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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Das allgemeine Wahlrecht

Aus der bisherigen Darstellung ergiebt sich als Niederschlag der ersten
Revolutionszeit bei einem mittelbaren Wahlverfahren ein nahezu allgemeines,
nur durch einen verschwindend kleinen Zensus beschränktes Wahlrecht für die
UrWähler und die Abgeordneten, wogegen die Wählbarkeit der Wahlmänner
an einen etwas höhern Zensus gebunden war.

Inzwischen hatte die Konstitution von 1791, die papierne Grundlage aller
papiernen Verfassungen, wie Carlyle sie treffend genannt hat, nur kurzen Be¬
stand; sie wurde bald durch eine andre ersetzt, und wenn diese auch wegen der
augenblicklichen Gefahr des Landes zeitweilig aufgehoben werden mußte, so voll¬
zogen sich doch die Wahlen zum Nationalkonvent schon nach neuen Bestimmungen.
Alle in der frühern Verfassung noch vorhandnen Schranken waren nun beseitigt,
der Unterschied zwischen aktiven und nichtaktiven Bürgern aufgehoben: jeder
Franzose, der einundzwanzig Jahre alt war und nicht im Dienste eines andern
stand, war Wühler, jeder, der fünfundzwanzig Jahre alt war, konnte gewählt
werden. Das Wahlverfahren war auch diesmal mittelbar.

So entstand der Konvent, eine Versammlung, in der sich etwa hundert
Menschen befanden, die man bei geordneter Stcmtslcigc ins Zuchthaus oder ins
Irrenhaus gesperrt hätte; eine Volksvertretung, die vielleicht mehr Schrecken und
Greuel über die Nation gebracht hat, als alle Herrscher von Chlodwig bis auf
Ludwig XVI. zusammengenommen. Allerdings darf man für dieses Ergebnis
die schrankenlose Wahlberechtigung nicht ohne weiteres verantwortlich macheu,
denn die Geschichte kennt Fälle, wo in erregten Zeiten auch aus stark be¬
schränkten Wahlen eine völlig radikale Vertretung hervorging. In dem da¬
maligen Frankreich jedoch urteilte mau anders, und die Erfahrungen, die man
mit der Frucht des allgemeinen Wahlrechtes gemacht hatte, führten schon im
Jahre 1795 zu einer wichtigen Beschränkung. Diese bestand zunächst darin,
daß durch die neuen Wahlen uur ein Drittel der künftigen Kammer ernannt
werden sollte, während die beiden andern Drittel aus den bisherigen Mit¬
gliedern des Konvents genommen wurden. Ferner wurde der Unterschied
zwischen aktiven und nichtnktiven Bürgern wieder aufgerichtet und für die Ab¬
geordneten außer einem Zensus die Vollendung des dreißigsten Lebensjahres
vorgeschrieben.

Hier machte aber die Rückwärtsbewegung keineswegs Halt. Mit der
Naturnotwendigkeit des aus seiner Lage gerückten Pendels fuhr sie über den
Normalpnnkt, den ich nach der bisherigen Entwicklung für französische Ver¬
hältnisse in den Bestimmungen des Jahres 1791 erblicken möchte, hinaus und
gelangte so zu der Kvnsulatsverfassung vom 13. Dezember 1799, deren eigen¬
tümlicher Charakter darin besteht, daß sie den Schein der Vorherrschaft zu
wahren suchte, um in Wirklichkeit desto sicherer alles dem Willen eines Einzigen
zu unterwerfen. Das Urwählerrecht blieb für alle aktiven Bürger bestehen.
Diese hatten aber nur die 500000 Bürger der sogenannten Konnnunallisten


Das allgemeine Wahlrecht

Aus der bisherigen Darstellung ergiebt sich als Niederschlag der ersten
Revolutionszeit bei einem mittelbaren Wahlverfahren ein nahezu allgemeines,
nur durch einen verschwindend kleinen Zensus beschränktes Wahlrecht für die
UrWähler und die Abgeordneten, wogegen die Wählbarkeit der Wahlmänner
an einen etwas höhern Zensus gebunden war.

Inzwischen hatte die Konstitution von 1791, die papierne Grundlage aller
papiernen Verfassungen, wie Carlyle sie treffend genannt hat, nur kurzen Be¬
stand; sie wurde bald durch eine andre ersetzt, und wenn diese auch wegen der
augenblicklichen Gefahr des Landes zeitweilig aufgehoben werden mußte, so voll¬
zogen sich doch die Wahlen zum Nationalkonvent schon nach neuen Bestimmungen.
Alle in der frühern Verfassung noch vorhandnen Schranken waren nun beseitigt,
der Unterschied zwischen aktiven und nichtaktiven Bürgern aufgehoben: jeder
Franzose, der einundzwanzig Jahre alt war und nicht im Dienste eines andern
stand, war Wühler, jeder, der fünfundzwanzig Jahre alt war, konnte gewählt
werden. Das Wahlverfahren war auch diesmal mittelbar.

