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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Aus dem Wiener Theaterleben

dichter kann gegenwärtig für sein Werk bestenfalls nur noch ans sechs oder
sieben deutsche Bühnen in ganz Österreich rechnen. Dadurch hörte Wien auf,
der Mittelpunkt des dramatischen Lebens vou Deutschland zu werden, den es
etwa bis zum Rücktritt Laubes vom Burgtheater unbestritten bildete. Aber es
traten dann noch andre unglückliche Zufälle hinzu, um selbst dieses beschränkte
Theaterleben zu schädigen. Dem "volkswirtschaftlichen Aufschwünge" folgte
der "Krach." Das Stadttheater und das Niugtheater wurden ein Raub der
Flammen und konnten nicht wieder aufgebaut werden. Dazu kamen noch Ver¬
luste von Talenten unter den Schauspielern, Maugel an neuen Kräften, Mangel
an guten Bühnenleitern, Mangel an guten Volksstückeu, denn die Operette
hatte die Herrschaft nu sich gerissen. "Die vollständige Verwüstung des Wiener
Erdreichs zeigt sich schlagend darin, daß im Spieljahr 1887 auf 1388 an den
fünf Wiener Bühnen bloß siebzehn Neuheiten zur Darstellung gelangten, dar¬
unter sechs Stücke, die Wiener Gewächs waren -- Operetten. Kein andres
dramatisches Werk ward hier geschaffen! Selbst die Possen der Josephstadt:
"Wien bleibt Wien" und "Peter Zapfl" sind nur lotalisirte Berliner Arbeiten.
Und unter unsern Augen vollzieht sich die Umwandlung des Wiener Stadt¬
theaters in ein Tingeltangel, in das Etablissement Ronacher. Wien ist zu
dieser Zeit in Theaterdingen bankrott. Im Jahre 1876 hatte die Wiener
Zensnrbehörde 478 Stücke zu erledigen. Im Jahre 1886 keine fünfzig. Im
Jahre 1880 gab es noch 2811 Theatervorstellungen in Wien, im Jahre 1884
nur noch 1800. Aber die Vvlkssängergesellschafteu, deren es im Jahre 1876
bloß dreißig gab, siud auf mehr als siebzig gediehen, und der Polizeibericht
von 1885 weist 19000 Vvlkssängerprvdnktionen aus."

Beiläufig: diese Kritik mit Hilfe von Zahlen -- eine statistische, aber auch
trockene Methode -- ist charakteristisch für Müllers Buch. Da nichts beredter
ist als Zahlen, erhält auch seine Kritik überzeugende Kraft. Die nackten That¬
sachen sollen mehr für seine Urteile sprechen als alle ästhetischen Auseinander¬
setzungen. Einen bekannten Vorwurf gegen Wilbraudts Leitung des Burg¬
theaters , daß er nämlich seine eignen Stücke gar zu oft im eignen Hause habe
spielen lassen, begründet Müller in folgender Weise: "Daß Wilbrandt sich
selbst zu oft ausgeführt habe, ist vielfach gesagt worden. Dieser Bvrwurf ist
freilich auch gegen Laube geschleudert worden, und vielleicht noch heftiger als
gegen Wilbrandt. Thatsache ist folgendes: Wilbrandt wurde von 1870 bis
An seinem Rücktritt von der Direktion, also in siebzehn Jahren, 330mal im
^urgtheater aufgeführt, Laube von 1847 bis zu demselben Tage, also in
herzig Jahren, bloß 296mal -- und er war achtzehn Jahre Direktor." Die
Auffindung und Berechnung dieser Zahlen mag Müller viel Arbeit gemacht
haben; aber gar so belastend sür Wilbrandt als Direktor wollen sie uns doch
undt erscheinen, weil nicht die Zahl der Auffllhrungeu herausgehoben worden
'se, die Wilbraudts Stücke unter Wilbrandts Direktion erlebt haben. Müllers


