Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die soziale Frage

unbekannte unwirtliche Fernen, und namentlich unsre nördlichen Gegenden,
die Pflegstätten des höchsten Geisteslebens, würden immer unbewohnt geblieben
sein. Eben darum aber, weil das Gesetz richtig ist, muß man anch seinen
Sinn beachten, und sobald der Bevölkerungszuwachs, den Gleichgewichtspunkt
überschreitend, schädlich zu wirken beginnt, die Pflicht der Erweiterung des
Wohnraums ins Ange fassen. Die Kolonialpolitik ist demnach einfach Er¬
füllung einer nationalen Pflicht und einer Pflicht der Menschlichkeit.

Bei der Stellung unsrer frühern Opposition zur Kvlvuialsrage muß mau
unterscheiden zwischen der grundsätzlichen Auffassung und der Kritik dessen, was
in der Sache bereits geschehen ist. In der Beurteilung dessen, was die ver-
schiednen Kolonialgesellschaften und die Neichsbehörden gethan und unterlassen
haben, kann man verschiedner Meinung sein, aber die grundsätzliche Gegner¬
schaft ist unverzeihlich. Beim Zentrum ist sie nicht schroff hervorgetreten; so
weit sie vorhanden war, entsprang sie wohl nur der Abneigung gegen alles,
was möglicherweise zur Stärkung der Negierung beitragen könnte, bei einigen
frommen Schwärmern vielleicht anch einem gewissen Konkurrenzneide, indem
sie allen sozialen Schäden mit den Hilfsmitteln der katholischen Kirche abzu¬
helfen gedenken, uneingedenk der Thatsache, daß diese Kirche, wenn sie die Macht
und den Willen besäße, zu helfen, zur Zeit ihrer Alleinherrschaft die sozialen
Übel gar nicht erst hätte aufkommen lassen. Die Sozialdemokraten und die
Freisinnigen haben das gemeinsam, daß sie samt ihren Theorien auf dem
städtischen Pflaster aufgewachsen sind, und daß sie an die physische, sittliche
nud ästhetische Bedeutung und Notwendigkeit von Grund und Boden gar nicht
zu denken pflegen. Außerdem ist jede dieser Parteien in eine Schrulle verrannt.
Die Sozialdemokraten bilden sich ein, daß alles Unglück nur von der falschen
Verteilung der Gitter herkomme; ob aber die Güter bei anderweitiger Verteilung
zureichen würden und wo die fehlenden hergenommen werden sollen, danach
fragen sie nicht. Die Freisinnigen aber können sich über die vor mehr als
hundert Jahren vou Adam Smith entdeckte Wunderkraft der Arbeitsteilung
immer noch nicht beruhigen. Sie geraten in Entzücken bei dein Gedanken, daß
mit Hilfe der Maschine an einem Tage hundert- oder tausendmal so viel Strümpfe
gewirkt werden können, als vor hundert Jahren, und über diesem Entzücken
vergessen sie nachzusehen, ob für die mehr fabrizirten hundert Millionen Paar
Strümpfe auch Beine vorhanden find, ob die Menschen, die diese Strümpfe
wirken, satt zu essen haben, und ob nicht vielleicht denselben Menschen, die
viele Millionen höchst überflüssiger Strümpfe wirken, das Geld fehlt, die
Strümpfe zu kaufen, die sie selbst brauche". Diese Herren predigen unablässig,
daß es gleichgiltig sei, ob wir unsre Waren selbst produziren oder ans dem
Auslande beziehen, vorausgesetzt nur, daß wir jede dort kaufen, wo sie am
billigste" ist. Dabei ist ihnen eine Ware so viel wert wie die andre: ob wir
Hemdknöpfchen, Strümpfe, Roggen, Lokomotiven, Streichhölzchen oder Pferde


Die soziale Frage

unbekannte unwirtliche Fernen, und namentlich unsre nördlichen Gegenden,
die Pflegstätten des höchsten Geisteslebens, würden immer unbewohnt geblieben
sein. Eben darum aber, weil das Gesetz richtig ist, muß man anch seinen
Sinn beachten, und sobald der Bevölkerungszuwachs, den Gleichgewichtspunkt
überschreitend, schädlich zu wirken beginnt, die Pflicht der Erweiterung des
Wohnraums ins Ange fassen. Die Kolonialpolitik ist demnach einfach Er¬
füllung einer nationalen Pflicht und einer Pflicht der Menschlichkeit.

