Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die soziale Frage

alles erfahren könne", was jeder von ihnen zu wissen nützlich ist: den Bedarf
an Meistern, Gehilfen und Lehrlingen jedes Gewerkes an jedem Orte; den
Stand der Nachfrage nach gewissen Waren ans den verschiednen Handelsplätzen,
die besten Bezugsquellen für Rohstoffe, die neuen Erfindungen, den Modewechsel
"ut vieles andre. Es wird sich noch fragen, ob nicht ein dezentrnlisirter
Nachrichtendienst vorteilhafter sei in der Weise, daß den verschiednen Innungen
eine Anzahl verschiedner Stellen bezeichnet werden, an denen sie über verschiedne
Gegenstände oder Länder zuverlässige Auskunft erlangen können; jedenfalls
aber werden wir mit dieser Einrichtung! einer Organisation der Arbeit näher
kommen, die nichts Kommunistisches an sich hat; und damit wird wieder eine
der Fallen geschlossen sein, in denen bisher die Kleinem gefangen wurden zur
Bereicherung der Großen.

Wir sahen: durch bessere Verteilung der Bevölkerung über das Laud, die
ein guter und natürlicher Geschmack nicht wenig fördern würde, durch erfolg¬
reiche Kolonisation, durch die Anwendung richtiger nationalökonomischer Begriffe
im Erwerbsleben könnten die meisten der Übel, die wir mit dem Ausdrucke
"soziale Frage" meinen, geheilt werden. Eine solche Heilung würde sehr all¬
mählich und geräuschlos vor sich gehen, würde sehr lange dauern und setzt
die Mitwirkung der Mehrzahl der Volksgenossen voraus. Aber n>er eine andre
Heilung erwartet, eine plötzliche Wunderkur, der kennt weder das Menschenleben
noch die Natur. Der Leibnizische Satz, daß sich alle großartigen Veründernngen
im unendlich kleinen ereignen, gilt für den Gesellschaftskörper so gut wie für
die Sonnen und Planeten und für den Tier- oder Menschenleib. Jedermann
weiß heilte, daß es nicht der Arzt ist, der da heilt, sondern die Natur; daß
der Arzt den Heilungsprozeß nnr leiten und überwachen, vielleicht hie und
da den ersten Anstoß dazu geben kann. Ist in einer Krankheit die Natur¬
heilkraft unsers Leibes zu schwach, oder, um uns modern-U'issenschastlich aus¬
zudrücken, lassen sich unsre guten Mikroben von deu bösen auffressen, weil sie
zu schwach und zu wenig zahlreich sind, nur ihre Geguer zu verdauen, so ists
um uns geschehen, lind überwogen im Körper des deutschen Volkes die
schlechten Elemente, womit Nur nicht die Sozialdemokraten meinen, sondern die
bösartigen, schwachen, kranken, thörichten Menschen aller Stände nud Parteien,
so könnte uns kein Kaiser und kein Papst, kein Diktator und kein Reformator
helfen. An der Lebenskraft des deutscheu Volkes zu zweifeln und seine wirt-
schaftlichen Gebrechen für unheilbar zu halten, das wäre jedoch Thorheit und
Verbrechen. Der Heilungsprozeß wird also eintreten, oder vielmehr er ist schon
eingetreten. Natürlich weisen wir die Beihilfe des Arztes nicht zurück. Wie
wir uus die Mitwirkung von Staat und Kirche denken, soll später einmal
gezeigt werden.




Die soziale Frage

alles erfahren könne», was jeder von ihnen zu wissen nützlich ist: den Bedarf
an Meistern, Gehilfen und Lehrlingen jedes Gewerkes an jedem Orte; den
Stand der Nachfrage nach gewissen Waren ans den verschiednen Handelsplätzen,
die besten Bezugsquellen für Rohstoffe, die neuen Erfindungen, den Modewechsel
»ut vieles andre. Es wird sich noch fragen, ob nicht ein dezentrnlisirter
Nachrichtendienst vorteilhafter sei in der Weise, daß den verschiednen Innungen
eine Anzahl verschiedner Stellen bezeichnet werden, an denen sie über verschiedne
Gegenstände oder Länder zuverlässige Auskunft erlangen können; jedenfalls
aber werden wir mit dieser Einrichtung! einer Organisation der Arbeit näher
kommen, die nichts Kommunistisches an sich hat; und damit wird wieder eine
der Fallen geschlossen sein, in denen bisher die Kleinem gefangen wurden zur
Bereicherung der Großen.

