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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Tempel und Theater

bis zur gänzlichen Folgerichtigkeit durcharbeiten. Es ist derselbe Zustand, den
die äußere Gestalt des griechischen Theaters aufweist, das eben deshalb zu
einer einheitlichen architektonischen Durchbildung, wie sie den rein künstlerischen
Zwecken entsprochen hätte, nicht gekommen ist.

Nun ist aber der Kultus, aus dein das Drama hervorgeht, der Dionysos-
kultus, und wir wissen, daß Arion den Chor für den Dithyrambos aus Satyrn
hat bestehen lassen. Das Bewußtsein dieses Zusammenhanges konnte auch
dann nicht beseitigt werden, als an Stelle des Dionysos andre Gottheiten und an
deren Stelle Heroen traten; mochte auch in der Wahl der Hauptpersonen des
eigentlichen Ereignisses volle Freiheit gestattet sein, zum Schlüsse wenigstens,
an der Stelle, wo der bleibende, dein Ganzen seinen endgiltigen Charakter ver¬
leihende Eiiidruck gewonnen wird, mußte das Volk der Satyrn erscheinen, um
das Fest als Dionysosfeier zu charakterisiren und nach dem Ernst und der
Erhabenheit den Ton der heitersten Freude und Lustbarkeit hervorrufen, wie
er nun einmal von der Vorstellung eines Dionysosfestes unzertrennbar war.
Selbstverständlich mußte die Handlung des Satyrspieles mit der Haupthand¬
lung in sachlichen Zusammenhange stehen, bis bei der wachsenden Verselbstän¬
digung der Dichtung als besondrer Kunstgattung und des einzelnen Dramas
als besondern Kunstwerks dieser Zusammenhang hinfällig wurde; da blieb auch
von dem Satyrspiel nur die Thatsache des erheiternden Schlußspieles übrig,
das auch mit andern Mitteln als der mutwilligen Satyrgesellschaft erreicht
werden konnte. So erhält sich schließlich nur der Rahmen, ein erheiterndes
Schlnßspiel; der Inhalt lost sich von dem sachlichen Ursprünge ab und wird
frei, eine unabhängige dichterische Schöpfung, für deren Anschluß an die Tra¬
gödien eine rein ästhetische Begründung nicht vorliegt. Es hat im Gegenteil
für unser Gefühl etwas Abstoßendes, daß sich das Gemüt, das ernst und tief
erregt ist, statt in dieser Stimmung gelassen zu werden, nun zu heitern und
derben Späßen wenden soll. Die Entstehung des Satyrspieles ist nur aus
dem sachlichen Zusammenhange des Theaters mit dem Tempel zu verstehen;
das ästhetische Bedürfnis, nach der großen Aufregung wieder zu dem
Gleichmaß des Alltagslebens zurückgeführt zu werden, wurde thatsächlich
durch den ruhig ansklingenden Schluß der Tragödie selbst erreicht, und
zwar in einer dem Charakter dieser Dramen entsprechenden und würdigen
Weise.

Die in dem Satyrspiel nebensächlich erscheinende fröhliche Seite des
Dionysoskultus hat ihre selbständige Vertretung in der Komödie. Die Ent¬
stehung der Komödie hüllte sich schon für die Griechen selbst in Dunkel. Als
sicher darf angenommen werden, daß sie nicht unmittelbar aus dem Kultus
hervorgegangen ist; wohl aber hat sie erst dnrch die Verbindung mit dem
Kultus ihre hohe Bedeutuug erlangt. Es sind hierbei zwei Thatsachen zu
unterscheiden. Die Neigung, etwas andres vorzustellen, als man ist, liegt im


Grenzboten IV 1890 16
Tempel und Theater

bis zur gänzlichen Folgerichtigkeit durcharbeiten. Es ist derselbe Zustand, den
die äußere Gestalt des griechischen Theaters aufweist, das eben deshalb zu
einer einheitlichen architektonischen Durchbildung, wie sie den rein künstlerischen
Zwecken entsprochen hätte, nicht gekommen ist.

Nun ist aber der Kultus, aus dein das Drama hervorgeht, der Dionysos-
kultus, und wir wissen, daß Arion den Chor für den Dithyrambos aus Satyrn
hat bestehen lassen. Das Bewußtsein dieses Zusammenhanges konnte auch
dann nicht beseitigt werden, als an Stelle des Dionysos andre Gottheiten und an
deren Stelle Heroen traten; mochte auch in der Wahl der Hauptpersonen des
eigentlichen Ereignisses volle Freiheit gestattet sein, zum Schlüsse wenigstens,
an der Stelle, wo der bleibende, dein Ganzen seinen endgiltigen Charakter ver¬
leihende Eiiidruck gewonnen wird, mußte das Volk der Satyrn erscheinen, um
das Fest als Dionysosfeier zu charakterisiren und nach dem Ernst und der
Erhabenheit den Ton der heitersten Freude und Lustbarkeit hervorrufen, wie
er nun einmal von der Vorstellung eines Dionysosfestes unzertrennbar war.
Selbstverständlich mußte die Handlung des Satyrspieles mit der Haupthand¬
lung in sachlichen Zusammenhange stehen, bis bei der wachsenden Verselbstän¬
digung der Dichtung als besondrer Kunstgattung und des einzelnen Dramas
als besondern Kunstwerks dieser Zusammenhang hinfällig wurde; da blieb auch
von dem Satyrspiel nur die Thatsache des erheiternden Schlußspieles übrig,
das auch mit andern Mitteln als der mutwilligen Satyrgesellschaft erreicht
werden konnte. So erhält sich schließlich nur der Rahmen, ein erheiterndes
Schlnßspiel; der Inhalt lost sich von dem sachlichen Ursprünge ab und wird
frei, eine unabhängige dichterische Schöpfung, für deren Anschluß an die Tra¬
gödien eine rein ästhetische Begründung nicht vorliegt. Es hat im Gegenteil
für unser Gefühl etwas Abstoßendes, daß sich das Gemüt, das ernst und tief
erregt ist, statt in dieser Stimmung gelassen zu werden, nun zu heitern und
derben Späßen wenden soll. Die Entstehung des Satyrspieles ist nur aus
dem sachlichen Zusammenhange des Theaters mit dem Tempel zu verstehen;
das ästhetische Bedürfnis, nach der großen Aufregung wieder zu dem
Gleichmaß des Alltagslebens zurückgeführt zu werden, wurde thatsächlich
durch den ruhig ansklingenden Schluß der Tragödie selbst erreicht, und
zwar in einer dem Charakter dieser Dramen entsprechenden und würdigen
Weise.