Bei der Stellung unsrer frühern Opposition zur Kvlvuialsrage muß mau
unterscheiden zwischen der grundsätzlichen Auffassung und der Kritik dessen, was
in der Sache bereits geschehen ist. In der Beurteilung dessen, was die ver-
schiednen Kolonialgesellschaften und die Neichsbehörden gethan und unterlassen
haben, kann man verschiedner Meinung sein, aber die grundsätzliche Gegner¬
schaft ist unverzeihlich. Beim Zentrum ist sie nicht schroff hervorgetreten; so
weit sie vorhanden war, entsprang sie wohl nur der Abneigung gegen alles,
was möglicherweise zur Stärkung der Negierung beitragen könnte, bei einigen
frommen Schwärmern vielleicht anch einem gewissen Konkurrenzneide, indem
sie allen sozialen Schäden mit den Hilfsmitteln der katholischen Kirche abzu¬
helfen gedenken, uneingedenk der Thatsache, daß diese Kirche, wenn sie die Macht
und den Willen besäße, zu helfen, zur Zeit ihrer Alleinherrschaft die sozialen
Übel gar nicht erst hätte aufkommen lassen. Die Sozialdemokraten und die
Freisinnigen haben das gemeinsam, daß sie samt ihren Theorien auf dem
städtischen Pflaster aufgewachsen sind, und daß sie an die physische, sittliche
nud ästhetische Bedeutung und Notwendigkeit von Grund und Boden gar nicht
zu denken pflegen. Außerdem ist jede dieser Parteien in eine Schrulle verrannt.
Die Sozialdemokraten bilden sich ein, daß alles Unglück nur von der falschen
Verteilung der Gitter herkomme; ob aber die Güter bei anderweitiger Verteilung
zureichen würden und wo die fehlenden hergenommen werden sollen, danach
fragen sie nicht. Die Freisinnigen aber können sich über die vor mehr als
hundert Jahren vou Adam Smith entdeckte Wunderkraft der Arbeitsteilung
immer noch nicht beruhigen. Sie geraten in Entzücken bei dein Gedanken, daß
mit Hilfe der Maschine an einem Tage hundert- oder tausendmal so viel Strümpfe
gewirkt werden können, als vor hundert Jahren, und über diesem Entzücken
vergessen sie nachzusehen, ob für die mehr fabrizirten hundert Millionen Paar
Strümpfe auch Beine vorhanden find, ob die Menschen, die diese Strümpfe
wirken, satt zu essen haben, und ob nicht vielleicht denselben Menschen, die
viele Millionen höchst überflüssiger Strümpfe wirken, das Geld fehlt, die
Strümpfe zu kaufen, die sie selbst brauche». Diese Herren predigen unablässig,
daß es gleichgiltig sei, ob wir unsre Waren selbst produziren oder ans dem
Auslande beziehen, vorausgesetzt nur, daß wir jede dort kaufen, wo sie am
billigste» ist. Dabei ist ihnen eine Ware so viel wert wie die andre: ob wir
Hemdknöpfchen, Strümpfe, Roggen, Lokomotiven, Streichhölzchen oder Pferde


