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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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stattliche Kurhalle den Beweis liefert, daß es vor dem Kriege stark besucht
gewesen ist, hat in den letzten Jahren nur wenige Hunderte von Badegästen in
der Saison aufzuweisen. Seine Quellen haben ähnliche Bestandteile wie die
von Karlsbnd und Kissingen. Das heranwachsende Geschlecht, das nicht mehr
Zeuge der deutschen Einigung gewesen ist, möge es sich im Anblick der blut¬
getränkten Schlachtfelder zum Bewußtsein bringen, wie kostbar das deutsche
Reich und Elsaß-Lothringen errungen worden sind.

Wie heute die Verhältnisse liegen, haben selbst die Eingewanderten noch
nicht die volle Empfindung, als ob sie im Lande heimisch geworden wären,
sie betrachten ihren Aufenthalt in Elsaß-Lothringen, wie wenn sie in eine
Kolonie entsendet wären. Gewiß trägt hierzu beim Militär der häufige Wechsel
der Garnisonorte und bei den aus allen Teilen des Vaterlandes zusammen¬
gewürfelten Zivilbeamten der Umstand bei, daß sie sich nicht genug in einander
einleben. Es ist übrigens charakteristisch, daß die Mehrzahl der höhern Zivil-
beamten nicht etwa aus Altpreußen herrührt, sondern in der Verwaltung'aus
Hessen, in der Justiz aus der Pfalz übernommen ist. Die meisten von diesen
Beamten verbringen, wenn sie in den Ruhestand getreten sind, ihre alten Tage
nicht in Elsaß-Lothringen, sondern kehren in das alte Vaterland zurück. In
den zwanzig Jahren ist ihnen Elsaß-Lothringen noch nicht zur zweitem Heimat
geworden! Eine weitere Annäherung wird sich erst bei den spätern Geschlechtern
vollziehen, wenn sich die alten Familienbande mit Frankreich gelockert haben
und neue mit Altdeutschen geknüpft worden sind, wenn erst die obersten Ämter
mit den Söhnen des Landes besetzt werden können. Nur sehr wenige junge
Reichslünder haben sich bisher entschließen können, in den höher" Staatsdienst
einzutreten.

Wer die Germanisirung von Elsaß-Lothringen mit ruhigem Blick be¬
trachtet, nachdem er sich im Lande umgesehen hat, der wird erkennen, daß wir
noch nicht so weit gelangt sind, um auf alle Ausnahmemaßregclu zu verzichten.
Schule und Heeresdienst werden noch lange arbeiten müssen, um den politischen
Einfluß der Familie zu überwinden. Übergangsperioden Pflegen mit Härten
verbunden zu sein, der Lohn aber ist, daß die Zukunft gesichert wird. Nur
von diesem Gesichtspunkte muß man im deutschen Reiche, wo man der Zu¬
kunft fest und sicher entgegenschaut, den durch die Sonderverhältnisse not¬
wendigen Sonderrechtszustand von Elsaß-Lothringen beurteile". Es ist uicht
gut, wenn von außen zuviel daran gerührt wird. Verfolgt die Regierung bei
ihrem Vorgehen den Grundsatz?ortikvr in ro, srmviwr in moäo, wie dies die
jüngste Ermäßigung des im allgemeinen aufrecht erhaltenen Paßzwanges be¬
zeugt, so können ihre Schritte nur gebilligt werden.




stattliche Kurhalle den Beweis liefert, daß es vor dem Kriege stark besucht
gewesen ist, hat in den letzten Jahren nur wenige Hunderte von Badegästen in
der Saison aufzuweisen. Seine Quellen haben ähnliche Bestandteile wie die
von Karlsbnd und Kissingen. Das heranwachsende Geschlecht, das nicht mehr
Zeuge der deutschen Einigung gewesen ist, möge es sich im Anblick der blut¬
getränkten Schlachtfelder zum Bewußtsein bringen, wie kostbar das deutsche
Reich und Elsaß-Lothringen errungen worden sind.

Wie heute die Verhältnisse liegen, haben selbst die Eingewanderten noch
nicht die volle Empfindung, als ob sie im Lande heimisch geworden wären,
sie betrachten ihren Aufenthalt in Elsaß-Lothringen, wie wenn sie in eine
Kolonie entsendet wären. Gewiß trägt hierzu beim Militär der häufige Wechsel
der Garnisonorte und bei den aus allen Teilen des Vaterlandes zusammen¬
gewürfelten Zivilbeamten der Umstand bei, daß sie sich nicht genug in einander
einleben. Es ist übrigens charakteristisch, daß die Mehrzahl der höhern Zivil-
beamten nicht etwa aus Altpreußen herrührt, sondern in der Verwaltung'aus
Hessen, in der Justiz aus der Pfalz übernommen ist. Die meisten von diesen
Beamten verbringen, wenn sie in den Ruhestand getreten sind, ihre alten Tage
nicht in Elsaß-Lothringen, sondern kehren in das alte Vaterland zurück. In
den zwanzig Jahren ist ihnen Elsaß-Lothringen noch nicht zur zweitem Heimat
geworden! Eine weitere Annäherung wird sich erst bei den spätern Geschlechtern
vollziehen, wenn sich die alten Familienbande mit Frankreich gelockert haben
und neue mit Altdeutschen geknüpft worden sind, wenn erst die obersten Ämter
mit den Söhnen des Landes besetzt werden können. Nur sehr wenige junge
Reichslünder haben sich bisher entschließen können, in den höher» Staatsdienst
einzutreten.

Wer die Germanisirung von Elsaß-Lothringen mit ruhigem Blick be¬
trachtet, nachdem er sich im Lande umgesehen hat, der wird erkennen, daß wir
noch nicht so weit gelangt sind, um auf alle Ausnahmemaßregclu zu verzichten.
Schule und Heeresdienst werden noch lange arbeiten müssen, um den politischen
Einfluß der Familie zu überwinden. Übergangsperioden Pflegen mit Härten
verbunden zu sein, der Lohn aber ist, daß die Zukunft gesichert wird. Nur
von diesem Gesichtspunkte muß man im deutschen Reiche, wo man der Zu¬
kunft fest und sicher entgegenschaut, den durch die Sonderverhältnisse not¬
wendigen Sonderrechtszustand von Elsaß-Lothringen beurteile». Es ist uicht
gut, wenn von außen zuviel daran gerührt wird. Verfolgt die Regierung bei
ihrem Vorgehen den Grundsatz?ortikvr in ro, srmviwr in moäo, wie dies die
jüngste Ermäßigung des im allgemeinen aufrecht erhaltenen Paßzwanges be¬
zeugt, so können ihre Schritte nur gebilligt werden.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/115>, abgerufen am 25.07.2024.