So entstand der Konvent, eine Versammlung, in der sich etwa hundert
Menschen befanden, die man bei geordneter Stcmtslcigc ins Zuchthaus oder ins
Irrenhaus gesperrt hätte; eine Volksvertretung, die vielleicht mehr Schrecken und
Greuel über die Nation gebracht hat, als alle Herrscher von Chlodwig bis auf
Ludwig XVI. zusammengenommen. Allerdings darf man für dieses Ergebnis
die schrankenlose Wahlberechtigung nicht ohne weiteres verantwortlich macheu,
denn die Geschichte kennt Fälle, wo in erregten Zeiten auch aus stark be¬
schränkten Wahlen eine völlig radikale Vertretung hervorging. In dem da¬
maligen Frankreich jedoch urteilte mau anders, und die Erfahrungen, die man
mit der Frucht des allgemeinen Wahlrechtes gemacht hatte, führten schon im
Jahre 1795 zu einer wichtigen Beschränkung. Diese bestand zunächst darin,
daß durch die neuen Wahlen uur ein Drittel der künftigen Kammer ernannt
werden sollte, während die beiden andern Drittel aus den bisherigen Mit¬
gliedern des Konvents genommen wurden. Ferner wurde der Unterschied
zwischen aktiven und nichtnktiven Bürgern wieder aufgerichtet und für die Ab¬
geordneten außer einem Zensus die Vollendung des dreißigsten Lebensjahres
vorgeschrieben.

Hier machte aber die Rückwärtsbewegung keineswegs Halt. Mit der
Naturnotwendigkeit des aus seiner Lage gerückten Pendels fuhr sie über den
Normalpnnkt, den ich nach der bisherigen Entwicklung für französische Ver¬
hältnisse in den Bestimmungen des Jahres 1791 erblicken möchte, hinaus und
gelangte so zu der Kvnsulatsverfassung vom 13. Dezember 1799, deren eigen¬
tümlicher Charakter darin besteht, daß sie den Schein der Vorherrschaft zu
wahren suchte, um in Wirklichkeit desto sicherer alles dem Willen eines Einzigen
zu unterwerfen. Das Urwählerrecht blieb für alle aktiven Bürger bestehen.
Diese hatten aber nur die 500000 Bürger der sogenannten Konnnunallisten


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[0157] Das allgemeine Wahlrecht Aus der bisherigen Darstellung ergiebt sich als Niederschlag der ersten Revolutionszeit bei einem mittelbaren Wahlverfahren ein nahezu allgemeines, nur durch einen verschwindend kleinen Zensus beschränktes Wahlrecht für die UrWähler und die Abgeordneten, wogegen die Wählbarkeit der Wahlmänner an einen etwas höhern Zensus gebunden war. Inzwischen hatte die Konstitution von 1791, die papierne Grundlage aller papiernen Verfassungen, wie Carlyle sie treffend genannt hat, nur kurzen Be¬ stand; sie wurde bald durch eine andre ersetzt, und wenn diese auch wegen der augenblicklichen Gefahr des Landes zeitweilig aufgehoben werden mußte, so voll¬ zogen sich doch die Wahlen zum Nationalkonvent schon nach neuen Bestimmungen. Alle in der frühern Verfassung noch vorhandnen Schranken waren nun beseitigt, der Unterschied zwischen aktiven und nichtaktiven Bürgern aufgehoben: jeder Franzose, der einundzwanzig Jahre alt war und nicht im Dienste eines andern stand, war Wühler, jeder, der fünfundzwanzig Jahre alt war, konnte gewählt werden. Das Wahlverfahren war auch diesmal mittelbar. So entstand der Konvent, eine Versammlung, in der sich etwa hundert Menschen befanden, die man bei geordneter Stcmtslcigc ins Zuchthaus oder ins Irrenhaus gesperrt hätte; eine Volksvertretung, die vielleicht mehr Schrecken und Greuel über die Nation gebracht hat, als alle Herrscher von Chlodwig bis auf Ludwig XVI. zusammengenommen. Allerdings darf man für dieses Ergebnis die schrankenlose Wahlberechtigung nicht ohne weiteres verantwortlich macheu, denn die Geschichte kennt Fälle, wo in erregten Zeiten auch aus stark be¬ schränkten Wahlen eine völlig radikale Vertretung hervorging. In dem da¬ maligen Frankreich jedoch urteilte mau anders, und die Erfahrungen, die man mit der Frucht des allgemeinen Wahlrechtes gemacht hatte, führten schon im Jahre 1795 zu einer wichtigen Beschränkung. Diese bestand zunächst darin, daß durch die neuen Wahlen uur ein Drittel der künftigen Kammer ernannt werden sollte, während die beiden andern Drittel aus den bisherigen Mit¬ gliedern des Konvents genommen wurden. Ferner wurde der Unterschied zwischen aktiven und nichtnktiven Bürgern wieder aufgerichtet und für die Ab¬ geordneten außer einem Zensus die Vollendung des dreißigsten Lebensjahres vorgeschrieben. Hier machte aber die Rückwärtsbewegung keineswegs Halt. Mit der Naturnotwendigkeit des aus seiner Lage gerückten Pendels fuhr sie über den Normalpnnkt, den ich nach der bisherigen Entwicklung für französische Ver¬ hältnisse in den Bestimmungen des Jahres 1791 erblicken möchte, hinaus und gelangte so zu der Kvnsulatsverfassung vom 13. Dezember 1799, deren eigen¬ tümlicher Charakter darin besteht, daß sie den Schein der Vorherrschaft zu wahren suchte, um in Wirklichkeit desto sicherer alles dem Willen eines Einzigen zu unterwerfen. Das Urwählerrecht blieb für alle aktiven Bürger bestehen. Diese hatten aber nur die 500000 Bürger der sogenannten Konnnunallisten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/157>, abgerufen am 25.08.2024.