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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Aus dein U)ienor Ti^eaterlel'en

Operette Millöckers: "Der arme Jounthan," füllte aber den größern Teil
seiner Abende durch Gäste ans, zuerst mit Frau Wilbrandt, dann mit den
"Münchnern," Gegenwärtig ist die Lage die: es hat sich gezeigt, daß die
alte Theaterlust der Wiener Bevölkerung nichts weniger als erloschen ist. Im
Gegenteil: sie ist gestiegen. Was den Aufschwung des Volkssängertums und
der Tingeltangel mehr oder weniger vornehmer Art förderte, war nicht die
Roheit des Publikums, sondern teils der Mangel guter Bühnen, teils die
viel zu teuer" Preise der Plätze in den vorhandenen Häusern, teils anch der
Mangel an Stücken, die das Publikum wirklich hätten fesseln können. Wie
immer auch die Leitung des Volkstheaters beschaffen sein mag: schon durch
seine bescheiden bürgerlichen Preise und durch die Aufführung neuerer, vom
Burgtheater nicht gespielter Stücke hat es dem Theatergeiste Wiens einen
mächtigen Aufschwung gegeben. So groß ist die Thenterlust geworden, das;
sich schon eine neue Gesellschaft zur Gründung eines neuen Volksthenters an
einem andern Orte der großen Stadt gebildet hat, und daß die öffentliche
Stimmung diesen Gedanken mit wärmster Teilnahme und mit der größten
Zuversicht begrüßt. Es unterliegt keinem Zweifel, daß sich die Wiener im
letzten Jahrzehnt optimistischer gestaltet haben, und es häugt wohl auch mit
der allgemeinen Besserung ihrer Lage zusammen. Die Regierung, die der
Reichshauptstadt bisher wenig Sympathien entgegenbrachte (Wien ist deutsch!),
hat endlich much begonnen, sich ihrer anzunehmen, der Kaiser hat die Beseitigung
der Liuienwälle versprochen, man verhandelt im Reichsrat über den Ersatz der
damit wegfallenden Verzehruugssteiier, man wird bald zu Ende sein mit den
Debatten, und dann erwartet mau einen Aufschwung des Baugewerbes, weil
die bisher brachliegenden Bauplätze verwertet und bebaut werde" können --
kurz, die Stimmung ist mit Recht hoffnungsvoll, und da empfängt man auch
die neuen Theaterbanpläne mit Zustimmung.

Darum kommt Müllers kritische Broschüre zur richtigem Zeit. Sie ist
teils historisch, teils polemisch. Sie giebt vornehmlich eine Übersicht über die
Leistungen und Wandlungen der Wiener Theater in den letzten fünf Jahren.
Wenn man irgendwo aus der Geschichte Lehre" ziehe" tan", so ist es ans der
Theatergeschichte.

Müller ".'eist zunächst nach, daß durch die Verschiebung der allgemeinen
politischen Verhältnisse Wien in der That die Führung des deutschen Theaters
an Berlin hat abtreten müssen. Die Ausscheidung Wiens aus der politischen Ein¬
heit der deutschen Nation mußte auf die Theaterzustäude ebenso zurückwirken, wie
ans alle andern Künste. Nicht genug aber damit, hat das Wiener Theater auch
durch die zunehmende Slawisirung der österreichischen Provinzen einen schweren
Schaden erlitten: es ist ihm das mächtige Hinterland entrissen worden. Die
deutschen Schauspieler Wiens mußten ihre einträglichen Gastspiele in der
österreichischen Heimat selbst immer "lehr beschränken. Der Wiener Theater-


Aus dein U)ienor Ti^eaterlel'en

Operette Millöckers: „Der arme Jounthan," füllte aber den größern Teil
seiner Abende durch Gäste ans, zuerst mit Frau Wilbrandt, dann mit den
„Münchnern," Gegenwärtig ist die Lage die: es hat sich gezeigt, daß die
alte Theaterlust der Wiener Bevölkerung nichts weniger als erloschen ist. Im
Gegenteil: sie ist gestiegen. Was den Aufschwung des Volkssängertums und
der Tingeltangel mehr oder weniger vornehmer Art förderte, war nicht die
Roheit des Publikums, sondern teils der Mangel guter Bühnen, teils die
viel zu teuer» Preise der Plätze in den vorhandenen Häusern, teils anch der
Mangel an Stücken, die das Publikum wirklich hätten fesseln können. Wie
immer auch die Leitung des Volkstheaters beschaffen sein mag: schon durch
seine bescheiden bürgerlichen Preise und durch die Aufführung neuerer, vom
Burgtheater nicht gespielter Stücke hat es dem Theatergeiste Wiens einen
mächtigen Aufschwung gegeben. So groß ist die Thenterlust geworden, das;
sich schon eine neue Gesellschaft zur Gründung eines neuen Volksthenters an
einem andern Orte der großen Stadt gebildet hat, und daß die öffentliche
Stimmung diesen Gedanken mit wärmster Teilnahme und mit der größten
Zuversicht begrüßt. Es unterliegt keinem Zweifel, daß sich die Wiener im
letzten Jahrzehnt optimistischer gestaltet haben, und es häugt wohl auch mit
der allgemeinen Besserung ihrer Lage zusammen. Die Regierung, die der
Reichshauptstadt bisher wenig Sympathien entgegenbrachte (Wien ist deutsch!),
hat endlich much begonnen, sich ihrer anzunehmen, der Kaiser hat die Beseitigung
der Liuienwälle versprochen, man verhandelt im Reichsrat über den Ersatz der
damit wegfallenden Verzehruugssteiier, man wird bald zu Ende sein mit den
Debatten, und dann erwartet mau einen Aufschwung des Baugewerbes, weil
die bisher brachliegenden Bauplätze verwertet und bebaut werde» können —
kurz, die Stimmung ist mit Recht hoffnungsvoll, und da empfängt man auch
die neuen Theaterbanpläne mit Zustimmung.

Darum kommt Müllers kritische Broschüre zur richtigem Zeit. Sie ist
teils historisch, teils polemisch. Sie giebt vornehmlich eine Übersicht über die
Leistungen und Wandlungen der Wiener Theater in den letzten fünf Jahren.
Wenn man irgendwo aus der Geschichte Lehre» ziehe» tan», so ist es ans der
Theatergeschichte.

Müller ».'eist zunächst nach, daß durch die Verschiebung der allgemeinen
politischen Verhältnisse Wien in der That die Führung des deutschen Theaters
an Berlin hat abtreten müssen. Die Ausscheidung Wiens aus der politischen Ein¬
heit der deutschen Nation mußte auf die Theaterzustäude ebenso zurückwirken, wie
ans alle andern Künste. Nicht genug aber damit, hat das Wiener Theater auch
durch die zunehmende Slawisirung der österreichischen Provinzen einen schweren
Schaden erlitten: es ist ihm das mächtige Hinterland entrissen worden. Die
deutschen Schauspieler Wiens mußten ihre einträglichen Gastspiele in der
österreichischen Heimat selbst immer »lehr beschränken. Der Wiener Theater-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/94>, abgerufen am 25.08.2024.