Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.Im Jahre 2000 ohne Zweifel geistreichen Einfall keine poetische Ausführung gegeben hat. Wir Im Jahre 2000 ohne Zweifel geistreichen Einfall keine poetische Ausführung gegeben hat. Wir <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0328" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208265"/> <fw type="header" place="top"> Im Jahre 2000</fw><lb/> <p xml:id="ID_896" prev="#ID_895" next="#ID_897"> ohne Zweifel geistreichen Einfall keine poetische Ausführung gegeben hat. Wir<lb/> erfahren wohl, daß sich Julian West in einer erlösten Welt und seinem völlig<lb/> veränderten Leben wiederfindet, wir werden mit den Grundzügen, dem<lb/> „System" der neuen Weltordnung bekannt gemacht, werden unterrichtet, daß<lb/> das Boston des zwanzigsten Jahrhunderts mit seinen öffentlichen Gebäuden,<lb/> seinen luxuriösen Gesamteinrichtungen eine Prachtstadt sei, der gegenüber das<lb/> Boston von heute als eine Dreckstadt erscheint, wir sehen, daß mau sich nur<lb/> in seinen Lehnstuhl zu setzen und einen Telephonknopf zu drücken braucht, um<lb/> das allsgezeichnetste Konzert und die beste Predigt zu hören, aber es wird,<lb/> von einigen verhältnismäßig unwesentlichen Einzelheiten abgesehen, kein Versuch<lb/> gemacht, den wunderlichen Traum in Leben umzuwandeln. Wir lernen keine<lb/> Meuschen des zwanzigsten Jahrhunderts kennen, als eben den Dr. Leete, dessen<lb/> Frau uiid seine Tochter Edles, in deren Hause Julian West erwacht. Es<lb/> wird uns weder das Arbeitsleben noch das Genußleben einer großen Stadt<lb/> der Zukunft in deutlichen Bildern vorgeführt. Obschon es der Grundgedanke<lb/> des Verfassers ist, darzustellen, daß die neue Weltordnung das Leben keines¬<lb/> wegs in ein großes Nationalzuchthans verwandelt und alle Besonderheiten<lb/> des Temperaments, der Begabung, der Lebensauffassung und des Geschmacks<lb/> verwischt habe, so hat er die naheliegende Aufgabe nicht ergriffen, uns ge¬<lb/> sellschaftliche Gruppen, Individualitäten, verschiedne und doch vom. Hauche<lb/> einer neuen Weltanschauung beseelte Menschen der Zukunft vorzuführen. Nach<lb/> der theoretischen Seite hin sind die Erörterungen Doktor Leetes und die Be¬<lb/> lehrungen, die er Julian West zu Teil werde« läßt, freilich ein gewaltiger<lb/> Fortschritt über die Schilderung der sozialistischen Kaserne hinaus, die Eugen<lb/> Sue schon 1846 seinem Sensationsroman „Der ewige Jude" einverleibt hatte.<lb/> Aber in der Hauptsache, in der Belebung und Beseelung des Einzelnen, in der<lb/> Wiedergabe glaubhafter, lebendiger Mannichfaltigkeit steht Bellamys Fiktion<lb/> nicht hoher, der Verfasser hat sich mit Andeutungen begnügt, weil Aus¬<lb/> führungen über einen gewissen Punkt hinaus eben unmöglich waren. Die<lb/> Voraussetzung, aus der die Prophetien des Bellamyschen Buches, wie die<lb/> Kritik, die es an unsern Gesellschaftszuständen übt, hervorgehen, ist die<lb/> einer unbedingten Vervollkommnungsfähigkeit der Menschheit. „Im neunzehnten<lb/> Jahrhundert" — sagt durch das verbesserte Telephon hörbar der sehr ehrwürdige<lb/> Herr Barton in der Predigt, die an die wundersame Auferstehung des Herrn<lb/> Julian West anknüpft — herrschte traurige Hoffnungslosigkeit, tiefe Verzweiflung<lb/> um der Zukunft der Menschheit; unser Zeitalter wird von einer begeisterten<lb/> Wertschätzung der Annehmlichkeiten unsers gegenwärtigen Daseins und der<lb/> unbegrenzten Kräfte der menschlichen Natur beseelt. Die von Geschlecht zu<lb/> Geschlecht zunehmende körperliche, geistige und sittliche Besserung der Mensch¬<lb/> heit wird als der eine große Gegenstand erkannt, welcher aller Anstrengungen<lb/> und Opfer in: höchsten Grade wert ist. Wir glauben, daß das Volk zum erstenmale</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0328]
