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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Die hypnotische Suggestion

Kann die Krankheitsursache durch natürliche Mittel gehoben werden, so ist die
Suggestion unnötig; vermag aber die Suggestion, was kein natürliches Mittel
vermag, hebt sie die Kraukheitsnrsnche, z. B. die Zerreißung eines Darmes,
oder heilt sie gar ohne Hebung der Ursache, dann ist sie reine Zauberei, denn
dann wird durch sie die Kette von Ursache und Wirkung zerrissen. Wenn
der Heilwille die Hände des Arztes in Bewegung setzt, svdnß diese eine ab¬
gehackte Nase annähen, dann sehen wir den Zusammenhang. Wenn aber der
Heilwille eine Naht in der zerrissenen Magenwand zu Stande bringt ohne
Nadel und Zwirn, und ohne ein die heilende Säftebewegung beeinflnssendeS
Medikament, so ist der Zusammenhang aufgehoben, und wir befinden uns im
Reiche der Zauberer und Wunderthäter.

Am schlimmsten wäre es, wenn die Suggestion zu heilen vermöchte ohne
Hebung der Krankheitsursachen, denn dann würde sie die sittliche Ordnung
umstoßen und die menschliche Gesellschaft auflösen. Übermaß und Maugel
sollen krank machen, damit sich der Mensch des erstere" enthalte und an der
Beseitigung des andern arbeite. Könnte man die Menschen durch magnetische
Künste ohne Nahrung oder mit einer winzigen Menge von Nnhrnngsstvff am
Leben und bei Kräften erhalten, wie denn eine Luise Lateau von dem täglich
einmaligen Genuß der Hostie gelebt haben soll, so brauchte man die Arbeiter
bloß zu hypnotisiren, und die lebendige, fast ganz kostenlose Maschine wäre
fertig. Eben als bloße Maschinen aber würden diese Menschen aufhören,
Menschen zu sein, denn zum Wesen des Menschen gehört u. a., daß er sich an
Speise und Trank erfreue und in der Sorge um Speise und Trank für sich,
für Weib und Kind seine leibliche, geistige und sittliche Kraft entfalte. Ander¬
seits könnte sich der reiche Schlemmer in den Zustand unbegrenzter Genu߬
fähigkeit versetzen und sich so von dem Zwange zur Selbstbeherrschung, von
dieser natürlichen Grundlage der Sittlichkeit, frei machen. Und kehrte einmal
der Wahnsinn des siebzehnten Jahrhunderts wieder, wo die Obrigkeiten, von
der Wollust der Grausamkeit gestachelt, um hohen Lohn Henker suchten, die
die Kunst verstanden, ihre Opfer monatelang zu peinigen, ohne sie zu töten,
so wäre solchen Teufeln in Menschengestalt geholfen. Sie könnten sich jahre¬
lang täglich an den Qualen einunddesselben Gefolterten weiden; die Suggestion
würde die nnseinandergerissenen Glieder immer wieder einrenken, die Brand-
uud Schnittwunden heilen. Sollte es wahr sein, daß Gott einzelnen für heilig
gehaltenen Menschen die Gabe wunderbarer Heilkraft verleiht, so würde das
keinen solchen Umsturz des Baues der Gesellschaft zur Folge haben, weil die'
vorausgesetzte Heiligkeit der begnadeten Menschen den Mißbrauch ausschließe"
und das Walde" einzelner Bevorzugter den natürlichem Lauf der Welt im
großen und ganze" nicht verändern würde. Auch gefährdet der Glnnbe an
solche Wunderwirkungen die Zuverlässigkeit der Wissenschaft in weit geringerm
Grade als der Suggestions- und Spiritisteuschwiudel, weil er die Wunder für


Die hypnotische Suggestion

Kann die Krankheitsursache durch natürliche Mittel gehoben werden, so ist die
Suggestion unnötig; vermag aber die Suggestion, was kein natürliches Mittel
vermag, hebt sie die Kraukheitsnrsnche, z. B. die Zerreißung eines Darmes,
oder heilt sie gar ohne Hebung der Ursache, dann ist sie reine Zauberei, denn
dann wird durch sie die Kette von Ursache und Wirkung zerrissen. Wenn
der Heilwille die Hände des Arztes in Bewegung setzt, svdnß diese eine ab¬
gehackte Nase annähen, dann sehen wir den Zusammenhang. Wenn aber der
Heilwille eine Naht in der zerrissenen Magenwand zu Stande bringt ohne
Nadel und Zwirn, und ohne ein die heilende Säftebewegung beeinflnssendeS
Medikament, so ist der Zusammenhang aufgehoben, und wir befinden uns im
Reiche der Zauberer und Wunderthäter.

