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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Ausblick auf seine Stellung zu einem Gesaintschicksal Mitgefühl empfinden, mich
also aus der Reihe herausgehoben werden und eine selbständige Stellung er¬
halten. Der tief empfindende Sophokles that diesen Schritt. Äußerlich behielt
er die Form der Trilogie bei, indem er gleichfalls an dem einzelnen Festtage
drei Dramen zur Aufführung brachte; aber jedes einzelne Glied war ein Ganzes
für sich und erfüllte seine Aufgabe selbständig. Erhält nun aber das einzelne
Drama eine größere Aufgabe, so muß es auch reichere Mittel erhalten. Auch
diese beschaffte Sophokles, indem er den dritten Schauspieler in Anspruch nahm
und dadurch über eine reichere Stufenleiter der Empfindungen verfügte. So
fließen diese beiden Neuerungen, Verselbständigung des einzelnen Dramas und
Hinzufügung des dritten Schauspielers, aus derselben Quelle. Zugleich aber
läßt uus dieser Vorgang einen bedeutungsvollen Blick in die Kuustentwntlnng
überhaupt thun. In der Dichtkunst und in der Bildkunst sehen wir gleich¬
mäßig die Neihenschöpfungen als die älteren an der Spitze der Entwicklung
stehen, das Einzelne dient als Glied, um deu Gesamtfortgang erzählen zu
helfen. Allmählich erkennt der Künstler in der Einzelerscheinung ein geeignetes
Mittel, Träger für sein gesteigertes, in seinem Verlaufe tiefer erkanntes und
eine freiere Durchbildung verlangendes Gemütsleben zu werdeu; er verzichtet
auf die Neihendarstellungeu und vereinigt seine ganze Kraft auf eine Einzel¬
darstellung, die ritu viel mehr zu sagen weiß, als früher das einzelne Glied
der Reihenschvpfuug, und die zugleich wegen dieser seelischen Vertiefung mehr
Teilnahme erweckt als die ältere, äußerlich reichere, aber gerade nach der innern
Seite des Gemütslebens hin ärmere epische Erzählung.

Sobald der ästhetische, auf künstlerische Wirkung vorzugsweise abzielende
Gesichtspunkt das Übergewicht erhält, während der religiöse Gedanke von der
Weltordnung und der ewig waltenden Gerechtigkeit nur noch warnend und
mahnend dazwischen tritt, um wenigstens für den Hörer den rechten Maßstab
festzuhalten, durch dessen ständiges Bewußtsein das Handeln und beiden der
Hauptpersonen nur noch ergreifender wird, sobald also die Erregung des
menschlichen Mitgefühls durch die künstlerische, mit vollem Bewußtsein als
solche erfaßte Erscheinung handelnder und leidender Personen erweckt werden
soll, kann auch der versöhnende Ausgang mit der Erkenntnis des wohlwollenden
Waltens der Gottheit nicht mehr als notwendiges Ziel der Dichtung oder
Handlung erscheine". Es wird vielmehr gerade der Ausgang der Handlung
selbst die Hauptaufgabe mit zu unterstützen und das menschliche Mitgefühl aufs
höchste zu steigern haben; der tragische Ausgang gewinnt seine Berechtigung.
Nur muß auch hier dafür gesorgt werden, daß er dennoch nicht zu ver¬
zweifelnder, weltverwerfender Beurteilung des göttlichen Wnltens führt; diese
Aufgabe fällt in der alten Tragödie in der Regel dem Chöre zu, dessen Schluß-
betrachtungen zu dem richtigen, für die Allgemeinheit giltigen Gesichtspunkt
zurückführen. In ver modernen Tragödie verwendet der Dichter dazu die


Ausblick auf seine Stellung zu einem Gesaintschicksal Mitgefühl empfinden, mich
also aus der Reihe herausgehoben werden und eine selbständige Stellung er¬
halten. Der tief empfindende Sophokles that diesen Schritt. Äußerlich behielt
er die Form der Trilogie bei, indem er gleichfalls an dem einzelnen Festtage
drei Dramen zur Aufführung brachte; aber jedes einzelne Glied war ein Ganzes
für sich und erfüllte seine Aufgabe selbständig. Erhält nun aber das einzelne
Drama eine größere Aufgabe, so muß es auch reichere Mittel erhalten. Auch
diese beschaffte Sophokles, indem er den dritten Schauspieler in Anspruch nahm
und dadurch über eine reichere Stufenleiter der Empfindungen verfügte. So
fließen diese beiden Neuerungen, Verselbständigung des einzelnen Dramas und
Hinzufügung des dritten Schauspielers, aus derselben Quelle. Zugleich aber
läßt uus dieser Vorgang einen bedeutungsvollen Blick in die Kuustentwntlnng
überhaupt thun. In der Dichtkunst und in der Bildkunst sehen wir gleich¬
mäßig die Neihenschöpfungen als die älteren an der Spitze der Entwicklung
stehen, das Einzelne dient als Glied, um deu Gesamtfortgang erzählen zu
helfen. Allmählich erkennt der Künstler in der Einzelerscheinung ein geeignetes
Mittel, Träger für sein gesteigertes, in seinem Verlaufe tiefer erkanntes und
eine freiere Durchbildung verlangendes Gemütsleben zu werdeu; er verzichtet
auf die Neihendarstellungeu und vereinigt seine ganze Kraft auf eine Einzel¬
darstellung, die ritu viel mehr zu sagen weiß, als früher das einzelne Glied
der Reihenschvpfuug, und die zugleich wegen dieser seelischen Vertiefung mehr
Teilnahme erweckt als die ältere, äußerlich reichere, aber gerade nach der innern
Seite des Gemütslebens hin ärmere epische Erzählung.

