Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.Die Wissenschaft im Lichte der sozialen Idee die Erfahrung uns über sie lehrt, aber sich damit tröstete, daß dies genüge Aber auch abgesehen von diesen mehr innern Gründen steht der Positi- Die Wissenschaft im Lichte der sozialen Idee die Erfahrung uns über sie lehrt, aber sich damit tröstete, daß dies genüge Aber auch abgesehen von diesen mehr innern Gründen steht der Positi- <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0306" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208243"/> <fw type="header" place="top"> Die Wissenschaft im Lichte der sozialen Idee</fw><lb/> <p xml:id="ID_846" prev="#ID_845"> die Erfahrung uns über sie lehrt, aber sich damit tröstete, daß dies genüge<lb/> für die Zwecke des menschlichen Lebens, Wie man überhaupt bei englischen<lb/> Denkern fast durchweg eine sehr bescheidne Meinung von der auf sich selbst<lb/> angewiesenen Erkenntniskraft des Menschen findet, so tritt bei ihnen auch die<lb/> Auffassung des Wissens als eines Mittels zur Verwirklichung praktischer Zwecke<lb/> vorwiegend hervor, wahrend die deutsche Philosophie mit ihrem Glauben an<lb/> die Möglichkeit einer alldurchdringenden Einsicht das Ideal einer absoluten<lb/> Wissenschaft, die Selbstzweck ist, großgezogen hat. In der neuesten Zeit ist<lb/> jedoch nicht nur in deu Einzelwisfenschaften, hauptsächlich in der Naturwissen¬<lb/> schaft, sondern auch in der Philosophie der Satz zu fast unbestrittener Geltung<lb/> gekommen, daß der etwaige letzte Grund der Erscheinungen niemals Gegenstand<lb/> der Erkenntnis werden könne, die es immer bloß mit äußern Beziehungen zu<lb/> thun hat; hervorragende Gelehrte haben nicht die Erklärung, sondern lediglich<lb/> Beschreibung der Thatsachen als die Aufgabe der Wissenschaft bezeichnet und<lb/> sehen in den Naturgesetzen nicht zwingende Gebote, denen die Dinge unbedingt<lb/> gehorchen miissen, sondern Formeln, die die Wissenschaft sich gebildet hat, um<lb/> den verwickelten Verlauf der Erscheinungen übersehen zu können, denen aber<lb/> dieser nur annäherungsweise entspricht.</p><lb/> <p xml:id="ID_847" next="#ID_848"> Aber auch abgesehen von diesen mehr innern Gründen steht der Positi-<lb/> vismus mit seinem Kampfe gegen die Überschätzung des theoretischen Wissens<lb/> nicht allein da. Mau hat in letzter Zeit bei verschiednen Anlässen Stimmen<lb/> genug vernommen, die ans die Gefahren einer solchen Überschätzung hinweisen.<lb/> Ist einerseits hervorgehoben worden, daß die Erziehung der Jugend eine ganz<lb/> verfehlte werden muß, wenn man neben der Ansammlung von Kenntnissen die<lb/> Erweckung des Verständnisses für die praktisch-sittlichen Aufgaben des mensch¬<lb/> lichen Lebens verabsäumt, so hat man anderseits betont, daß eine große<lb/> soziale Gefahr in dem schroffen Gegensatze der wissenschaftlich hochgebildeten<lb/> Kreise und der unwissenden Massen liegt, wie er sich auf Grund des mit dein<lb/> Wissen getriebenen Kultus entwickelt hat. In wie vielen Dingen — wir er¬<lb/> innern nur an die religiösen Fragen — denkt nicht der wissenschaftlich Ge¬<lb/> bildete ganz anders als der gemeine Mann, und welche bedauerlichen Erschei¬<lb/> nungen sind mit der Verbreitung wissenschaftlicher Theorien in Kreise verbunden,<lb/> die für deren Verständnis nicht reif find! „Der hohe Stand der wissenschaft¬<lb/> lichen Erkenntnis, so sagt deshalb der obengenannte Laffitte, wäre bewun-<lb/> derungswürdig, wenn die Wissenschaft, indem sie an Umfang und Tiefe zu¬<lb/> nahm, nicht Eigentum einer nur geringen Minderheit geblieben wäre, wenn<lb/> die Masse, die unendliche Masse Anteil an dem geistigen Kapital gewonnen<lb/> hätte, das durch die denkende Klasse geschaffen wurde und bei ihr aufgespeichert<lb/> ist. Je weiter wir fortschreiten, umso mehr vertieft sich die Kluft zwischen<lb/> den Wissenden und deu Unwissenden. Und das Bedenklichste ist, daß die<lb/> Wissenschaft, dieses gefährliche Werkzeug, wenn sie auch uicht in die Masse der</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0306]
