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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart

Ausdrucksmittel seines litterarischen Lebens gefunden; im Roman hat sich der
moderne Geist allmählich das dauerhafteste und beweglichste Fahrzeug geschaffen,
um spielend oder kämpfend alle Ströme der menschlichen Kultur zu erforschen
und zu beherrschen. Aus dem Roman ist auch ohne die gelehrten Gesetzgeber
des Geschmacks eine Schatzkammer geworden, worin unser Jahrhundert den
größten Reichtum seiner dichterischen Arbeit, die unvergänglichen Schätze seiner
Ideen und seines sittlichen Lebens niedergelegt hat und niederlegt. Es ist
nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, daß die Litteraturgeschichte des
neunzehnten Jahrhunderts in den Grundzügen fertig sei, sobald man die Ge¬
schichte des modernen Romans geschrieben hat. Diese Bemerkung gilt vor
allem für Frankreich, den" keine litterarische Schule, von der Romantik bis
zum Naturalismus, hat es hier unterlassen, den Roman ganz besonders zu
pflegen, ihn nach ihren Kuustformeln umzugestalten und aus ihm das Spiegel¬
bild der wechselnden Lebensanschauung zu machen. Im Noinnn hatte der
dichterische Geist endlich die Freistätte gefunden, wo alle Gewissensfragen der
Menschheit, alle Seelenkämpfe zart organisirter Wesen, alle sittlichen und gesell¬
schaftlichen Probleme behandelt und gelöst werde" konnten.

Bei diesen innern Vorzügen bedarf es keiner äußern Gründe, um die
ungeahnte Machtentfaltung des Romans in unserm Jahrhundert zu erklären.
Der Kultnrhistvriker wird dieser Gattung seine besondre Aufmerksamkeit zu¬
wenden müssen, denn hier findet er untrügliche Quellen für die Wandlungen
des gesellschaftlichen Lebens, der Sitten und des Geschmacks; hier findet er
die herrschenden Stimmungen und Anschauungen, die bewegenden Mächte und
die charakteristischen Thpen jeder Zeit. Es ist sehr lehrreich die Linie zu ver¬
folgen, die der Entwicklungsgang des französischen Romans in unserm Jahr¬
hundert beschreibt. Von der "Hypertrophie des Ich" bis zur völligen Unter¬
drückung alles Subjektiven, von der blinden Verinnerlichung bis zur sklavischen
Nachahmung der Außenwelt, von den wesenlosen Träumereien und elegischen
Bekenntnissen bis zur nüchternen wissenschaftlichen Umrisse hat der französische
Roman in unserm Jahrhundert alle nur denkbaren Stadien durchlaufen.
Philosophie und Geschichte, Religion und Wissenschaft, gesellschaftliche und
politische Kämpfe haben den Roman bald nach dieser, bald nach jener Seite
gezogen und seine Ausgestaltung in auffallender Weise beeinflußt.

Man Pflegt den modernen Roman von Rousseaus 1,-1 nonvvllö Hvloiso
an zu rechnen. Hier wird zum erstenmale das Hauptmotiv aller Dichtungen,
das Verhältnis der Geschlechter, nicht nach der galanten italienischen Manier
einer Scudvrh oder nach der lüsternen Art eines Lesage geschildert, sondern
als eine wichtige, ernsthafte Sache, als eine naturwüchsige Leidenschaft be¬
handelt, vor der alle andern Regungen des menschlichen Herzens schweigen
müssen. Hier finden wir zum erstenmale das, was man später mit dem Worte
union bezeichnet hat; hier sehen wir zum erstenmal eine dramatische Entwick-


Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart

Ausdrucksmittel seines litterarischen Lebens gefunden; im Roman hat sich der
moderne Geist allmählich das dauerhafteste und beweglichste Fahrzeug geschaffen,
um spielend oder kämpfend alle Ströme der menschlichen Kultur zu erforschen
und zu beherrschen. Aus dem Roman ist auch ohne die gelehrten Gesetzgeber
des Geschmacks eine Schatzkammer geworden, worin unser Jahrhundert den
größten Reichtum seiner dichterischen Arbeit, die unvergänglichen Schätze seiner
Ideen und seines sittlichen Lebens niedergelegt hat und niederlegt. Es ist
nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, daß die Litteraturgeschichte des
neunzehnten Jahrhunderts in den Grundzügen fertig sei, sobald man die Ge¬
schichte des modernen Romans geschrieben hat. Diese Bemerkung gilt vor
allem für Frankreich, den« keine litterarische Schule, von der Romantik bis
zum Naturalismus, hat es hier unterlassen, den Roman ganz besonders zu
pflegen, ihn nach ihren Kuustformeln umzugestalten und aus ihm das Spiegel¬
bild der wechselnden Lebensanschauung zu machen. Im Noinnn hatte der
dichterische Geist endlich die Freistätte gefunden, wo alle Gewissensfragen der
Menschheit, alle Seelenkämpfe zart organisirter Wesen, alle sittlichen und gesell¬
schaftlichen Probleme behandelt und gelöst werde» konnten.