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0550" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/207845"/>
            <fw type="header" place="top"> Die soziale Frage</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1522" prev="#ID_1521"> unbekannte unwirtliche Fernen, und namentlich unsre nördlichen Gegenden,<lb/>
die Pflegstätten des höchsten Geisteslebens, würden immer unbewohnt geblieben<lb/>
sein. Eben darum aber, weil das Gesetz richtig ist, muß man anch seinen<lb/>
Sinn beachten, und sobald der Bevölkerungszuwachs, den Gleichgewichtspunkt<lb/>
überschreitend, schädlich zu wirken beginnt, die Pflicht der Erweiterung des<lb/>
Wohnraums ins Ange fassen. Die Kolonialpolitik ist demnach einfach Er¬<lb/>
füllung einer nationalen Pflicht und einer Pflicht der Menschlichkeit.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1523" next="#ID_1524"> Bei der Stellung unsrer frühern Opposition zur Kvlvuialsrage muß mau<lb/>
unterscheiden zwischen der grundsätzlichen Auffassung und der Kritik dessen, was<lb/>
in der Sache bereits geschehen ist. In der Beurteilung dessen, was die ver-<lb/>
schiednen Kolonialgesellschaften und die Neichsbehörden gethan und unterlassen<lb/>
haben, kann man verschiedner Meinung sein, aber die grundsätzliche Gegner¬<lb/>
schaft ist unverzeihlich. Beim Zentrum ist sie nicht schroff hervorgetreten; so<lb/>
weit sie vorhanden war, entsprang sie wohl nur der Abneigung gegen alles,<lb/>
was möglicherweise zur Stärkung der Negierung beitragen könnte, bei einigen<lb/>
frommen Schwärmern vielleicht anch einem gewissen Konkurrenzneide, indem<lb/>
sie allen sozialen Schäden mit den Hilfsmitteln der katholischen Kirche abzu¬<lb/>
helfen gedenken, uneingedenk der Thatsache, daß diese Kirche, wenn sie die Macht<lb/>
und den Willen besäße, zu helfen, zur Zeit ihrer Alleinherrschaft die sozialen<lb/>
Übel gar nicht erst hätte aufkommen lassen. Die Sozialdemokraten und die<lb/>
Freisinnigen haben das gemeinsam, daß sie samt ihren Theorien auf dem<lb/>
städtischen Pflaster aufgewachsen sind, und daß sie an die physische, sittliche<lb/>
nud ästhetische Bedeutung und Notwendigkeit von Grund und Boden gar nicht<lb/>
zu denken pflegen. Außerdem ist jede dieser Parteien in eine Schrulle verrannt.<lb/>
Die Sozialdemokraten bilden sich ein, daß alles Unglück nur von der falschen<lb/>
Verteilung der Gitter herkomme; ob aber die Güter bei anderweitiger Verteilung<lb/>
zureichen würden und wo die fehlenden hergenommen werden sollen, danach<lb/>
fragen sie nicht. Die Freisinnigen aber können sich über die vor mehr als<lb/>
hundert Jahren vou Adam Smith entdeckte Wunderkraft der Arbeitsteilung<lb/>
immer noch nicht beruhigen. Sie geraten in Entzücken bei dein Gedanken, daß<lb/>
mit Hilfe der Maschine an einem Tage hundert- oder tausendmal so viel Strümpfe<lb/>
gewirkt werden können, als vor hundert Jahren, und über diesem Entzücken<lb/>
vergessen sie nachzusehen, ob für die mehr fabrizirten hundert Millionen Paar<lb/>
Strümpfe auch Beine vorhanden find, ob die Menschen, die diese Strümpfe<lb/>
wirken, satt zu essen haben, und ob nicht vielleicht denselben Menschen, die<lb/>
viele Millionen höchst überflüssiger Strümpfe wirken, das Geld fehlt, die<lb/>
Strümpfe zu kaufen, die sie selbst brauche». Diese Herren predigen unablässig,<lb/>
daß es gleichgiltig sei, ob wir unsre Waren selbst produziren oder ans dem<lb/>
Auslande beziehen, vorausgesetzt nur, daß wir jede dort kaufen, wo sie am<lb/>