Im Jahre 2000
ohne Zweifel geistreichen Einfall keine poetische Ausführung gegeben hat. Wir
erfahren wohl, daß sich Julian West in einer erlösten Welt und seinem völlig
veränderten Leben wiederfindet, wir werden mit den Grundzügen, dem
„System" der neuen Weltordnung bekannt gemacht, werden unterrichtet, daß
das Boston des zwanzigsten Jahrhunderts mit seinen öffentlichen Gebäuden,
seinen luxuriösen Gesamteinrichtungen eine Prachtstadt sei, der gegenüber das
Boston von heute als eine Dreckstadt erscheint, wir sehen, daß mau sich nur
in seinen Lehnstuhl zu setzen und einen Telephonknopf zu drücken braucht, um
das allsgezeichnetste Konzert und die beste Predigt zu hören, aber es wird,
von einigen verhältnismäßig unwesentlichen Einzelheiten abgesehen, kein Versuch
gemacht, den wunderlichen Traum in Leben umzuwandeln. Wir lernen keine
Meuschen des zwanzigsten Jahrhunderts kennen, als eben den Dr. Leete, dessen
Frau uiid seine Tochter Edles, in deren Hause Julian West erwacht. Es
wird uns weder das Arbeitsleben noch das Genußleben einer großen Stadt
der Zukunft in deutlichen Bildern vorgeführt. Obschon es der Grundgedanke
des Verfassers ist, darzustellen, daß die neue Weltordnung das Leben keines¬
wegs in ein großes Nationalzuchthans verwandelt und alle Besonderheiten
des Temperaments, der Begabung, der Lebensauffassung und des Geschmacks
verwischt habe, so hat er die naheliegende Aufgabe nicht ergriffen, uns ge¬
sellschaftliche Gruppen, Individualitäten, verschiedne und doch vom. Hauche
einer neuen Weltanschauung beseelte Menschen der Zukunft vorzuführen. Nach
der theoretischen Seite hin sind die Erörterungen Doktor Leetes und die Be¬
lehrungen, die er Julian West zu Teil werde« läßt, freilich ein gewaltiger
Fortschritt über die Schilderung der sozialistischen Kaserne hinaus, die Eugen
Sue schon 1846 seinem Sensationsroman „Der ewige Jude" einverleibt hatte.
Aber in der Hauptsache, in der Belebung und Beseelung des Einzelnen, in der
Wiedergabe glaubhafter, lebendiger Mannichfaltigkeit steht Bellamys Fiktion
nicht hoher, der Verfasser hat sich mit Andeutungen begnügt, weil Aus¬
führungen über einen gewissen Punkt hinaus eben unmöglich waren. Die
Voraussetzung, aus der die Prophetien des Bellamyschen Buches, wie die
Kritik, die es an unsern Gesellschaftszuständen übt, hervorgehen, ist die
einer unbedingten Vervollkommnungsfähigkeit der Menschheit. „Im neunzehnten
Jahrhundert" — sagt durch das verbesserte Telephon hörbar der sehr ehrwürdige
Herr Barton in der Predigt, die an die wundersame Auferstehung des Herrn
Julian West anknüpft — herrschte traurige Hoffnungslosigkeit, tiefe Verzweiflung
um der Zukunft der Menschheit; unser Zeitalter wird von einer begeisterten
Wertschätzung der Annehmlichkeiten unsers gegenwärtigen Daseins und der
unbegrenzten Kräfte der menschlichen Natur beseelt. Die von Geschlecht zu
Geschlecht zunehmende körperliche, geistige und sittliche Besserung der Mensch¬
heit wird als der eine große Gegenstand erkannt, welcher aller Anstrengungen
und Opfer in: höchsten Grade wert ist. Wir glauben, daß das Volk zum erstenmale
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