Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.geistigen Ausdruckes oder des Körperbaues -- den künstlerischen Wert erhöht, Alles Bisherige zusammenfassend dürfen wir sagen: beim Genuß eines geistigen Ausdruckes oder des Körperbaues — den künstlerischen Wert erhöht, Alles Bisherige zusammenfassend dürfen wir sagen: beim Genuß eines <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0619" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208558"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_1900" prev="#ID_1899"> geistigen Ausdruckes oder des Körperbaues — den künstlerischen Wert erhöht,<lb/> ruft eine weitere Annäherung mi die Wirklichkeit i» Hinsicht ans die Farbe<lb/> bei den meisten die entgegengesetzte Wirkung hervor. Es kauu nicht be¬<lb/> stritten werden, daß farbige Bildwerke unwillkürlich ein gewisses Graue»<lb/> erregen, daß sie unheimlich und gespensterhaft wirken. In erhöhtem Grade<lb/> finden sich diese Gefühle beim Betrachten bekleideter Wachsfiguren; sie steigern<lb/> sich zum Ekel, wenn sich diese Figuren durch mechanische Vorrichtungen be¬<lb/> wegen, atmen oder die Augen rollen. Es erscheint beinahe als Blasphemie,<lb/> dergleichen Machwerte als Kunstwerke zu bezeichnen. Eine schlafende mensch¬<lb/> liche Gestalt von schönen Formen und anmutiger Haltung bietet einen vollen<lb/> ästhetischen Eindruck. Ganz ähnliche-Wirkung erzeugt eine Nachbildung in<lb/> Marmor — je mehr sich die Nachbildung in Bezug auf die Formen der Wirk¬<lb/> lichkeit nähert, um so besser für das Kunstwerk. Tritt noch Farbe hinzu,<lb/> sofort tauchen unlnstvolle Gefühle auf, und wird gar noch die Bewegung nach¬<lb/> gebildet, so ist von ästhetischem Eindruck nicht mehr die Rede. Den Grund<lb/> hierfür lediglich in mangelnder technischer Fähigkeit zu suchen, ist meines<lb/> Erachtens nicht zureichend. Ich glaube bestimmt, daß sich diese unlustvvllen<lb/> Gefühle auch dann einstellen würden, wenn die Voraussetzung erfüllt wäre,<lb/> daß die Nachbildung schlechterdings die gleichen Sinneseindrücke lieferte, wie<lb/> die Wirklichkeit. Das Wissen einerseits, daß wir es mit einem toten Dinge<lb/> zu thun haben, und die stetige Widerlegung anderseits, die jenes Wissen durch<lb/> die anschauliche Vorstellung erführe, dieses ununterbrochene, wenn auch nicht<lb/> völlig bewußte Hin- und Herschwanken der Seele: ja, es lebt— nein, es lebt<lb/> nicht —, dies allein schon versetzt uns in peinliche Erregung- Fraglich bleibt<lb/> dabei allerdings, inwieweit diese unlnstvollen Gefühle eine notwendige und<lb/> bleibende Erscheinung oder inwieweit sie vorübergehender Natur sind und von<lb/> unsrer mangelnden Gewöhnung abhängen. Ein Mensch, der nie plastische Bild¬<lb/> werke gesehen hat, würde wohl anch den Eindruck des Unheimlichen empfangen,<lb/> wenn er zum erstenmale unsre schweigenden, weißen und lichtvollen, regungslosen<lb/> Marmorgestalten erblickte. Und nehmen wir an, daß ein Volk nnr die Zeich¬<lb/> nung gepflegt habe, darin aber zur vollen Meisterschaft gelangt sei, so würde<lb/> es sich vielleicht in derselben Weise gegen ausgeführte Ölgemälde verhalten,<lb/> wie wir dies zur Zeit gegen die Werke pvlhchrvmer Plastik thun. Jedenfalls kann<lb/> nur die Zukunft darüber entscheiden, ob die Gefühle, die sich heute bei einer gar<lb/> zu täuschenden Nachahmung der Natur einzustellen pflegen, eine dauernde oder<lb/> eine durch Gewohnheit sich verlierende psychologische Erscheinung sind. Für<lb/> die gegenwärtige Untersuchung ist dies übrigens gleichgiltig. Es genügt, die<lb/> Thatsache festzustellen, daß solche Gefühle vorhanden sind.</p><lb/> <p xml:id="ID_1901" next="#ID_1902"> Alles Bisherige zusammenfassend dürfen wir sagen: beim Genuß eines<lb/> Kunstwerkes, das die Natur völlig getreu wiedergiebt, tritt eine Reihe von<lb/> Gefühle» auf, die sich bei der Wirklichkeit uicht vorfinden können. Offen bleibt</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0619]