Wir sahen: durch bessere Verteilung der Bevölkerung über das Laud, die
ein guter und natürlicher Geschmack nicht wenig fördern würde, durch erfolg¬
reiche Kolonisation, durch die Anwendung richtiger nationalökonomischer Begriffe
im Erwerbsleben könnten die meisten der Übel, die wir mit dem Ausdrucke
„soziale Frage" meinen, geheilt werden. Eine solche Heilung würde sehr all¬
mählich und geräuschlos vor sich gehen, würde sehr lange dauern und setzt
die Mitwirkung der Mehrzahl der Volksgenossen voraus. Aber n>er eine andre
Heilung erwartet, eine plötzliche Wunderkur, der kennt weder das Menschenleben
noch die Natur. Der Leibnizische Satz, daß sich alle großartigen Veründernngen
im unendlich kleinen ereignen, gilt für den Gesellschaftskörper so gut wie für
die Sonnen und Planeten und für den Tier- oder Menschenleib. Jedermann
weiß heilte, daß es nicht der Arzt ist, der da heilt, sondern die Natur; daß
der Arzt den Heilungsprozeß nnr leiten und überwachen, vielleicht hie und
da den ersten Anstoß dazu geben kann. Ist in einer Krankheit die Natur¬
heilkraft unsers Leibes zu schwach, oder, um uns modern-U'issenschastlich aus¬
zudrücken, lassen sich unsre guten Mikroben von deu bösen auffressen, weil sie
zu schwach und zu wenig zahlreich sind, nur ihre Geguer zu verdauen, so ists
um uns geschehen, lind überwogen im Körper des deutschen Volkes die
schlechten Elemente, womit Nur nicht die Sozialdemokraten meinen, sondern die
bösartigen, schwachen, kranken, thörichten Menschen aller Stände nud Parteien,
so könnte uns kein Kaiser und kein Papst, kein Diktator und kein Reformator
helfen. An der Lebenskraft des deutscheu Volkes zu zweifeln und seine wirt-
schaftlichen Gebrechen für unheilbar zu halten, das wäre jedoch Thorheit und
Verbrechen. Der Heilungsprozeß wird also eintreten, oder vielmehr er ist schon
eingetreten. Natürlich weisen wir die Beihilfe des Arztes nicht zurück. Wie
wir uus die Mitwirkung von Staat und Kirche denken, soll später einmal
gezeigt werden.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0611" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/207906"/>
            <fw type="header" place="top"> Die soziale Frage</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1688" prev="#ID_1687"> alles erfahren könne», was jeder von ihnen zu wissen nützlich ist: den Bedarf<lb/>
an Meistern, Gehilfen und Lehrlingen jedes Gewerkes an jedem Orte; den<lb/>
Stand der Nachfrage nach gewissen Waren ans den verschiednen Handelsplätzen,<lb/>
die besten Bezugsquellen für Rohstoffe, die neuen Erfindungen, den Modewechsel<lb/>
»ut vieles andre. Es wird sich noch fragen, ob nicht ein dezentrnlisirter<lb/>
Nachrichtendienst vorteilhafter sei in der Weise, daß den verschiednen Innungen<lb/>
eine Anzahl verschiedner Stellen bezeichnet werden, an denen sie über verschiedne<lb/>
Gegenstände oder Länder zuverlässige Auskunft erlangen können; jedenfalls<lb/>
aber werden wir mit dieser Einrichtung! einer Organisation der Arbeit näher<lb/>
kommen, die nichts Kommunistisches an sich hat; und damit wird wieder eine<lb/>
der Fallen geschlossen sein, in denen bisher die Kleinem gefangen wurden zur<lb/>
Bereicherung der Großen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1689"> Wir sahen: durch bessere Verteilung der Bevölkerung über das Laud, die<lb/>
ein guter und natürlicher Geschmack nicht wenig fördern würde, durch erfolg¬<lb/>
reiche Kolonisation, durch die Anwendung richtiger nationalökonomischer Begriffe<lb/>
im Erwerbsleben könnten die meisten der Übel, die wir mit dem Ausdrucke<lb/>
&#x201E;soziale Frage" meinen, geheilt werden. Eine solche Heilung würde sehr all¬<lb/>
mählich und geräuschlos vor sich gehen, würde sehr lange dauern und setzt<lb/>
die Mitwirkung der Mehrzahl der Volksgenossen voraus. Aber n&gt;er eine andre<lb/>
Heilung erwartet, eine plötzliche Wunderkur, der kennt weder das Menschenleben<lb/>
noch die Natur. Der Leibnizische Satz, daß sich alle großartigen Veründernngen<lb/>
im unendlich kleinen ereignen, gilt für den Gesellschaftskörper so gut wie für<lb/>
die Sonnen und Planeten und für den Tier- oder Menschenleib. Jedermann<lb/>
weiß heilte, daß es nicht der Arzt ist, der da heilt, sondern die Natur; daß<lb/>
