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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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kürzere Arbeitszeit), das ist vorläufig das einzig wirksame Mittel gegen den
verderblichen Alkoholgenuß." Also "vorläufig" hohen Lohn und kurze Arbeits¬
zeit. Denn der Sozialdemokrat hat ein zweifaches Programm; das eine enthält
die Forderungen, die zu stellen sind, so lange der heutige Staat noch besteht,
das andre die, die in der sozialen Neuordnung ihre Verwirklichung finden
sollen. Wie diese Neuordnung sein wird, das uns zu lehren, giebt sich der
Sozialdemokrat "vorläufig" keine Mühe; er versichert nur mit voller Be¬
stimmtheit, daß in der sozialdemokratischen Weltordnung alle Übel der heutigen
Gesellschaft ganz von selber verschwinden werden; unter andern auch die
Schnapspest. "Vollständig beseitigt, so schließt der erwähnte Aufsatz, wird
aber die Schnapspest erst werden nach Beseitigung der heute herrschenden sozialen
Einrichtungen."

Das Thema vom Parteiprogramm wird vor allem in den Parteiversamm-
lungen vorgenommen, wo es der großen Masse derer, denen das Lesen der
Parteiblätter zu schwer wird, fertig aufgetischt wird. Kein Tag vergeht, ohne
daß eine ganze Anzahl svzialdemokratischer Vereine den Gläubigen die Ge¬
legenheit böte, das Programm kennen zu lernen. Da wird denn, um auch
hier nur ein Beispiel herauszugreifen, in dem svzialdemokmtischen Wcchlvercin
für den vierten Berliner Neichstagswahlkreis klarlich nachgewiesen als Punkt 1:
"Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur, und da allgemein
nutzbringende Arbeit nur durch die Gesellschaft möglich ist, so gehört der Ge¬
sellschaft, d. h. allen ihren Gliedern, das gesamte Arbeitsprodukt, bei allge¬
meiner Arbeitspflicht, nach gleichem Recht, jedem nach seinen vernunftgemäßen
Bedürfnissen." Diese natürlich für jeden, der sie stellt, vernunftgemäßen Be¬
dürfnisse find ohne Zweifel das, was der Sozialdemokratie ihre Scharen zu¬
führt, die nun die Aufgabe haben, die Punkt 2 stellt, "mit allen Mitteln den
freien Staat und die sozialistische Gesellschaft" zu erstreben. Der Arbeiterklasse
gegenüber find "alle andern Klaffen nur reaktionäre Masse." Das Brüllerheer
der sozialdemokratischen Arbeiterwelt ist die einzige vernünftige, ans die "gesunde
Wissenschaft sich stützende Partei." Dieses Gift wird jungen, unerfahrnen,
zügellosen, aller Pietät baren Burschen -- denn solche bilden einen großen
Teil dieser Versammlungen -- eingetröpfelt, und die Eingebungen der niedrigsten
Leidenschaft werden als Forderungen einer geschichtlich notwendigen Entwicklung,
als ein neues Evangelium der urteilslosen Menge vvrgepredigt. "Der Träger
dieser Entwicklung ^Übergang der Arbeitsmittel, also aller Privatvermögen, in
gemeinschaftlichen Besitzj kann nur das klarbewußte und als politische Partei
organisirte Proletariat sein. Das Proletariat politisch zu organisiren, es mit
dem Bewußtsein seiner Lage und seiner Aufgabe zu erfüllen, es geistig und
physisch kampffähig zu machen und zu erhalten," das ist das sozialdemokratische
Programm, aufgestellt von der österreichischen Svzialdemokmtie und für die
Neugestaltung der deutschen als gutes Vorbild zu empfehlen.


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kürzere Arbeitszeit), das ist vorläufig das einzig wirksame Mittel gegen den
verderblichen Alkoholgenuß." Also „vorläufig" hohen Lohn und kurze Arbeits¬
zeit. Denn der Sozialdemokrat hat ein zweifaches Programm; das eine enthält
die Forderungen, die zu stellen sind, so lange der heutige Staat noch besteht,
das andre die, die in der sozialen Neuordnung ihre Verwirklichung finden
sollen. Wie diese Neuordnung sein wird, das uns zu lehren, giebt sich der
Sozialdemokrat „vorläufig" keine Mühe; er versichert nur mit voller Be¬
stimmtheit, daß in der sozialdemokratischen Weltordnung alle Übel der heutigen
Gesellschaft ganz von selber verschwinden werden; unter andern auch die
Schnapspest. „Vollständig beseitigt, so schließt der erwähnte Aufsatz, wird
aber die Schnapspest erst werden nach Beseitigung der heute herrschenden sozialen
Einrichtungen."

Das Thema vom Parteiprogramm wird vor allem in den Parteiversamm-
lungen vorgenommen, wo es der großen Masse derer, denen das Lesen der
Parteiblätter zu schwer wird, fertig aufgetischt wird. Kein Tag vergeht, ohne
daß eine ganze Anzahl svzialdemokratischer Vereine den Gläubigen die Ge¬
legenheit böte, das Programm kennen zu lernen. Da wird denn, um auch
hier nur ein Beispiel herauszugreifen, in dem svzialdemokmtischen Wcchlvercin
für den vierten Berliner Neichstagswahlkreis klarlich nachgewiesen als Punkt 1:
„Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur, und da allgemein
nutzbringende Arbeit nur durch die Gesellschaft möglich ist, so gehört der Ge¬
sellschaft, d. h. allen ihren Gliedern, das gesamte Arbeitsprodukt, bei allge¬
meiner Arbeitspflicht, nach gleichem Recht, jedem nach seinen vernunftgemäßen
Bedürfnissen." Diese natürlich für jeden, der sie stellt, vernunftgemäßen Be¬
dürfnisse find ohne Zweifel das, was der Sozialdemokratie ihre Scharen zu¬
führt, die nun die Aufgabe haben, die Punkt 2 stellt, „mit allen Mitteln den
freien Staat und die sozialistische Gesellschaft" zu erstreben. Der Arbeiterklasse
gegenüber find „alle andern Klaffen nur reaktionäre Masse." Das Brüllerheer
der sozialdemokratischen Arbeiterwelt ist die einzige vernünftige, ans die „gesunde
Wissenschaft sich stützende Partei." Dieses Gift wird jungen, unerfahrnen,
zügellosen, aller Pietät baren Burschen — denn solche bilden einen großen
Teil dieser Versammlungen — eingetröpfelt, und die Eingebungen der niedrigsten
Leidenschaft werden als Forderungen einer geschichtlich notwendigen Entwicklung,
als ein neues Evangelium der urteilslosen Menge vvrgepredigt. „Der Träger
dieser Entwicklung ^Übergang der Arbeitsmittel, also aller Privatvermögen, in
gemeinschaftlichen Besitzj kann nur das klarbewußte und als politische Partei
organisirte Proletariat sein. Das Proletariat politisch zu organisiren, es mit
dem Bewußtsein seiner Lage und seiner Aufgabe zu erfüllen, es geistig und
physisch kampffähig zu machen und zu erhalten," das ist das sozialdemokratische
Programm, aufgestellt von der österreichischen Svzialdemokmtie und für die
Neugestaltung der deutschen als gutes Vorbild zu empfehlen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/109>, abgerufen am 25.08.2024.