geistigen Ausdruckes oder des Körperbaues — den künstlerischen Wert erhöht,
ruft eine weitere Annäherung mi die Wirklichkeit i» Hinsicht ans die Farbe
bei den meisten die entgegengesetzte Wirkung hervor. Es kauu nicht be¬
stritten werden, daß farbige Bildwerke unwillkürlich ein gewisses Graue»
erregen, daß sie unheimlich und gespensterhaft wirken. In erhöhtem Grade
finden sich diese Gefühle beim Betrachten bekleideter Wachsfiguren; sie steigern
sich zum Ekel, wenn sich diese Figuren durch mechanische Vorrichtungen be¬
wegen, atmen oder die Augen rollen. Es erscheint beinahe als Blasphemie,
dergleichen Machwerte als Kunstwerke zu bezeichnen. Eine schlafende mensch¬
liche Gestalt von schönen Formen und anmutiger Haltung bietet einen vollen
ästhetischen Eindruck. Ganz ähnliche-Wirkung erzeugt eine Nachbildung in
Marmor — je mehr sich die Nachbildung in Bezug auf die Formen der Wirk¬
lichkeit nähert, um so besser für das Kunstwerk. Tritt noch Farbe hinzu,
sofort tauchen unlnstvolle Gefühle auf, und wird gar noch die Bewegung nach¬
gebildet, so ist von ästhetischem Eindruck nicht mehr die Rede. Den Grund
hierfür lediglich in mangelnder technischer Fähigkeit zu suchen, ist meines
Erachtens nicht zureichend. Ich glaube bestimmt, daß sich diese unlustvvllen
Gefühle auch dann einstellen würden, wenn die Voraussetzung erfüllt wäre,
daß die Nachbildung schlechterdings die gleichen Sinneseindrücke lieferte, wie
die Wirklichkeit. Das Wissen einerseits, daß wir es mit einem toten Dinge
zu thun haben, und die stetige Widerlegung anderseits, die jenes Wissen durch
die anschauliche Vorstellung erführe, dieses ununterbrochene, wenn auch nicht
völlig bewußte Hin- und Herschwanken der Seele: ja, es lebt— nein, es lebt
nicht —, dies allein schon versetzt uns in peinliche Erregung- Fraglich bleibt
dabei allerdings, inwieweit diese unlnstvollen Gefühle eine notwendige und
bleibende Erscheinung oder inwieweit sie vorübergehender Natur sind und von
unsrer mangelnden Gewöhnung abhängen. Ein Mensch, der nie plastische Bild¬
werke gesehen hat, würde wohl anch den Eindruck des Unheimlichen empfangen,
wenn er zum erstenmale unsre schweigenden, weißen und lichtvollen, regungslosen
Marmorgestalten erblickte. Und nehmen wir an, daß ein Volk nnr die Zeich¬
nung gepflegt habe, darin aber zur vollen Meisterschaft gelangt sei, so würde
es sich vielleicht in derselben Weise gegen ausgeführte Ölgemälde verhalten,
wie wir dies zur Zeit gegen die Werke pvlhchrvmer Plastik thun. Jedenfalls kann
nur die Zukunft darüber entscheiden, ob die Gefühle, die sich heute bei einer gar
zu täuschenden Nachahmung der Natur einzustellen pflegen, eine dauernde oder
eine durch Gewohnheit sich verlierende psychologische Erscheinung sind. Für
die gegenwärtige Untersuchung ist dies übrigens gleichgiltig. Es genügt, die
Thatsache festzustellen, daß solche Gefühle vorhanden sind.
Alles Bisherige zusammenfassend dürfen wir sagen: beim Genuß eines
Kunstwerkes, das die Natur völlig getreu wiedergiebt, tritt eine Reihe von
Gefühle» auf, die sich bei der Wirklichkeit uicht vorfinden können. Offen bleibt
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