Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.Die Germanisirung in Glsajz-Lothringen Es muß jedoch anerkannt werden, daß der Charakter der reichsländischen Der Hilfe der Reichsgesetzgebung bedarf die Negierung zum Erlaß von Die bessern Gesellschaftsklassen haben sich, wenige Ausnahmen abgerechnet, Die Germanisirung in Glsajz-Lothringen Es muß jedoch anerkannt werden, daß der Charakter der reichsländischen Der Hilfe der Reichsgesetzgebung bedarf die Negierung zum Erlaß von Die bessern Gesellschaftsklassen haben sich, wenige Ausnahmen abgerechnet, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0108" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208045"/> <fw type="header" place="top"> Die Germanisirung in Glsajz-Lothringen</fw><lb/> <p xml:id="ID_284"> Es muß jedoch anerkannt werden, daß der Charakter der reichsländischen<lb/> Bevölkerung keineswegs zu politischen Ausschreitungen neigt. Eine Unruhe<lb/> im vergangnen Herbst bei der Nekrnteneinstellung in Alttirch, an der franzö¬<lb/> sischen Grenze gegen Belfort gelegen, verlief durchaus harmlos und wurde nnr<lb/> von ausländischen Zeitungen aufgebauscht. Bei dem Arbeiterausstand, der in<lb/> diesem Frühjahr im Oberelsaß stattfand, haben in Mülhausen eine Woche hin¬<lb/> durch zwanzig- bis dreißigtausend Arbeiter gefeiert, ohne daß irgend eine größere<lb/> Ausschreitung vorgekommen wäre. Die Arbeiter leisteten den Anordnungen der<lb/> Polizeibehörde unbedingt Folge, selbst als man ihnen untersagte, sich auf den<lb/> Straßen anzusammeln oder in Reihen durch die Stadt zu marschiren. Daß<lb/> diese Behutsamkeit nicht etwa lediglich auf die Furcht vor einem Eingreifen<lb/> des Militärs zurückzuführen ist, beweisen die Aufstände in Thann und Seuu-<lb/> heim, wohin erst später Truppen zur Aufrechterhaltung der Ordnung abgesandt<lb/> wurden. Auch hier ist keine nennenswerte Ausschreitung zu verzeichnen. Dem<lb/> Kreisdirektor von Forbach ist es weit besser und leichter gelungen, die streikenden<lb/> Bergwerksleute von Rosheim wieder an die Arbeit zu bringen, als seinem<lb/> preußischen Kollegen in Westfalen. Der Grund dieses Verhaltens liegt, ab¬<lb/> gesehen von dem friedfertigen Charakter der Bevölkerung, darin, daß man dem<lb/> Kaiser und seinen Beamten Vertrauen entgegenbrachte und den Anforderungen<lb/> der Fabrikherren gegenüber von ihnen Schutz hoffte. Dies bedeutet aber<lb/> einen Fortschritt im Vergleich zu der französischen Zeit, wo der Arbeiter auch<lb/> den öffentlichen Organen mit Mißtrauen begegnete.</p><lb/> <p xml:id="ID_285"> Der Hilfe der Reichsgesetzgebung bedarf die Negierung zum Erlaß von<lb/> Ausnahmemaßregcln gewöhnlich nicht; hierzu ist in dem Diktaturparagraphen,<lb/> der jedoch in den letzten Jahren nicht mehr zur Anwendung gekommen ist,<lb/> sowie in den dehnbaren, aus der Zeit vor der französischen Revolution her¬<lb/> rührenden Polizeigesctzen die erforderliche Rechtsgrundlage gegeben.</p><lb/> <p xml:id="ID_286" next="#ID_287"> Die bessern Gesellschaftsklassen haben sich, wenige Ausnahmen abgerechnet,<lb/> von politischen Kundgebungen ferngehalten. Aber sind sie für die deutsche<lb/> Sache gewonnen worden, oder sind sie ihr auch nur näher getreten? Im<lb/> Landesausschuß wie im Reichstag ist behauptet worden, daß in Elsaß-Lothringen<lb/> die Ruhe des Kirchhofs herrsche. Es giebt nichts Übertriebeneres, als diese<lb/> Ansicht; denn im Lande blühen Handel und Industrie, Ackerbau und Weiu-<lb/> kultnr, und überall regt sich eine frohe Schaffenskraft. Der Etat weist er¬<lb/> freuliche Ergebnisse auf, sodaß es nicht an Mitteln zu Aufbesserungen fehlt.<lb/> Wäre die polizeiliche Knechtung so stark, wie man fabelt, so würde eine der¬<lb/> artige Kraftentwicklung nicht möglich gewesen sei,?. Straßburg, unter franzö-<lb/> sischer Herrschaft eine vernachlässigte Provinzialmittelstndt, ist seit dem Jahre<lb/> 1870 zu einer prächtigen und geschmackvollen Großstadt herangewachsen. Die<lb/> engen Festungsmauern, die die Altstadt einschlossen, sind gefallen, und eine<lb/> vornehme Neustadt mit monumentalen Prachtbauten, der Universität, der</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0108]