Aus dem Wiener Theaterleben

dichter kann gegenwärtig für sein Werk bestenfalls nur noch ans sechs oder
sieben deutsche Bühnen in ganz Österreich rechnen. Dadurch hörte Wien auf,
der Mittelpunkt des dramatischen Lebens vou Deutschland zu werden, den es
etwa bis zum Rücktritt Laubes vom Burgtheater unbestritten bildete. Aber es
traten dann noch andre unglückliche Zufälle hinzu, um selbst dieses beschränkte
Theaterleben zu schädigen. Dem „volkswirtschaftlichen Aufschwünge" folgte
der „Krach." Das Stadttheater und das Niugtheater wurden ein Raub der
Flammen und konnten nicht wieder aufgebaut werden. Dazu kamen noch Ver¬
luste von Talenten unter den Schauspielern, Maugel an neuen Kräften, Mangel
an guten Bühnenleitern, Mangel an guten Volksstückeu, denn die Operette
hatte die Herrschaft nu sich gerissen. „Die vollständige Verwüstung des Wiener
Erdreichs zeigt sich schlagend darin, daß im Spieljahr 1887 auf 1388 an den
fünf Wiener Bühnen bloß siebzehn Neuheiten zur Darstellung gelangten, dar¬
unter sechs Stücke, die Wiener Gewächs waren — Operetten. Kein andres
dramatisches Werk ward hier geschaffen! Selbst die Possen der Josephstadt:
„Wien bleibt Wien" und „Peter Zapfl" sind nur lotalisirte Berliner Arbeiten.
Und unter unsern Augen vollzieht sich die Umwandlung des Wiener Stadt¬
theaters in ein Tingeltangel, in das Etablissement Ronacher. Wien ist zu
dieser Zeit in Theaterdingen bankrott. Im Jahre 1876 hatte die Wiener
Zensnrbehörde 478 Stücke zu erledigen. Im Jahre 1886 keine fünfzig. Im
Jahre 1880 gab es noch 2811 Theatervorstellungen in Wien, im Jahre 1884
nur noch 1800. Aber die Vvlkssängergesellschafteu, deren es im Jahre 1876
bloß dreißig gab, siud auf mehr als siebzig gediehen, und der Polizeibericht
von 1885 weist 19000 Vvlkssängerprvdnktionen aus."

Beiläufig: diese Kritik mit Hilfe von Zahlen — eine statistische, aber auch
trockene Methode — ist charakteristisch für Müllers Buch. Da nichts beredter
ist als Zahlen, erhält auch seine Kritik überzeugende Kraft. Die nackten That¬
sachen sollen mehr für seine Urteile sprechen als alle ästhetischen Auseinander¬
setzungen. Einen bekannten Vorwurf gegen Wilbraudts Leitung des Burg¬
theaters , daß er nämlich seine eignen Stücke gar zu oft im eignen Hause habe
spielen lassen, begründet Müller in folgender Weise: „Daß Wilbrandt sich
selbst zu oft ausgeführt habe, ist vielfach gesagt worden. Dieser Bvrwurf ist
freilich auch gegen Laube geschleudert worden, und vielleicht noch heftiger als
gegen Wilbrandt. Thatsache ist folgendes: Wilbrandt wurde von 1870 bis
An seinem Rücktritt von der Direktion, also in siebzehn Jahren, 330mal im
^urgtheater aufgeführt, Laube von 1847 bis zu demselben Tage, also in
herzig Jahren, bloß 296mal — und er war achtzehn Jahre Direktor." Die
Auffindung und Berechnung dieser Zahlen mag Müller viel Arbeit gemacht
haben; aber gar so belastend sür Wilbrandt als Direktor wollen sie uns doch
undt erscheinen, weil nicht die Zahl der Auffllhrungeu herausgehoben worden
'se, die Wilbraudts Stücke unter Wilbrandts Direktion erlebt haben. Müllers


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/95>, abgerufen am 25.08.2024.