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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Die soziale Frage

Gutsbesitzer rechnet eben, was ihn jede Stunde kostet, während deren die
menschliche Maschine feiert. Wird sie zu schnell abgenützt, so hat er ja die
neue uicht anzuschaffen, da sie sich ihm umsonst anbietet. Erst seit Erlaß des
Gesetzes über Invaliden- und Altersversicherung hat er ein Interesse daran,
der allzuschnellen Abnutzung vorzubeugen. Dabei ist fast überall an die Stelle
des Deputats der Geldlohn getreten. Früher wurde nur ein Geringes an
Gelde gezahlt, dafür aber ohne Rücksicht auf hohe und niedrige Preise so viel
um Körnern, Kartoffeln, Milch, Butter, Schweinemast geliefert, als die Familie
zum Leben brauchte. Heute bekommen die Leute den ortsüblichen Tagelohn;
ob der zum Leben hinreicht, darum kümmert sich kein Mensch.

Gewiß wird die Selbstsucht immer, auch in Deutschland, die mächtigste
aller Triebfedern bleiben, und im allgemeinen gedeiht ja auch alles um besten,
wenn jeder sich um seine eignen Sachen kümmert, seinen eignen Nutzen fördert
und, sich störender Einmischung enthaltend, die übrigen für sich selber und
Gott für alle sorgen läßt. Und auch das ist richtig, daß edle Absichten oft
genng nnr Vorwande der Selbstsucht sind. Als die Großindustriellen billige
Arbeitskräfte brauchten, wurden sie feurige Liberale, schwärmten für die Be¬
freiung des an die Scholle gebundenen Menschen und setzten die Freizügigkeit
dnrch. Die Gutsbesitzer aber, die so eiues Teils ihrer Arbeiter beraubt worden
sind, fühlen jetzt plötzlich tiefes Mitleid mit den heimatlos gewordenen, und
möchten gern jeden mit einem Gütchen beschenken, wenn nur der Staat oder
sonst jemand das Land dazu hergäbe. Wir lassen uns das bißchen Heuchelei
gern gefallen. Auch diese Heuchelei ist nnr eine der Tugend dargebrachte
Huldigung. Zudem ist sie gar nicht reine Heuchelei, sondern es ist ihr viel
Tilgend beigemischt. Denn es giebt unter den industriellen Liberalen genng,
die die Freiheit aufrichtig lieben, und genng Gutsbesitzer, denen es Herzens¬
sache ist, für Erhaltung oder Wiederherstellung eines seßhaften, christlichen,
sittsamen und glücklichen Tagelöhnerstandes zu sorgen. Jeder pflegt eben die
Tilgenden, die am besten zu seiner Lage passen und die seinem Nutzen am
wenigsten im Wege stehen. Die Selbstsucht ist much in diesem Falle so wenig
ein Übel, wie irgend einer der einzelnen Naturtriebe, die in ihr zusammen¬
fließen; nur hat sie die Schranken zu achten, die ihr dnrch Mitgefühl, Pflicht
und Gewissen gezogen werden. Diese Schranken niedergerissen und die Allein¬
berechtigung der zügellosen Selbstsucht zum volkswirtschaftlichen Dogma gestempelt
zu haben, ist die schlimmste nnter den Verschuldungen der englischen Schule.'

Nicht allein die Auffassung der Arbeit lind die Behandlung des Arbeiters
wurde von dieser Selbstsuchtslehre in unheilvoller Weise beeinflußt, sondern
auch der Begriff der Produktion und diese selbst. Smith erklärt bekanntlich
jede Einmischung des Staates und andrer Obrigkeiten in die Produktion, die
ganz dem freien Spiel der Kräfte, d. h. der selbstsüchtigen Individuen über¬
lassen bleiben müsse, für verderblich. In der Anwendung dieses Grundsatzes


Die soziale Frage

Gutsbesitzer rechnet eben, was ihn jede Stunde kostet, während deren die
menschliche Maschine feiert. Wird sie zu schnell abgenützt, so hat er ja die
neue uicht anzuschaffen, da sie sich ihm umsonst anbietet. Erst seit Erlaß des
Gesetzes über Invaliden- und Altersversicherung hat er ein Interesse daran,
der allzuschnellen Abnutzung vorzubeugen. Dabei ist fast überall an die Stelle
des Deputats der Geldlohn getreten. Früher wurde nur ein Geringes an
Gelde gezahlt, dafür aber ohne Rücksicht auf hohe und niedrige Preise so viel
um Körnern, Kartoffeln, Milch, Butter, Schweinemast geliefert, als die Familie
zum Leben brauchte. Heute bekommen die Leute den ortsüblichen Tagelohn;
ob der zum Leben hinreicht, darum kümmert sich kein Mensch.

