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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Die Sozialdemokratie und das Theater

Vorbesprechung am 8. August in einer zweiten von mehr als zweitausend
Personen besuchten Versammlung die Gründung einer "Freie" Volksbühne"
beschlossen, in der n. a. der sozialdemokratische Grundsatz der Gleichberechtigung
dadurch zum Ausdruck gebracht werden soll, daß die Plätze eine Stunde vor
Beginn der Vorstellung verlost werden, d. h. daß jeder Besucher sich seine
Eintrittskarte aus einer Urne herauszieht. Mnu darf diese Gründung als deu
ersten Vorstoß in dem Kampfe betrachte", den die Svzialdemokrntie nach dem
1. Oktober auf ihrer ganzen Linie eröffnen wird, und sie hat mit uicht ge¬
ringem taktischen Geschick für diese erste Kraftprobe ein Gebiet gewählt, auf
dem mau deu sozialdemokratischen Bestrebungen noch ein ästhetisches oder
moralisches Mäntelchen umhängen kann. Wenn man in den Zeitungsberichten
über die Versammlung vom 8. August liest, mit welchem Eifer, mit welchem
Aufwand von sittlicher Entrüstung gegen den Unfug gedonnert wurde, der
auf der Mehrzahl der Berliner Bühnen mit zuchtlosen Operetten, Possen und
Schwänken getrieben wird, konnte ein Leser, der mit den in Frage kommenden
Personen und Verhältnisse" nicht vertraut ist, leicht zu dem Glauben verführt
werden, daß hier wirklich ideale, uneigennützige Absichten einen festen Kern zu
gewinnen anfinge". Aber die Begründer der "Freien Volksbühne" sind noch
zu ungeübte Schauspieler, als daß sie ihre Masken lange Zeit ohne Unbe¬
hagen zu tragen vermochten, und überdies hat der ihnen Beifall klatschende
Chorus dafür gesorgt, daß der wahre Charakter der "Freien Volksbühne"
noch vor Ablauf der Versammlung rechtzeitig enthüllt wurde. Am Schluß
wurde nämlich eine Tellersammlung zu Gunsten der streikenden Sozialdemo-
kraten in Hamburg angeregt, deren Ausführung nur an dem Widerspruch der
die Versammlung überwachende" Polizeibeamten scheiterte, und als man aus¬
einanderging, wurden Hochs ans die "Freie Volksbühne" und die internationale
Sozialdemokratie ausgebracht und mit Jubel aufgenommen.

Die "Freie Volksbühne" ist damit als ein unter dem Schutze der inter¬
nationalen Sozialdemokratie stehende und von ihr beeinflußte oder doch von
ihr unterstützte Gründung gekennzeichnet, auf deren Früchte man gespannt sein
konnte, wenn nicht das in der Versammlung bekannt gemachte Programm jede
Überraschung ausschlösse. Man hat bisher zur Aufführung folgende Stücke
in Aussicht genommen: "Gespenster" und "Der Volksfeind" von Ibsen, die
"Macht der Finsternis" von Tolstoi, "Vor Sonnenaufgang" von Gerhart
Hauptmann, "Familie Selicke" von Holz und Schlaf, "Dantons Tod" von
Büchner und "Therese Raquin" von Zola, also zum größten Teile dieselben
Schauspiele, die in dem unter der Leitung des Herrn Dr. Otto Brahm stehenden
Verein "Freie Bühne" im Laufe der verflossenen Spielzeit aufgeführt worden
sind und dort teils zu den widerlichsten Skandalszenen Veranlassung gegeben,
teils die Bereiusmitglieder, was ihnen noch schmerzlicher war, in unerträglicher
Weise gelangweilt haben. Wir glauben, daß selbst die vielgerühmte Disziplin


Die Sozialdemokratie und das Theater

Vorbesprechung am 8. August in einer zweiten von mehr als zweitausend
Personen besuchten Versammlung die Gründung einer „Freie» Volksbühne"
beschlossen, in der n. a. der sozialdemokratische Grundsatz der Gleichberechtigung
dadurch zum Ausdruck gebracht werden soll, daß die Plätze eine Stunde vor
Beginn der Vorstellung verlost werden, d. h. daß jeder Besucher sich seine
Eintrittskarte aus einer Urne herauszieht. Mnu darf diese Gründung als deu
ersten Vorstoß in dem Kampfe betrachte«, den die Svzialdemokrntie nach dem
1. Oktober auf ihrer ganzen Linie eröffnen wird, und sie hat mit uicht ge¬
ringem taktischen Geschick für diese erste Kraftprobe ein Gebiet gewählt, auf
dem mau deu sozialdemokratischen Bestrebungen noch ein ästhetisches oder
moralisches Mäntelchen umhängen kann. Wenn man in den Zeitungsberichten
über die Versammlung vom 8. August liest, mit welchem Eifer, mit welchem
Aufwand von sittlicher Entrüstung gegen den Unfug gedonnert wurde, der
auf der Mehrzahl der Berliner Bühnen mit zuchtlosen Operetten, Possen und
Schwänken getrieben wird, konnte ein Leser, der mit den in Frage kommenden
Personen und Verhältnisse« nicht vertraut ist, leicht zu dem Glauben verführt
werden, daß hier wirklich ideale, uneigennützige Absichten einen festen Kern zu
gewinnen anfinge«. Aber die Begründer der „Freien Volksbühne" sind noch
zu ungeübte Schauspieler, als daß sie ihre Masken lange Zeit ohne Unbe¬
hagen zu tragen vermochten, und überdies hat der ihnen Beifall klatschende
Chorus dafür gesorgt, daß der wahre Charakter der „Freien Volksbühne"
noch vor Ablauf der Versammlung rechtzeitig enthüllt wurde. Am Schluß
wurde nämlich eine Tellersammlung zu Gunsten der streikenden Sozialdemo-
kraten in Hamburg angeregt, deren Ausführung nur an dem Widerspruch der
die Versammlung überwachende« Polizeibeamten scheiterte, und als man aus¬
einanderging, wurden Hochs ans die „Freie Volksbühne" und die internationale
Sozialdemokratie ausgebracht und mit Jubel aufgenommen.