Die Wissenschaft im Lichte der sozialen Idee
die Erfahrung uns über sie lehrt, aber sich damit tröstete, daß dies genüge
für die Zwecke des menschlichen Lebens, Wie man überhaupt bei englischen
Denkern fast durchweg eine sehr bescheidne Meinung von der auf sich selbst
angewiesenen Erkenntniskraft des Menschen findet, so tritt bei ihnen auch die
Auffassung des Wissens als eines Mittels zur Verwirklichung praktischer Zwecke
vorwiegend hervor, wahrend die deutsche Philosophie mit ihrem Glauben an
die Möglichkeit einer alldurchdringenden Einsicht das Ideal einer absoluten
Wissenschaft, die Selbstzweck ist, großgezogen hat. In der neuesten Zeit ist
jedoch nicht nur in deu Einzelwisfenschaften, hauptsächlich in der Naturwissen¬
schaft, sondern auch in der Philosophie der Satz zu fast unbestrittener Geltung
gekommen, daß der etwaige letzte Grund der Erscheinungen niemals Gegenstand
der Erkenntnis werden könne, die es immer bloß mit äußern Beziehungen zu
thun hat; hervorragende Gelehrte haben nicht die Erklärung, sondern lediglich
Beschreibung der Thatsachen als die Aufgabe der Wissenschaft bezeichnet und
sehen in den Naturgesetzen nicht zwingende Gebote, denen die Dinge unbedingt
gehorchen miissen, sondern Formeln, die die Wissenschaft sich gebildet hat, um
den verwickelten Verlauf der Erscheinungen übersehen zu können, denen aber
dieser nur annäherungsweise entspricht.
Aber auch abgesehen von diesen mehr innern Gründen steht der Positi-
vismus mit seinem Kampfe gegen die Überschätzung des theoretischen Wissens
nicht allein da. Mau hat in letzter Zeit bei verschiednen Anlässen Stimmen
genug vernommen, die ans die Gefahren einer solchen Überschätzung hinweisen.
Ist einerseits hervorgehoben worden, daß die Erziehung der Jugend eine ganz
verfehlte werden muß, wenn man neben der Ansammlung von Kenntnissen die
Erweckung des Verständnisses für die praktisch-sittlichen Aufgaben des mensch¬
lichen Lebens verabsäumt, so hat man anderseits betont, daß eine große
soziale Gefahr in dem schroffen Gegensatze der wissenschaftlich hochgebildeten
Kreise und der unwissenden Massen liegt, wie er sich auf Grund des mit dein
Wissen getriebenen Kultus entwickelt hat. In wie vielen Dingen — wir er¬
innern nur an die religiösen Fragen — denkt nicht der wissenschaftlich Ge¬
bildete ganz anders als der gemeine Mann, und welche bedauerlichen Erschei¬
nungen sind mit der Verbreitung wissenschaftlicher Theorien in Kreise verbunden,
die für deren Verständnis nicht reif find! „Der hohe Stand der wissenschaft¬
lichen Erkenntnis, so sagt deshalb der obengenannte Laffitte, wäre bewun-
derungswürdig, wenn die Wissenschaft, indem sie an Umfang und Tiefe zu¬
nahm, nicht Eigentum einer nur geringen Minderheit geblieben wäre, wenn
die Masse, die unendliche Masse Anteil an dem geistigen Kapital gewonnen
hätte, das durch die denkende Klasse geschaffen wurde und bei ihr aufgespeichert
ist. Je weiter wir fortschreiten, umso mehr vertieft sich die Kluft zwischen
den Wissenden und deu Unwissenden. Und das Bedenklichste ist, daß die
Wissenschaft, dieses gefährliche Werkzeug, wenn sie auch uicht in die Masse der
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