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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Zur Reform der Freiheitsstrafe

höchsten auf das von ihnen verübte Verbrechen gesetzten Strafe verurteilt und
dann einer Anstalt überwiesen, die berechtigt ist, sie bei guter Führung nach
einer gewissen Zeit aus immer oder auf Widerruf zu entlassen oder auch sie
je nach ihrer Führung aus der Durchschnittsmasse der Gefangenen in die be¬
vorzugte erste Klasse oder in die Strafklasse zu versetzen. Die erste Klasse
lebt allerdings frei, geht gut gekleidet, hat feines Mittag- und Abendessen,
erhält eine eigne Zeitung geschrieben, hat eine reiche Bibliothek mit belehrenden
und zerstreuenden Werken zur Verfügung, Hort abends Konzerte oder Vor¬
trage an und genießt Unterricht von den Elementarfächern bis zur Rechts¬
wissenschaft, Nationalökonomie, Politik und Philosophie. In einer solchen
Anstalt dürfen die Gefangenen auch Klubs bilden. Ob solche Anstalten, in
denen sogar eine gewisse Krankheit, die bei Männern, die auf sich allein an¬
gewiesen sind, nicht vorkommen kann, häufig beobachtet wird, eine nachahmens¬
werte Einrichtung sind, mag billig dahingestellt bleiben. Möge man immerhin
das System der jetzt schon zulässigen vorläufigen bedingten Entlassung aus
der Strafhaft noch weiter entwickeln, aber weiter soll man nicht gehen, um
wenigsten die von Liszt umgeschlagene unbestimmte Verurteilung einführen.
Diese würde eine Ungleichheit in der Bestrafung herbeiführen; denn wenn ein
Gesetzesübertreter etwa mit sechs Wochen Haft richtig bestraft worden wäre,
ein andrer mit anderthalb Jahren, so könnte der erste, der eine leichtere That
begangen hat, 1 Jahr 46 Wochen, der andre nnr 26 Wochen über die eigent¬
liche Strafdauer hinaus im Gefängnis behalten werden. Es würde auch das
Gefühl der ungerechten Behandlung bei dem Sträfling erzeugt werden, dn jeder
Verurteilte der Ansicht sein würde, daß das ihm zuerkannte geringste Maß der
Strafe das ihm angemessene Strafübel sei, er also jeden Tag der Verlängerung
seiner Haft als eine ungerechte Härte empfinden würde. Nimmt man noch
hinzu, daß die Strafvollziehiuigsbehörde auch nach recht subjektiven Gründen
einen Gefangenen für gebessert halten kann, da die gute Führung in der Straf¬
anstalt häufig gerade eine Eigenschaft der Gewvhnheitsverbrecher ist, so wird
auch dies ein derartiges Gefühl ungerechter Behandlung bei den nicht ent¬
lassenen Sträflingen hervorrufen. Die erste und wichtigste Bedingung der
Heilsamkeit aller Strafe ist aber die, daß sie als gerecht empfunden werde.

Ein wahres Wort zur rechten Zeit möchte man Wachs Schriftchen nennen.
Möge es viele Leser finden und sein Inhalt beherzigt werden!




Grenzboten II 189072
Zur Reform der Freiheitsstrafe

höchsten auf das von ihnen verübte Verbrechen gesetzten Strafe verurteilt und
dann einer Anstalt überwiesen, die berechtigt ist, sie bei guter Führung nach
einer gewissen Zeit aus immer oder auf Widerruf zu entlassen oder auch sie
je nach ihrer Führung aus der Durchschnittsmasse der Gefangenen in die be¬
vorzugte erste Klasse oder in die Strafklasse zu versetzen. Die erste Klasse
lebt allerdings frei, geht gut gekleidet, hat feines Mittag- und Abendessen,
erhält eine eigne Zeitung geschrieben, hat eine reiche Bibliothek mit belehrenden
und zerstreuenden Werken zur Verfügung, Hort abends Konzerte oder Vor¬
trage an und genießt Unterricht von den Elementarfächern bis zur Rechts¬
wissenschaft, Nationalökonomie, Politik und Philosophie. In einer solchen
Anstalt dürfen die Gefangenen auch Klubs bilden. Ob solche Anstalten, in
denen sogar eine gewisse Krankheit, die bei Männern, die auf sich allein an¬
gewiesen sind, nicht vorkommen kann, häufig beobachtet wird, eine nachahmens¬
werte Einrichtung sind, mag billig dahingestellt bleiben. Möge man immerhin
das System der jetzt schon zulässigen vorläufigen bedingten Entlassung aus
der Strafhaft noch weiter entwickeln, aber weiter soll man nicht gehen, um
wenigsten die von Liszt umgeschlagene unbestimmte Verurteilung einführen.
Diese würde eine Ungleichheit in der Bestrafung herbeiführen; denn wenn ein
Gesetzesübertreter etwa mit sechs Wochen Haft richtig bestraft worden wäre,
ein andrer mit anderthalb Jahren, so könnte der erste, der eine leichtere That
begangen hat, 1 Jahr 46 Wochen, der andre nnr 26 Wochen über die eigent¬
liche Strafdauer hinaus im Gefängnis behalten werden. Es würde auch das
Gefühl der ungerechten Behandlung bei dem Sträfling erzeugt werden, dn jeder
Verurteilte der Ansicht sein würde, daß das ihm zuerkannte geringste Maß der
Strafe das ihm angemessene Strafübel sei, er also jeden Tag der Verlängerung
seiner Haft als eine ungerechte Härte empfinden würde. Nimmt man noch
hinzu, daß die Strafvollziehiuigsbehörde auch nach recht subjektiven Gründen
einen Gefangenen für gebessert halten kann, da die gute Führung in der Straf¬
anstalt häufig gerade eine Eigenschaft der Gewvhnheitsverbrecher ist, so wird
auch dies ein derartiges Gefühl ungerechter Behandlung bei den nicht ent¬
lassenen Sträflingen hervorrufen. Die erste und wichtigste Bedingung der
Heilsamkeit aller Strafe ist aber die, daß sie als gerecht empfunden werde.