Am schlimmsten wäre es, wenn die Suggestion zu heilen vermöchte ohne
Hebung der Krankheitsursachen, denn dann würde sie die sittliche Ordnung
umstoßen und die menschliche Gesellschaft auflösen. Übermaß und Maugel
sollen krank machen, damit sich der Mensch des erstere» enthalte und an der
Beseitigung des andern arbeite. Könnte man die Menschen durch magnetische
Künste ohne Nahrung oder mit einer winzigen Menge von Nnhrnngsstvff am
Leben und bei Kräften erhalten, wie denn eine Luise Lateau von dem täglich
einmaligen Genuß der Hostie gelebt haben soll, so brauchte man die Arbeiter
bloß zu hypnotisiren, und die lebendige, fast ganz kostenlose Maschine wäre
fertig. Eben als bloße Maschinen aber würden diese Menschen aufhören,
Menschen zu sein, denn zum Wesen des Menschen gehört u. a., daß er sich an
Speise und Trank erfreue und in der Sorge um Speise und Trank für sich,
für Weib und Kind seine leibliche, geistige und sittliche Kraft entfalte. Ander¬
seits könnte sich der reiche Schlemmer in den Zustand unbegrenzter Genu߬
fähigkeit versetzen und sich so von dem Zwange zur Selbstbeherrschung, von
dieser natürlichen Grundlage der Sittlichkeit, frei machen. Und kehrte einmal
der Wahnsinn des siebzehnten Jahrhunderts wieder, wo die Obrigkeiten, von
der Wollust der Grausamkeit gestachelt, um hohen Lohn Henker suchten, die
die Kunst verstanden, ihre Opfer monatelang zu peinigen, ohne sie zu töten,
so wäre solchen Teufeln in Menschengestalt geholfen. Sie könnten sich jahre¬
lang täglich an den Qualen einunddesselben Gefolterten weiden; die Suggestion
würde die nnseinandergerissenen Glieder immer wieder einrenken, die Brand-
uud Schnittwunden heilen. Sollte es wahr sein, daß Gott einzelnen für heilig
gehaltenen Menschen die Gabe wunderbarer Heilkraft verleiht, so würde das
keinen solchen Umsturz des Baues der Gesellschaft zur Folge haben, weil die'
vorausgesetzte Heiligkeit der begnadeten Menschen den Mißbrauch ausschließe»
und das Walde» einzelner Bevorzugter den natürlichem Lauf der Welt im
großen und ganze» nicht verändern würde. Auch gefährdet der Glnnbe an
solche Wunderwirkungen die Zuverlässigkeit der Wissenschaft in weit geringerm
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[0036] Die hypnotische Suggestion Kann die Krankheitsursache durch natürliche Mittel gehoben werden, so ist die Suggestion unnötig; vermag aber die Suggestion, was kein natürliches Mittel vermag, hebt sie die Kraukheitsnrsnche, z. B. die Zerreißung eines Darmes, oder heilt sie gar ohne Hebung der Ursache, dann ist sie reine Zauberei, denn dann wird durch sie die Kette von Ursache und Wirkung zerrissen. Wenn der Heilwille die Hände des Arztes in Bewegung setzt, svdnß diese eine ab¬ gehackte Nase annähen, dann sehen wir den Zusammenhang. Wenn aber der Heilwille eine Naht in der zerrissenen Magenwand zu Stande bringt ohne Nadel und Zwirn, und ohne ein die heilende Säftebewegung beeinflnssendeS Medikament, so ist der Zusammenhang aufgehoben, und wir befinden uns im Reiche der Zauberer und Wunderthäter. Am schlimmsten wäre es, wenn die Suggestion zu heilen vermöchte ohne Hebung der Krankheitsursachen, denn dann würde sie die sittliche Ordnung umstoßen und die menschliche Gesellschaft auflösen. Übermaß und Maugel sollen krank machen, damit sich der Mensch des erstere» enthalte und an der Beseitigung des andern arbeite. Könnte man die Menschen durch magnetische Künste ohne Nahrung oder mit einer winzigen Menge von Nnhrnngsstvff am Leben und bei Kräften erhalten, wie denn eine Luise Lateau von dem täglich einmaligen Genuß der Hostie gelebt haben soll, so brauchte man die Arbeiter bloß zu hypnotisiren, und die lebendige, fast ganz kostenlose Maschine wäre fertig. Eben als bloße Maschinen aber würden diese Menschen aufhören, Menschen zu sein, denn zum Wesen des Menschen gehört u. a., daß er sich an Speise und Trank erfreue und in der Sorge um Speise und Trank für sich, für Weib und Kind seine leibliche, geistige und sittliche Kraft entfalte. Ander¬ seits könnte sich der reiche Schlemmer in den Zustand unbegrenzter Genu߬ fähigkeit versetzen und sich so von dem Zwange zur Selbstbeherrschung, von dieser natürlichen Grundlage der Sittlichkeit, frei machen. Und kehrte einmal der Wahnsinn des siebzehnten Jahrhunderts wieder, wo die Obrigkeiten, von der Wollust der Grausamkeit gestachelt, um hohen Lohn Henker suchten, die die Kunst verstanden, ihre Opfer monatelang zu peinigen, ohne sie zu töten, so wäre solchen Teufeln in Menschengestalt geholfen. Sie könnten sich jahre¬ lang täglich an den Qualen einunddesselben Gefolterten weiden; die Suggestion würde die nnseinandergerissenen Glieder immer wieder einrenken, die Brand- uud Schnittwunden heilen. Sollte es wahr sein, daß Gott einzelnen für heilig gehaltenen Menschen die Gabe wunderbarer Heilkraft verleiht, so würde das keinen solchen Umsturz des Baues der Gesellschaft zur Folge haben, weil die' vorausgesetzte Heiligkeit der begnadeten Menschen den Mißbrauch ausschließe» und das Walde» einzelner Bevorzugter den natürlichem Lauf der Welt im großen und ganze» nicht verändern würde. Auch gefährdet der Glnnbe an solche Wunderwirkungen die Zuverlässigkeit der Wissenschaft in weit geringerm Grade als der Suggestions- und Spiritisteuschwiudel, weil er die Wunder für

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/36>, abgerufen am 25.07.2024.