Gewiß wird die Selbstsucht immer, auch in Deutschland, die mächtigste
aller Triebfedern bleiben, und im allgemeinen gedeiht ja auch alles um besten,
wenn jeder sich um seine eignen Sachen kümmert, seinen eignen Nutzen fördert
und, sich störender Einmischung enthaltend, die übrigen für sich selber und
Gott für alle sorgen läßt. Und auch das ist richtig, daß edle Absichten oft
genng nnr Vorwande der Selbstsucht sind. Als die Großindustriellen billige
Arbeitskräfte brauchten, wurden sie feurige Liberale, schwärmten für die Be¬
freiung des an die Scholle gebundenen Menschen und setzten die Freizügigkeit
dnrch. Die Gutsbesitzer aber, die so eiues Teils ihrer Arbeiter beraubt worden
sind, fühlen jetzt plötzlich tiefes Mitleid mit den heimatlos gewordenen, und
möchten gern jeden mit einem Gütchen beschenken, wenn nur der Staat oder
sonst jemand das Land dazu hergäbe. Wir lassen uns das bißchen Heuchelei
gern gefallen. Auch diese Heuchelei ist nnr eine der Tugend dargebrachte
Huldigung. Zudem ist sie gar nicht reine Heuchelei, sondern es ist ihr viel
Tilgend beigemischt. Denn es giebt unter den industriellen Liberalen genng,
die die Freiheit aufrichtig lieben, und genng Gutsbesitzer, denen es Herzens¬
sache ist, für Erhaltung oder Wiederherstellung eines seßhaften, christlichen,
sittsamen und glücklichen Tagelöhnerstandes zu sorgen. Jeder pflegt eben die
Tilgenden, die am besten zu seiner Lage passen und die seinem Nutzen am
wenigsten im Wege stehen. Die Selbstsucht ist much in diesem Falle so wenig
ein Übel, wie irgend einer der einzelnen Naturtriebe, die in ihr zusammen¬
fließen; nur hat sie die Schranken zu achten, die ihr dnrch Mitgefühl, Pflicht
und Gewissen gezogen werden. Diese Schranken niedergerissen und die Allein¬
berechtigung der zügellosen Selbstsucht zum volkswirtschaftlichen Dogma gestempelt
zu haben, ist die schlimmste nnter den Verschuldungen der englischen Schule.'

Nicht allein die Auffassung der Arbeit lind die Behandlung des Arbeiters
wurde von dieser Selbstsuchtslehre in unheilvoller Weise beeinflußt, sondern
auch der Begriff der Produktion und diese selbst. Smith erklärt bekanntlich
jede Einmischung des Staates und andrer Obrigkeiten in die Produktion, die
ganz dem freien Spiel der Kräfte, d. h. der selbstsüchtigen Individuen über¬
lassen bleiben müsse, für verderblich. In der Anwendung dieses Grundsatzes


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[0607] Die soziale Frage Gutsbesitzer rechnet eben, was ihn jede Stunde kostet, während deren die menschliche Maschine feiert. Wird sie zu schnell abgenützt, so hat er ja die neue uicht anzuschaffen, da sie sich ihm umsonst anbietet. Erst seit Erlaß des Gesetzes über Invaliden- und Altersversicherung hat er ein Interesse daran, der allzuschnellen Abnutzung vorzubeugen. Dabei ist fast überall an die Stelle des Deputats der Geldlohn getreten. Früher wurde nur ein Geringes an Gelde gezahlt, dafür aber ohne Rücksicht auf hohe und niedrige Preise so viel um Körnern, Kartoffeln, Milch, Butter, Schweinemast geliefert, als die Familie zum Leben brauchte. Heute bekommen die Leute den ortsüblichen Tagelohn; ob der zum Leben hinreicht, darum kümmert sich kein Mensch. Gewiß wird die Selbstsucht immer, auch in Deutschland, die mächtigste aller Triebfedern bleiben, und im allgemeinen gedeiht ja auch alles um besten, wenn jeder sich um seine eignen Sachen kümmert, seinen eignen Nutzen fördert und, sich störender Einmischung enthaltend, die übrigen für sich selber und Gott für alle sorgen läßt. Und auch das ist richtig, daß edle Absichten oft genng nnr Vorwande der Selbstsucht sind. Als die Großindustriellen billige Arbeitskräfte brauchten, wurden sie feurige Liberale, schwärmten für die Be¬ freiung des an die Scholle gebundenen Menschen und setzten die Freizügigkeit dnrch. Die Gutsbesitzer aber, die so eiues Teils ihrer Arbeiter beraubt worden sind, fühlen jetzt plötzlich tiefes Mitleid mit den heimatlos gewordenen, und möchten gern jeden mit einem Gütchen beschenken, wenn nur der Staat oder sonst jemand das Land dazu hergäbe. Wir lassen uns das bißchen Heuchelei gern gefallen. Auch diese Heuchelei ist nnr eine der Tugend dargebrachte Huldigung. Zudem ist sie gar nicht reine Heuchelei, sondern es ist ihr viel Tilgend beigemischt. Denn es giebt unter den industriellen Liberalen genng, die die Freiheit aufrichtig lieben, und genng Gutsbesitzer, denen es Herzens¬ sache ist, für Erhaltung oder Wiederherstellung eines seßhaften, christlichen, sittsamen und glücklichen Tagelöhnerstandes zu sorgen. Jeder pflegt eben die Tilgenden, die am besten zu seiner Lage passen und die seinem Nutzen am wenigsten im Wege stehen. Die Selbstsucht ist much in diesem Falle so wenig ein Übel, wie irgend einer der einzelnen Naturtriebe, die in ihr zusammen¬ fließen; nur hat sie die Schranken zu achten, die ihr dnrch Mitgefühl, Pflicht und Gewissen gezogen werden. Diese Schranken niedergerissen und die Allein¬ berechtigung der zügellosen Selbstsucht zum volkswirtschaftlichen Dogma gestempelt zu haben, ist die schlimmste nnter den Verschuldungen der englischen Schule.' Nicht allein die Auffassung der Arbeit lind die Behandlung des Arbeiters wurde von dieser Selbstsuchtslehre in unheilvoller Weise beeinflußt, sondern auch der Begriff der Produktion und diese selbst. Smith erklärt bekanntlich jede Einmischung des Staates und andrer Obrigkeiten in die Produktion, die ganz dem freien Spiel der Kräfte, d. h. der selbstsüchtigen Individuen über¬ lassen bleiben müsse, für verderblich. In der Anwendung dieses Grundsatzes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/607>, abgerufen am 03.07.2024.