Sobald der ästhetische, auf künstlerische Wirkung vorzugsweise abzielende
Gesichtspunkt das Übergewicht erhält, während der religiöse Gedanke von der
Weltordnung und der ewig waltenden Gerechtigkeit nur noch warnend und
mahnend dazwischen tritt, um wenigstens für den Hörer den rechten Maßstab
festzuhalten, durch dessen ständiges Bewußtsein das Handeln und beiden der
Hauptpersonen nur noch ergreifender wird, sobald also die Erregung des
menschlichen Mitgefühls durch die künstlerische, mit vollem Bewußtsein als
solche erfaßte Erscheinung handelnder und leidender Personen erweckt werden
soll, kann auch der versöhnende Ausgang mit der Erkenntnis des wohlwollenden
Waltens der Gottheit nicht mehr als notwendiges Ziel der Dichtung oder
Handlung erscheine». Es wird vielmehr gerade der Ausgang der Handlung
selbst die Hauptaufgabe mit zu unterstützen und das menschliche Mitgefühl aufs
höchste zu steigern haben; der tragische Ausgang gewinnt seine Berechtigung.
Nur muß auch hier dafür gesorgt werden, daß er dennoch nicht zu ver¬
zweifelnder, weltverwerfender Beurteilung des göttlichen Wnltens führt; diese
Aufgabe fällt in der alten Tragödie in der Regel dem Chöre zu, dessen Schluß-
betrachtungen zu dem richtigen, für die Allgemeinheit giltigen Gesichtspunkt
zurückführen. In ver modernen Tragödie verwendet der Dichter dazu die


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[0125] Ausblick auf seine Stellung zu einem Gesaintschicksal Mitgefühl empfinden, mich also aus der Reihe herausgehoben werden und eine selbständige Stellung er¬ halten. Der tief empfindende Sophokles that diesen Schritt. Äußerlich behielt er die Form der Trilogie bei, indem er gleichfalls an dem einzelnen Festtage drei Dramen zur Aufführung brachte; aber jedes einzelne Glied war ein Ganzes für sich und erfüllte seine Aufgabe selbständig. Erhält nun aber das einzelne Drama eine größere Aufgabe, so muß es auch reichere Mittel erhalten. Auch diese beschaffte Sophokles, indem er den dritten Schauspieler in Anspruch nahm und dadurch über eine reichere Stufenleiter der Empfindungen verfügte. So fließen diese beiden Neuerungen, Verselbständigung des einzelnen Dramas und Hinzufügung des dritten Schauspielers, aus derselben Quelle. Zugleich aber läßt uus dieser Vorgang einen bedeutungsvollen Blick in die Kuustentwntlnng überhaupt thun. In der Dichtkunst und in der Bildkunst sehen wir gleich¬ mäßig die Neihenschöpfungen als die älteren an der Spitze der Entwicklung stehen, das Einzelne dient als Glied, um deu Gesamtfortgang erzählen zu helfen. Allmählich erkennt der Künstler in der Einzelerscheinung ein geeignetes Mittel, Träger für sein gesteigertes, in seinem Verlaufe tiefer erkanntes und eine freiere Durchbildung verlangendes Gemütsleben zu werdeu; er verzichtet auf die Neihendarstellungeu und vereinigt seine ganze Kraft auf eine Einzel¬ darstellung, die ritu viel mehr zu sagen weiß, als früher das einzelne Glied der Reihenschvpfuug, und die zugleich wegen dieser seelischen Vertiefung mehr Teilnahme erweckt als die ältere, äußerlich reichere, aber gerade nach der innern Seite des Gemütslebens hin ärmere epische Erzählung. Sobald der ästhetische, auf künstlerische Wirkung vorzugsweise abzielende Gesichtspunkt das Übergewicht erhält, während der religiöse Gedanke von der Weltordnung und der ewig waltenden Gerechtigkeit nur noch warnend und mahnend dazwischen tritt, um wenigstens für den Hörer den rechten Maßstab festzuhalten, durch dessen ständiges Bewußtsein das Handeln und beiden der Hauptpersonen nur noch ergreifender wird, sobald also die Erregung des menschlichen Mitgefühls durch die künstlerische, mit vollem Bewußtsein als solche erfaßte Erscheinung handelnder und leidender Personen erweckt werden soll, kann auch der versöhnende Ausgang mit der Erkenntnis des wohlwollenden Waltens der Gottheit nicht mehr als notwendiges Ziel der Dichtung oder Handlung erscheine». Es wird vielmehr gerade der Ausgang der Handlung selbst die Hauptaufgabe mit zu unterstützen und das menschliche Mitgefühl aufs höchste zu steigern haben; der tragische Ausgang gewinnt seine Berechtigung. Nur muß auch hier dafür gesorgt werden, daß er dennoch nicht zu ver¬ zweifelnder, weltverwerfender Beurteilung des göttlichen Wnltens führt; diese Aufgabe fällt in der alten Tragödie in der Regel dem Chöre zu, dessen Schluß- betrachtungen zu dem richtigen, für die Allgemeinheit giltigen Gesichtspunkt zurückführen. In ver modernen Tragödie verwendet der Dichter dazu die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/125>, abgerufen am 23.07.2024.