Die Germanisirung in Glsajz-Lothringen
Es muß jedoch anerkannt werden, daß der Charakter der reichsländischen
Bevölkerung keineswegs zu politischen Ausschreitungen neigt. Eine Unruhe
im vergangnen Herbst bei der Nekrnteneinstellung in Alttirch, an der franzö¬
sischen Grenze gegen Belfort gelegen, verlief durchaus harmlos und wurde nnr
von ausländischen Zeitungen aufgebauscht. Bei dem Arbeiterausstand, der in
diesem Frühjahr im Oberelsaß stattfand, haben in Mülhausen eine Woche hin¬
durch zwanzig- bis dreißigtausend Arbeiter gefeiert, ohne daß irgend eine größere
Ausschreitung vorgekommen wäre. Die Arbeiter leisteten den Anordnungen der
Polizeibehörde unbedingt Folge, selbst als man ihnen untersagte, sich auf den
Straßen anzusammeln oder in Reihen durch die Stadt zu marschiren. Daß
diese Behutsamkeit nicht etwa lediglich auf die Furcht vor einem Eingreifen
des Militärs zurückzuführen ist, beweisen die Aufstände in Thann und Seuu-
heim, wohin erst später Truppen zur Aufrechterhaltung der Ordnung abgesandt
wurden. Auch hier ist keine nennenswerte Ausschreitung zu verzeichnen. Dem
Kreisdirektor von Forbach ist es weit besser und leichter gelungen, die streikenden
Bergwerksleute von Rosheim wieder an die Arbeit zu bringen, als seinem
preußischen Kollegen in Westfalen. Der Grund dieses Verhaltens liegt, ab¬
gesehen von dem friedfertigen Charakter der Bevölkerung, darin, daß man dem
Kaiser und seinen Beamten Vertrauen entgegenbrachte und den Anforderungen
der Fabrikherren gegenüber von ihnen Schutz hoffte. Dies bedeutet aber
einen Fortschritt im Vergleich zu der französischen Zeit, wo der Arbeiter auch
den öffentlichen Organen mit Mißtrauen begegnete.
Der Hilfe der Reichsgesetzgebung bedarf die Negierung zum Erlaß von
Ausnahmemaßregcln gewöhnlich nicht; hierzu ist in dem Diktaturparagraphen,
der jedoch in den letzten Jahren nicht mehr zur Anwendung gekommen ist,
sowie in den dehnbaren, aus der Zeit vor der französischen Revolution her¬
rührenden Polizeigesctzen die erforderliche Rechtsgrundlage gegeben.
Die bessern Gesellschaftsklassen haben sich, wenige Ausnahmen abgerechnet,
von politischen Kundgebungen ferngehalten. Aber sind sie für die deutsche
Sache gewonnen worden, oder sind sie ihr auch nur näher getreten? Im
Landesausschuß wie im Reichstag ist behauptet worden, daß in Elsaß-Lothringen
die Ruhe des Kirchhofs herrsche. Es giebt nichts Übertriebeneres, als diese
Ansicht; denn im Lande blühen Handel und Industrie, Ackerbau und Weiu-
kultnr, und überall regt sich eine frohe Schaffenskraft. Der Etat weist er¬
freuliche Ergebnisse auf, sodaß es nicht an Mitteln zu Aufbesserungen fehlt.
Wäre die polizeiliche Knechtung so stark, wie man fabelt, so würde eine der¬
artige Kraftentwicklung nicht möglich gewesen sei,?. Straßburg, unter franzö-
sischer Herrschaft eine vernachlässigte Provinzialmittelstndt, ist seit dem Jahre
1870 zu einer prächtigen und geschmackvollen Großstadt herangewachsen. Die
engen Festungsmauern, die die Altstadt einschlossen, sind gefallen, und eine
vornehme Neustadt mit monumentalen Prachtbauten, der Universität, der
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