Die „Freie Volksbühne" ist damit als ein unter dem Schutze der inter¬
nationalen Sozialdemokratie stehende und von ihr beeinflußte oder doch von
ihr unterstützte Gründung gekennzeichnet, auf deren Früchte man gespannt sein
konnte, wenn nicht das in der Versammlung bekannt gemachte Programm jede
Überraschung ausschlösse. Man hat bisher zur Aufführung folgende Stücke
in Aussicht genommen: „Gespenster" und „Der Volksfeind" von Ibsen, die
„Macht der Finsternis" von Tolstoi, „Vor Sonnenaufgang" von Gerhart
Hauptmann, „Familie Selicke" von Holz und Schlaf, „Dantons Tod" von
Büchner und „Therese Raquin" von Zola, also zum größten Teile dieselben
Schauspiele, die in dem unter der Leitung des Herrn Dr. Otto Brahm stehenden
Verein „Freie Bühne" im Laufe der verflossenen Spielzeit aufgeführt worden
sind und dort teils zu den widerlichsten Skandalszenen Veranlassung gegeben,
teils die Bereiusmitglieder, was ihnen noch schmerzlicher war, in unerträglicher
Weise gelangweilt haben. Wir glauben, daß selbst die vielgerühmte Disziplin


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[0331] Die Sozialdemokratie und das Theater Vorbesprechung am 8. August in einer zweiten von mehr als zweitausend Personen besuchten Versammlung die Gründung einer „Freie» Volksbühne" beschlossen, in der n. a. der sozialdemokratische Grundsatz der Gleichberechtigung dadurch zum Ausdruck gebracht werden soll, daß die Plätze eine Stunde vor Beginn der Vorstellung verlost werden, d. h. daß jeder Besucher sich seine Eintrittskarte aus einer Urne herauszieht. Mnu darf diese Gründung als deu ersten Vorstoß in dem Kampfe betrachte«, den die Svzialdemokrntie nach dem 1. Oktober auf ihrer ganzen Linie eröffnen wird, und sie hat mit uicht ge¬ ringem taktischen Geschick für diese erste Kraftprobe ein Gebiet gewählt, auf dem mau deu sozialdemokratischen Bestrebungen noch ein ästhetisches oder moralisches Mäntelchen umhängen kann. Wenn man in den Zeitungsberichten über die Versammlung vom 8. August liest, mit welchem Eifer, mit welchem Aufwand von sittlicher Entrüstung gegen den Unfug gedonnert wurde, der auf der Mehrzahl der Berliner Bühnen mit zuchtlosen Operetten, Possen und Schwänken getrieben wird, konnte ein Leser, der mit den in Frage kommenden Personen und Verhältnisse« nicht vertraut ist, leicht zu dem Glauben verführt werden, daß hier wirklich ideale, uneigennützige Absichten einen festen Kern zu gewinnen anfinge«. Aber die Begründer der „Freien Volksbühne" sind noch zu ungeübte Schauspieler, als daß sie ihre Masken lange Zeit ohne Unbe¬ hagen zu tragen vermochten, und überdies hat der ihnen Beifall klatschende Chorus dafür gesorgt, daß der wahre Charakter der „Freien Volksbühne" noch vor Ablauf der Versammlung rechtzeitig enthüllt wurde. Am Schluß wurde nämlich eine Tellersammlung zu Gunsten der streikenden Sozialdemo- kraten in Hamburg angeregt, deren Ausführung nur an dem Widerspruch der die Versammlung überwachende« Polizeibeamten scheiterte, und als man aus¬ einanderging, wurden Hochs ans die „Freie Volksbühne" und die internationale Sozialdemokratie ausgebracht und mit Jubel aufgenommen. Die „Freie Volksbühne" ist damit als ein unter dem Schutze der inter¬ nationalen Sozialdemokratie stehende und von ihr beeinflußte oder doch von ihr unterstützte Gründung gekennzeichnet, auf deren Früchte man gespannt sein konnte, wenn nicht das in der Versammlung bekannt gemachte Programm jede Überraschung ausschlösse. Man hat bisher zur Aufführung folgende Stücke in Aussicht genommen: „Gespenster" und „Der Volksfeind" von Ibsen, die „Macht der Finsternis" von Tolstoi, „Vor Sonnenaufgang" von Gerhart Hauptmann, „Familie Selicke" von Holz und Schlaf, „Dantons Tod" von Büchner und „Therese Raquin" von Zola, also zum größten Teile dieselben Schauspiele, die in dem unter der Leitung des Herrn Dr. Otto Brahm stehenden Verein „Freie Bühne" im Laufe der verflossenen Spielzeit aufgeführt worden sind und dort teils zu den widerlichsten Skandalszenen Veranlassung gegeben, teils die Bereiusmitglieder, was ihnen noch schmerzlicher war, in unerträglicher Weise gelangweilt haben. Wir glauben, daß selbst die vielgerühmte Disziplin

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/331>, abgerufen am 25.07.2024.