der Arzt den Heilungsprozeß nnr leiten und überwachen, vielleicht hie und<lb/>
da den ersten Anstoß dazu geben kann. Ist in einer Krankheit die Natur¬<lb/>
heilkraft unsers Leibes zu schwach, oder, um uns modern-U'issenschastlich aus¬<lb/>
zudrücken, lassen sich unsre guten Mikroben von deu bösen auffressen, weil sie<lb/>
zu schwach und zu wenig zahlreich sind, nur ihre Geguer zu verdauen, so ists<lb/>
um uns geschehen, lind überwogen im Körper des deutschen Volkes die<lb/>
schlechten Elemente, womit Nur nicht die Sozialdemokraten meinen, sondern die<lb/>
bösartigen, schwachen, kranken, thörichten Menschen aller Stände nud Parteien,<lb/>
so könnte uns kein Kaiser und kein Papst, kein Diktator und kein Reformator<lb/>
helfen. An der Lebenskraft des deutscheu Volkes zu zweifeln und seine wirt-<lb/>
schaftlichen Gebrechen für unheilbar zu halten, das wäre jedoch Thorheit und<lb/>
Verbrechen. Der Heilungsprozeß wird also eintreten, oder vielmehr er ist schon<lb/>
eingetreten. Natürlich weisen wir die Beihilfe des Arztes nicht zurück. Wie<lb/>
wir uus die Mitwirkung von Staat und Kirche denken, soll später einmal<lb/>
gezeigt werden.</p><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0611] Die soziale Frage alles erfahren könne», was jeder von ihnen zu wissen nützlich ist: den Bedarf an Meistern, Gehilfen und Lehrlingen jedes Gewerkes an jedem Orte; den Stand der Nachfrage nach gewissen Waren ans den verschiednen Handelsplätzen, die besten Bezugsquellen für Rohstoffe, die neuen Erfindungen, den Modewechsel »ut vieles andre. Es wird sich noch fragen, ob nicht ein dezentrnlisirter Nachrichtendienst vorteilhafter sei in der Weise, daß den verschiednen Innungen eine Anzahl verschiedner Stellen bezeichnet werden, an denen sie über verschiedne Gegenstände oder Länder zuverlässige Auskunft erlangen können; jedenfalls aber werden wir mit dieser Einrichtung! einer Organisation der Arbeit näher kommen, die nichts Kommunistisches an sich hat; und damit wird wieder eine der Fallen geschlossen sein, in denen bisher die Kleinem gefangen wurden zur Bereicherung der Großen. Wir sahen: durch bessere Verteilung der Bevölkerung über das Laud, die ein guter und natürlicher Geschmack nicht wenig fördern würde, durch erfolg¬ reiche Kolonisation, durch die Anwendung richtiger nationalökonomischer Begriffe im Erwerbsleben könnten die meisten der Übel, die wir mit dem Ausdrucke „soziale Frage" meinen, geheilt werden. Eine solche Heilung würde sehr all¬ mählich und geräuschlos vor sich gehen, würde sehr lange dauern und setzt die Mitwirkung der Mehrzahl der Volksgenossen voraus. Aber n>er eine andre Heilung erwartet, eine plötzliche Wunderkur, der kennt weder das Menschenleben noch die Natur. Der Leibnizische Satz, daß sich alle großartigen Veründernngen im unendlich kleinen ereignen, gilt für den Gesellschaftskörper so gut wie für die Sonnen und Planeten und für den Tier- oder Menschenleib. Jedermann weiß heilte, daß es nicht der Arzt ist, der da heilt, sondern die Natur; daß der Arzt den Heilungsprozeß nnr leiten und überwachen, vielleicht hie und da den ersten Anstoß dazu geben kann. Ist in einer Krankheit die Natur¬ heilkraft unsers Leibes zu schwach, oder, um uns modern-U'issenschastlich aus¬ zudrücken, lassen sich unsre guten Mikroben von deu bösen auffressen, weil sie zu schwach und zu wenig zahlreich sind, nur ihre Geguer zu verdauen, so ists um uns geschehen, lind überwogen im Körper des deutschen Volkes die schlechten Elemente, womit Nur nicht die Sozialdemokraten meinen, sondern die bösartigen, schwachen, kranken, thörichten Menschen aller Stände nud Parteien, so könnte uns kein Kaiser und kein Papst, kein Diktator und kein Reformator helfen. An der Lebenskraft des deutscheu Volkes zu zweifeln und seine wirt- schaftlichen Gebrechen für unheilbar zu halten, das wäre jedoch Thorheit und Verbrechen. Der Heilungsprozeß wird also eintreten, oder vielmehr er ist schon eingetreten. Natürlich weisen wir die Beihilfe des Arztes nicht zurück. Wie wir uus die Mitwirkung von Staat und Kirche denken, soll später einmal gezeigt werden.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/611
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/611>, abgerufen am 22.07.2024.