billigste» ist. Dabei ist ihnen eine Ware so viel wert wie die andre: ob wir<lb/>
Hemdknöpfchen, Strümpfe, Roggen, Lokomotiven, Streichhölzchen oder Pferde</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0550] Die soziale Frage unbekannte unwirtliche Fernen, und namentlich unsre nördlichen Gegenden, die Pflegstätten des höchsten Geisteslebens, würden immer unbewohnt geblieben sein. Eben darum aber, weil das Gesetz richtig ist, muß man anch seinen Sinn beachten, und sobald der Bevölkerungszuwachs, den Gleichgewichtspunkt überschreitend, schädlich zu wirken beginnt, die Pflicht der Erweiterung des Wohnraums ins Ange fassen. Die Kolonialpolitik ist demnach einfach Er¬ füllung einer nationalen Pflicht und einer Pflicht der Menschlichkeit. Bei der Stellung unsrer frühern Opposition zur Kvlvuialsrage muß mau unterscheiden zwischen der grundsätzlichen Auffassung und der Kritik dessen, was in der Sache bereits geschehen ist. In der Beurteilung dessen, was die ver- schiednen Kolonialgesellschaften und die Neichsbehörden gethan und unterlassen haben, kann man verschiedner Meinung sein, aber die grundsätzliche Gegner¬ schaft ist unverzeihlich. Beim Zentrum ist sie nicht schroff hervorgetreten; so weit sie vorhanden war, entsprang sie wohl nur der Abneigung gegen alles, was möglicherweise zur Stärkung der Negierung beitragen könnte, bei einigen frommen Schwärmern vielleicht anch einem gewissen Konkurrenzneide, indem sie allen sozialen Schäden mit den Hilfsmitteln der katholischen Kirche abzu¬ helfen gedenken, uneingedenk der Thatsache, daß diese Kirche, wenn sie die Macht und den Willen besäße, zu helfen, zur Zeit ihrer Alleinherrschaft die sozialen Übel gar nicht erst hätte aufkommen lassen. Die Sozialdemokraten und die Freisinnigen haben das gemeinsam, daß sie samt ihren Theorien auf dem städtischen Pflaster aufgewachsen sind, und daß sie an die physische, sittliche nud ästhetische Bedeutung und Notwendigkeit von Grund und Boden gar nicht zu denken pflegen. Außerdem ist jede dieser Parteien in eine Schrulle verrannt. Die Sozialdemokraten bilden sich ein, daß alles Unglück nur von der falschen Verteilung der Gitter herkomme; ob aber die Güter bei anderweitiger Verteilung zureichen würden und wo die fehlenden hergenommen werden sollen, danach fragen sie nicht. Die Freisinnigen aber können sich über die vor mehr als hundert Jahren vou Adam Smith entdeckte Wunderkraft der Arbeitsteilung immer noch nicht beruhigen. Sie geraten in Entzücken bei dein Gedanken, daß mit Hilfe der Maschine an einem Tage hundert- oder tausendmal so viel Strümpfe gewirkt werden können, als vor hundert Jahren, und über diesem Entzücken vergessen sie nachzusehen, ob für die mehr fabrizirten hundert Millionen Paar Strümpfe auch Beine vorhanden find, ob die Menschen, die diese Strümpfe wirken, satt zu essen haben, und ob nicht vielleicht denselben Menschen, die viele Millionen höchst überflüssiger Strümpfe wirken, das Geld fehlt, die Strümpfe zu kaufen, die sie selbst brauche». Diese Herren predigen unablässig, daß es gleichgiltig sei, ob wir unsre Waren selbst produziren oder ans dem Auslande beziehen, vorausgesetzt nur, daß wir jede dort kaufen, wo sie am billigste» ist. Dabei ist ihnen eine Ware so viel wert wie die andre: ob wir Hemdknöpfchen, Strümpfe, Roggen, Lokomotiven, Streichhölzchen oder Pferde

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/550
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/550>, abgerufen am 22.07.2024.