
irdischer Glückseligkeit. Es opfert von alledeut nichts, aber es ordnet alles
den Empfindungen einer höhern Art unter. Es erweckt und unterstützt jene
heldenmütige Treue, die sich von der Liebe eine so hohe Vorstellung macht,
daß sie die Liebe zurückstößt, wem, sie nicht in Gott ihre ewige Dauer findet.
Welche Thorheit und Lächerlichkeit sollte denn hierin liegen? Diese Idee
strahlt inmitten der Gemeinheiten und Schändlichkeiten, worin sich der zeit¬
genössische Roman versenkt hat; in diesem Strome, in diesem Sturzbad einer
lärmenden, nichtssagenden, oberflächlichen Litteratur, das Tag für Tag auf
uns einbricht, ist man glücklich, unter dem Sande und dem Schlamme einige
reine Goldkörner zu finden." Der Philosoph und Akademiker, der seinem
Kollegen dieses Lob spendete, fand bei den Gegnern leider wenig Gehör.

Der Gedanke, daß man ohne Religion, ohne kirchliche Gesinnung dem
Materialismus, den Leidenschaften und Lastern zum Opfer fallen müsse, erscheint
fast in allen Romanen Feuillets, am pnckeudsteu in dem vorletzten: 1^ Nord<>,
worin Sabine Tallerant, ein mit positivistischer Philosophie und kirchenfeind¬
lichen Anschauungen großgezogenes Mädchen, die Frau ihres Nachbars ver¬
giftet, um diesen zu heiraten.

Feuillee hat die gesunden Grundsätze der realistischen Kunstauffasfnng Wohl
erkannt und auch die Schöpfungen der neuen Schule auf sich einwirken lassen.
Flauberts Ausspruch: l'vno osuvro sse om-ulaiunoo, vir so Ä6vin<z l'kiuwm-
ist auch für Feuillee maßgebend gewesen. Er hat sich mit Flaubert vor Vicl-


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[0185] Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart (beliebten einen Skeptiker, einen Freigeist, einen Ungläubigen erkennt. Sibylle, die strenge Katholikin, die sogar ihren eignen Pfarrer zu einem tiefern Glauben zu bekehren weiß, verstößt ihren Geliebten Raoul, weil er es nicht über sich gewinnen kann, in die Messe zu gehen. Raoul verkleidet sich als Maler, »in die Kirche in Sibylleus Pfarrdorf auszuschmücken und sich seiner Geliebten wieder zu nähern. Aber auch jetzt vermag seine Liebe noch nichts; eine Ver¬ mählung erscheint Sibyllen unmöglich, denn Raoul kann nicht mehr glauben, er kaun aber auch nicht heucheln. Sibylle stirbt, und erst der Sterbenden darf Raoul den Brautkuß geben. Es ist kein Wunder, daß dieser Roman von der realistische« Kritik mit lautem Hohngelächter aufgenommen wurde und daß selbst die Feuilletschwärmer ,den Kopf schüttelten, weil sie denk Schriftsteller auf das religiöse Gebiet nicht zu folgen vermochten. Nur wenige haben sich die Mühe gegeben, die künstlerischen Absichten des Dichters zu erkennen und die psychologische Entwicklung auf ihre Wahrscheinlichkeit zu prüfen. Wo dies aber geschehen ist, da hat man dem Roman vollen Beifall gezollt. So sagt treffend der Philosoph Caro von ihm: „Er ist das Gemälde des Glaubens, eines religiösen Phänomens, das sich in seiner geläutertsten Gestalt einer jungen Seele bemächtigt und alle andern Empfindungen dieser Seele zu seiner Höhe emporhebt. Es schließt weder die menschliche Liebe aus, noch die ge¬ heimen Erregungen und Schwächen des Herzens oder die Bestrebungen nach irdischer Glückseligkeit. Es opfert von alledeut nichts, aber es ordnet alles den Empfindungen einer höhern Art unter. Es erweckt und unterstützt jene heldenmütige Treue, die sich von der Liebe eine so hohe Vorstellung macht, daß sie die Liebe zurückstößt, wem, sie nicht in Gott ihre ewige Dauer findet. Welche Thorheit und Lächerlichkeit sollte denn hierin liegen? Diese Idee strahlt inmitten der Gemeinheiten und Schändlichkeiten, worin sich der zeit¬ genössische Roman versenkt hat; in diesem Strome, in diesem Sturzbad einer lärmenden, nichtssagenden, oberflächlichen Litteratur, das Tag für Tag auf uns einbricht, ist man glücklich, unter dem Sande und dem Schlamme einige reine Goldkörner zu finden." Der Philosoph und Akademiker, der seinem Kollegen dieses Lob spendete, fand bei den Gegnern leider wenig Gehör. Der Gedanke, daß man ohne Religion, ohne kirchliche Gesinnung dem Materialismus, den Leidenschaften und Lastern zum Opfer fallen müsse, erscheint fast in allen Romanen Feuillets, am pnckeudsteu in dem vorletzten: 1^ Nord<>, worin Sabine Tallerant, ein mit positivistischer Philosophie und kirchenfeind¬ lichen Anschauungen großgezogenes Mädchen, die Frau ihres Nachbars ver¬ giftet, um diesen zu heiraten. Feuillee hat die gesunden Grundsätze der realistischen Kunstauffasfnng Wohl erkannt und auch die Schöpfungen der neuen Schule auf sich einwirken lassen. Flauberts Ausspruch: l'vno osuvro sse om-ulaiunoo, vir so Ä6vin<z l'kiuwm- ist auch für Feuillee maßgebend gewesen. Er hat sich mit Flaubert vor Vicl- Grenzboten IV 1890 23

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/185>, abgerufen am 23.07.2024.