Bei diesen innern Vorzügen bedarf es keiner äußern Gründe, um die
ungeahnte Machtentfaltung des Romans in unserm Jahrhundert zu erklären.
Der Kultnrhistvriker wird dieser Gattung seine besondre Aufmerksamkeit zu¬
wenden müssen, denn hier findet er untrügliche Quellen für die Wandlungen
des gesellschaftlichen Lebens, der Sitten und des Geschmacks; hier findet er
die herrschenden Stimmungen und Anschauungen, die bewegenden Mächte und
die charakteristischen Thpen jeder Zeit. Es ist sehr lehrreich die Linie zu ver¬
folgen, die der Entwicklungsgang des französischen Romans in unserm Jahr¬
hundert beschreibt. Von der „Hypertrophie des Ich" bis zur völligen Unter¬
drückung alles Subjektiven, von der blinden Verinnerlichung bis zur sklavischen
Nachahmung der Außenwelt, von den wesenlosen Träumereien und elegischen
Bekenntnissen bis zur nüchternen wissenschaftlichen Umrisse hat der französische
Roman in unserm Jahrhundert alle nur denkbaren Stadien durchlaufen.
Philosophie und Geschichte, Religion und Wissenschaft, gesellschaftliche und
politische Kämpfe haben den Roman bald nach dieser, bald nach jener Seite
gezogen und seine Ausgestaltung in auffallender Weise beeinflußt.

Man Pflegt den modernen Roman von Rousseaus 1,-1 nonvvllö Hvloiso
an zu rechnen. Hier wird zum erstenmale das Hauptmotiv aller Dichtungen,
das Verhältnis der Geschlechter, nicht nach der galanten italienischen Manier
einer Scudvrh oder nach der lüsternen Art eines Lesage geschildert, sondern
als eine wichtige, ernsthafte Sache, als eine naturwüchsige Leidenschaft be¬
handelt, vor der alle andern Regungen des menschlichen Herzens schweigen
müssen. Hier finden wir zum erstenmale das, was man später mit dem Worte
union bezeichnet hat; hier sehen wir zum erstenmal eine dramatische Entwick-


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[0182] Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart Ausdrucksmittel seines litterarischen Lebens gefunden; im Roman hat sich der moderne Geist allmählich das dauerhafteste und beweglichste Fahrzeug geschaffen, um spielend oder kämpfend alle Ströme der menschlichen Kultur zu erforschen und zu beherrschen. Aus dem Roman ist auch ohne die gelehrten Gesetzgeber des Geschmacks eine Schatzkammer geworden, worin unser Jahrhundert den größten Reichtum seiner dichterischen Arbeit, die unvergänglichen Schätze seiner Ideen und seines sittlichen Lebens niedergelegt hat und niederlegt. Es ist nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, daß die Litteraturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts in den Grundzügen fertig sei, sobald man die Ge¬ schichte des modernen Romans geschrieben hat. Diese Bemerkung gilt vor allem für Frankreich, den« keine litterarische Schule, von der Romantik bis zum Naturalismus, hat es hier unterlassen, den Roman ganz besonders zu pflegen, ihn nach ihren Kuustformeln umzugestalten und aus ihm das Spiegel¬ bild der wechselnden Lebensanschauung zu machen. Im Noinnn hatte der dichterische Geist endlich die Freistätte gefunden, wo alle Gewissensfragen der Menschheit, alle Seelenkämpfe zart organisirter Wesen, alle sittlichen und gesell¬ schaftlichen Probleme behandelt und gelöst werde» konnten. Bei diesen innern Vorzügen bedarf es keiner äußern Gründe, um die ungeahnte Machtentfaltung des Romans in unserm Jahrhundert zu erklären. Der Kultnrhistvriker wird dieser Gattung seine besondre Aufmerksamkeit zu¬ wenden müssen, denn hier findet er untrügliche Quellen für die Wandlungen des gesellschaftlichen Lebens, der Sitten und des Geschmacks; hier findet er die herrschenden Stimmungen und Anschauungen, die bewegenden Mächte und die charakteristischen Thpen jeder Zeit. Es ist sehr lehrreich die Linie zu ver¬ folgen, die der Entwicklungsgang des französischen Romans in unserm Jahr¬ hundert beschreibt. Von der „Hypertrophie des Ich" bis zur völligen Unter¬ drückung alles Subjektiven, von der blinden Verinnerlichung bis zur sklavischen Nachahmung der Außenwelt, von den wesenlosen Träumereien und elegischen Bekenntnissen bis zur nüchternen wissenschaftlichen Umrisse hat der französische Roman in unserm Jahrhundert alle nur denkbaren Stadien durchlaufen. Philosophie und Geschichte, Religion und Wissenschaft, gesellschaftliche und politische Kämpfe haben den Roman bald nach dieser, bald nach jener Seite gezogen und seine Ausgestaltung in auffallender Weise beeinflußt. Man Pflegt den modernen Roman von Rousseaus 1,-1 nonvvllö Hvloiso an zu rechnen. Hier wird zum erstenmale das Hauptmotiv aller Dichtungen, das Verhältnis der Geschlechter, nicht nach der galanten italienischen Manier einer Scudvrh oder nach der lüsternen Art eines Lesage geschildert, sondern als eine wichtige, ernsthafte Sache, als eine naturwüchsige Leidenschaft be¬ handelt, vor der alle andern Regungen des menschlichen Herzens schweigen müssen. Hier finden wir zum erstenmale das, was man später mit dem Worte union bezeichnet hat; hier sehen wir zum erstenmal eine dramatische Entwick-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/182>, abgerufen am 25.08.2024.