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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart

lung, in der Neigung und Pflicht, Schuld und Sühne die hauptsächlichsten
Rollen spielen. Hier erfahren Nur von einem Schriftsteller zum erstenmale
Selbstgeschautes und Selbsterlebtes. Der idealistische Roman war in Frank¬
reich mit der neuen Mlo'iLu geschaffen, und Chateaubriand und Frau von
Staöl erkannten in ihn: die vortrefflichste Form für ihre Bestrebungen und
Bekenntnisse, für ihren I^risine; ävboräanr, der aus allen ihren Dichtungen
hervorschäumt.

Wie sich Rousseau in seinem Helden Saint-Preux selbst darstellt, so
haben sich die Staöl in der Corinna und Chateaubriand in Rönv selbst zum
Helden der Romane gemacht. Dieser subjektive Zug ist charakteristisch für alle
idealistischen Romane. Wir finden ihn bei den Romantikern, bei Wiktor Hugo,
bei Musset, bei Vignh, bei George Sand und bei dem letzten bedeu¬
tenden Vertreter dieser Richtung, bei Octave Feuillee noch ziemlich unver¬
fälscht.

Octave Feuillee hat sich trotz der realistischen und naturalistischen Hoch¬
flut fast vier Jahrzehnte lang in der Gunst des Publikums behauptet, und
wenn anch der Kreis seiner Anhänger immer mehr zusammenschrumpft, so
kauu man doch nicht sagen, daß der Rest aus den minder anspruchsvolle"
Geistern bestehe. Auch jetzt uoch ist Octave Feuillee wie vor vierzig Jahren,
als zuerst in der ü-poro <1u8 cieux iuonäv8 seine Levnos, ?rovsrk>L8 und <^c>-
lunatos erschienen, der Liebling der Frauen, allerdings der wenigen, deren Ge¬
schmack noch nicht dnrch die gepfefferte Kost der modernen Richtung abgestumpft
ist, und die noch Freude finden an romantischen Verwicklungen, an aristo¬
kratischer Gesellschaft, um rätselhaften Männern und Frauen. Wer bei Feuillee
alle die Reize sucht, durch die George Sand die Leser zu fesseln weiß, die
stürmischen Leidenschaften, die fieberhaften Seelenkämpfe, die sozialen Streit¬
fragen, wer von ihm dieselbe Spannung erwartet, die Balzac durch seine phan¬
tastischen Entwürfe, dnrch seiue ungezügelte Einbildungskraft und die sich über¬
stürzenden Borgänge zu erreichen versteht, der wird freilich von Fenillets
Romanen enttäuscht sein. Und doch weiß der Schriftsteller ohne Aufwand von
Dialektik, ohne mit philosophischen Gedankengängen zu prunken oder durch über¬
raschende Perspektiven zu blenden, im ruhigen Flusse einer gewählte", ma߬
vollen Sprache wichtige Probleme unsrer Zeit zu behandeln. Fenillets litte¬
rarische Arbeitsweise ist in ihrer Richtung nicht dieselbe geblieben. Aus dem
Bannkreise der Romantik, die schließlich nur das Unwahrscheinliche für das
dichterisch Verwertbare hielt, hat ihn der realistische Strom der fünfziger Jahre
sehr bald aufgeschreckt. Diese mächtige, gegen eine veraltete Kunstauffasfuug
gerichtete Reaktion, die die Hirngespinste durch die Thatsachen ersetzen wollte,
die lyrischen Ergüsse durch die Erfahrung, die Eingebungen eiuer intuitiver
Kunst durch die Ergebnisse einer beweiskräftigen Kunst konnte nicht ohne Ein¬
fluß auf Fenillets Schreibweise bleiben.


Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart

lung, in der Neigung und Pflicht, Schuld und Sühne die hauptsächlichsten
Rollen spielen. Hier erfahren Nur von einem Schriftsteller zum erstenmale
Selbstgeschautes und Selbsterlebtes. Der idealistische Roman war in Frank¬
reich mit der neuen Mlo'iLu geschaffen, und Chateaubriand und Frau von
Staöl erkannten in ihn: die vortrefflichste Form für ihre Bestrebungen und
Bekenntnisse, für ihren I^risine; ävboräanr, der aus allen ihren Dichtungen
hervorschäumt.

Wie sich Rousseau in seinem Helden Saint-Preux selbst darstellt, so
haben sich die Staöl in der Corinna und Chateaubriand in Rönv selbst zum
Helden der Romane gemacht. Dieser subjektive Zug ist charakteristisch für alle
idealistischen Romane. Wir finden ihn bei den Romantikern, bei Wiktor Hugo,
bei Musset, bei Vignh, bei George Sand und bei dem letzten bedeu¬
tenden Vertreter dieser Richtung, bei Octave Feuillee noch ziemlich unver¬
fälscht.