Die in dem Satyrspiel nebensächlich erscheinende fröhliche Seite des
Dionysoskultus hat ihre selbständige Vertretung in der Komödie. Die Ent¬
stehung der Komödie hüllte sich schon für die Griechen selbst in Dunkel. Als
sicher darf angenommen werden, daß sie nicht unmittelbar aus dem Kultus
hervorgegangen ist; wohl aber hat sie erst dnrch die Verbindung mit dem
Kultus ihre hohe Bedeutuug erlangt. Es sind hierbei zwei Thatsachen zu
unterscheiden. Die Neigung, etwas andres vorzustellen, als man ist, liegt im


Grenzboten IV 1890 16
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[0129] Tempel und Theater bis zur gänzlichen Folgerichtigkeit durcharbeiten. Es ist derselbe Zustand, den die äußere Gestalt des griechischen Theaters aufweist, das eben deshalb zu einer einheitlichen architektonischen Durchbildung, wie sie den rein künstlerischen Zwecken entsprochen hätte, nicht gekommen ist. Nun ist aber der Kultus, aus dein das Drama hervorgeht, der Dionysos- kultus, und wir wissen, daß Arion den Chor für den Dithyrambos aus Satyrn hat bestehen lassen. Das Bewußtsein dieses Zusammenhanges konnte auch dann nicht beseitigt werden, als an Stelle des Dionysos andre Gottheiten und an deren Stelle Heroen traten; mochte auch in der Wahl der Hauptpersonen des eigentlichen Ereignisses volle Freiheit gestattet sein, zum Schlüsse wenigstens, an der Stelle, wo der bleibende, dein Ganzen seinen endgiltigen Charakter ver¬ leihende Eiiidruck gewonnen wird, mußte das Volk der Satyrn erscheinen, um das Fest als Dionysosfeier zu charakterisiren und nach dem Ernst und der Erhabenheit den Ton der heitersten Freude und Lustbarkeit hervorrufen, wie er nun einmal von der Vorstellung eines Dionysosfestes unzertrennbar war. Selbstverständlich mußte die Handlung des Satyrspieles mit der Haupthand¬ lung in sachlichen Zusammenhange stehen, bis bei der wachsenden Verselbstän¬ digung der Dichtung als besondrer Kunstgattung und des einzelnen Dramas als besondern Kunstwerks dieser Zusammenhang hinfällig wurde; da blieb auch von dem Satyrspiel nur die Thatsache des erheiternden Schlußspieles übrig, das auch mit andern Mitteln als der mutwilligen Satyrgesellschaft erreicht werden konnte. So erhält sich schließlich nur der Rahmen, ein erheiterndes Schlnßspiel; der Inhalt lost sich von dem sachlichen Ursprünge ab und wird frei, eine unabhängige dichterische Schöpfung, für deren Anschluß an die Tra¬ gödien eine rein ästhetische Begründung nicht vorliegt. Es hat im Gegenteil für unser Gefühl etwas Abstoßendes, daß sich das Gemüt, das ernst und tief erregt ist, statt in dieser Stimmung gelassen zu werden, nun zu heitern und derben Späßen wenden soll. Die Entstehung des Satyrspieles ist nur aus dem sachlichen Zusammenhange des Theaters mit dem Tempel zu verstehen; das ästhetische Bedürfnis, nach der großen Aufregung wieder zu dem Gleichmaß des Alltagslebens zurückgeführt zu werden, wurde thatsächlich durch den ruhig ansklingenden Schluß der Tragödie selbst erreicht, und zwar in einer dem Charakter dieser Dramen entsprechenden und würdigen Weise. Die in dem Satyrspiel nebensächlich erscheinende fröhliche Seite des Dionysoskultus hat ihre selbständige Vertretung in der Komödie. Die Ent¬ stehung der Komödie hüllte sich schon für die Griechen selbst in Dunkel. Als sicher darf angenommen werden, daß sie nicht unmittelbar aus dem Kultus hervorgegangen ist; wohl aber hat sie erst dnrch die Verbindung mit dem Kultus ihre hohe Bedeutuug erlangt. Es sind hierbei zwei Thatsachen zu unterscheiden. Die Neigung, etwas andres vorzustellen, als man ist, liegt im Grenzboten IV 1890 16

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/129>, abgerufen am 23.07.2024.