Ein wahres Wort zur rechten Zeit möchte man Wachs Schriftchen nennen.
Möge es viele Leser finden und sein Inhalt beherzigt werden!




Grenzboten II 189072
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[0577] Zur Reform der Freiheitsstrafe höchsten auf das von ihnen verübte Verbrechen gesetzten Strafe verurteilt und dann einer Anstalt überwiesen, die berechtigt ist, sie bei guter Führung nach einer gewissen Zeit aus immer oder auf Widerruf zu entlassen oder auch sie je nach ihrer Führung aus der Durchschnittsmasse der Gefangenen in die be¬ vorzugte erste Klasse oder in die Strafklasse zu versetzen. Die erste Klasse lebt allerdings frei, geht gut gekleidet, hat feines Mittag- und Abendessen, erhält eine eigne Zeitung geschrieben, hat eine reiche Bibliothek mit belehrenden und zerstreuenden Werken zur Verfügung, Hort abends Konzerte oder Vor¬ trage an und genießt Unterricht von den Elementarfächern bis zur Rechts¬ wissenschaft, Nationalökonomie, Politik und Philosophie. In einer solchen Anstalt dürfen die Gefangenen auch Klubs bilden. Ob solche Anstalten, in denen sogar eine gewisse Krankheit, die bei Männern, die auf sich allein an¬ gewiesen sind, nicht vorkommen kann, häufig beobachtet wird, eine nachahmens¬ werte Einrichtung sind, mag billig dahingestellt bleiben. Möge man immerhin das System der jetzt schon zulässigen vorläufigen bedingten Entlassung aus der Strafhaft noch weiter entwickeln, aber weiter soll man nicht gehen, um wenigsten die von Liszt umgeschlagene unbestimmte Verurteilung einführen. Diese würde eine Ungleichheit in der Bestrafung herbeiführen; denn wenn ein Gesetzesübertreter etwa mit sechs Wochen Haft richtig bestraft worden wäre, ein andrer mit anderthalb Jahren, so könnte der erste, der eine leichtere That begangen hat, 1 Jahr 46 Wochen, der andre nnr 26 Wochen über die eigent¬ liche Strafdauer hinaus im Gefängnis behalten werden. Es würde auch das Gefühl der ungerechten Behandlung bei dem Sträfling erzeugt werden, dn jeder Verurteilte der Ansicht sein würde, daß das ihm zuerkannte geringste Maß der Strafe das ihm angemessene Strafübel sei, er also jeden Tag der Verlängerung seiner Haft als eine ungerechte Härte empfinden würde. Nimmt man noch hinzu, daß die Strafvollziehiuigsbehörde auch nach recht subjektiven Gründen einen Gefangenen für gebessert halten kann, da die gute Führung in der Straf¬ anstalt häufig gerade eine Eigenschaft der Gewvhnheitsverbrecher ist, so wird auch dies ein derartiges Gefühl ungerechter Behandlung bei den nicht ent¬ lassenen Sträflingen hervorrufen. Die erste und wichtigste Bedingung der Heilsamkeit aller Strafe ist aber die, daß sie als gerecht empfunden werde. Ein wahres Wort zur rechten Zeit möchte man Wachs Schriftchen nennen. Möge es viele Leser finden und sein Inhalt beherzigt werden! Grenzboten II 189072

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/577>, abgerufen am 22.07.2024.