Octave Feuillee hat sich trotz der realistischen und naturalistischen Hoch¬
flut fast vier Jahrzehnte lang in der Gunst des Publikums behauptet, und
wenn anch der Kreis seiner Anhänger immer mehr zusammenschrumpft, so
kauu man doch nicht sagen, daß der Rest aus den minder anspruchsvolle»
Geistern bestehe. Auch jetzt uoch ist Octave Feuillee wie vor vierzig Jahren,
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schmack noch nicht dnrch die gepfefferte Kost der modernen Richtung abgestumpft
ist, und die noch Freude finden an romantischen Verwicklungen, an aristo¬
kratischer Gesellschaft, um rätselhaften Männern und Frauen. Wer bei Feuillee
alle die Reize sucht, durch die George Sand die Leser zu fesseln weiß, die
stürmischen Leidenschaften, die fieberhaften Seelenkämpfe, die sozialen Streit¬
fragen, wer von ihm dieselbe Spannung erwartet, die Balzac durch seine phan¬
tastischen Entwürfe, dnrch seiue ungezügelte Einbildungskraft und die sich über¬
stürzenden Borgänge zu erreichen versteht, der wird freilich von Fenillets
Romanen enttäuscht sein. Und doch weiß der Schriftsteller ohne Aufwand von
Dialektik, ohne mit philosophischen Gedankengängen zu prunken oder durch über¬
raschende Perspektiven zu blenden, im ruhigen Flusse einer gewählte«, ma߬
vollen Sprache wichtige Probleme unsrer Zeit zu behandeln. Fenillets litte¬
rarische Arbeitsweise ist in ihrer Richtung nicht dieselbe geblieben. Aus dem
Bannkreise der Romantik, die schließlich nur das Unwahrscheinliche für das
dichterisch Verwertbare hielt, hat ihn der realistische Strom der fünfziger Jahre
sehr bald aufgeschreckt. Diese mächtige, gegen eine veraltete Kunstauffasfuug
gerichtete Reaktion, die die Hirngespinste durch die Thatsachen ersetzen wollte,
die lyrischen Ergüsse durch die Erfahrung, die Eingebungen eiuer intuitiver
Kunst durch die Ergebnisse einer beweiskräftigen Kunst konnte nicht ohne Ein¬
fluß auf Fenillets Schreibweise bleiben.


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[0183] Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart lung, in der Neigung und Pflicht, Schuld und Sühne die hauptsächlichsten Rollen spielen. Hier erfahren Nur von einem Schriftsteller zum erstenmale Selbstgeschautes und Selbsterlebtes. Der idealistische Roman war in Frank¬ reich mit der neuen Mlo'iLu geschaffen, und Chateaubriand und Frau von Staöl erkannten in ihn: die vortrefflichste Form für ihre Bestrebungen und Bekenntnisse, für ihren I^risine; ävboräanr, der aus allen ihren Dichtungen hervorschäumt. Wie sich Rousseau in seinem Helden Saint-Preux selbst darstellt, so haben sich die Staöl in der Corinna und Chateaubriand in Rönv selbst zum Helden der Romane gemacht. Dieser subjektive Zug ist charakteristisch für alle idealistischen Romane. Wir finden ihn bei den Romantikern, bei Wiktor Hugo, bei Musset, bei Vignh, bei George Sand und bei dem letzten bedeu¬ tenden Vertreter dieser Richtung, bei Octave Feuillee noch ziemlich unver¬ fälscht. Octave Feuillee hat sich trotz der realistischen und naturalistischen Hoch¬ flut fast vier Jahrzehnte lang in der Gunst des Publikums behauptet, und wenn anch der Kreis seiner Anhänger immer mehr zusammenschrumpft, so kauu man doch nicht sagen, daß der Rest aus den minder anspruchsvolle» Geistern bestehe. Auch jetzt uoch ist Octave Feuillee wie vor vierzig Jahren, als zuerst in der ü-poro <1u8 cieux iuonäv8 seine Levnos, ?rovsrk>L8 und <^c>- lunatos erschienen, der Liebling der Frauen, allerdings der wenigen, deren Ge¬ schmack noch nicht dnrch die gepfefferte Kost der modernen Richtung abgestumpft ist, und die noch Freude finden an romantischen Verwicklungen, an aristo¬ kratischer Gesellschaft, um rätselhaften Männern und Frauen. Wer bei Feuillee alle die Reize sucht, durch die George Sand die Leser zu fesseln weiß, die stürmischen Leidenschaften, die fieberhaften Seelenkämpfe, die sozialen Streit¬ fragen, wer von ihm dieselbe Spannung erwartet, die Balzac durch seine phan¬ tastischen Entwürfe, dnrch seiue ungezügelte Einbildungskraft und die sich über¬ stürzenden Borgänge zu erreichen versteht, der wird freilich von Fenillets Romanen enttäuscht sein. Und doch weiß der Schriftsteller ohne Aufwand von Dialektik, ohne mit philosophischen Gedankengängen zu prunken oder durch über¬ raschende Perspektiven zu blenden, im ruhigen Flusse einer gewählte«, ma߬ vollen Sprache wichtige Probleme unsrer Zeit zu behandeln. Fenillets litte¬ rarische Arbeitsweise ist in ihrer Richtung nicht dieselbe geblieben. Aus dem Bannkreise der Romantik, die schließlich nur das Unwahrscheinliche für das dichterisch Verwertbare hielt, hat ihn der realistische Strom der fünfziger Jahre sehr bald aufgeschreckt. Diese mächtige, gegen eine veraltete Kunstauffasfuug gerichtete Reaktion, die die Hirngespinste durch die Thatsachen ersetzen wollte, die lyrischen Ergüsse durch die Erfahrung, die Eingebungen eiuer intuitiver Kunst durch die Ergebnisse einer beweiskräftigen Kunst konnte nicht ohne Ein¬ fluß auf Fenillets Schreibweise bleiben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/183>, abgerufen am 23.07.2024.