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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Die soziale Frage

dem Hinweis auf England abzufertigen. Aber die englischen Politiker haben
erst vorm Jahre gar bänglich erwogen, was wohl aus London werden würde,
wenn es einer feindlichen Flotte gelange, die Themse zu sperren. Auch zehrt
England jetzt von dem früher erworbenen Kapital; nie wird die Zeit wieder¬
kehren, wo England und Holland ungestört ihre indischen Reiche gründen
konnten, während die übrigen Staaten Europas ihre Kraft in dynastischen und
Religionskriegen erschöpften, und wo England, in der Benutzung der Dampf¬
maschine allen Ländern voraus, sich diese durch mehrere Jahrzehnte hindurch
tributpflichtig machte. Heute findet sich kein Land mehr in Europa, das wir
ausbeuten könnten, wie die Engländer uns ausgebeutet haben. England,
Frankreich, Österreich, Belgien sind ebenbürtige Konkurrenten, die übrigen
Staaten eifern nach, und bei den Völkern Asiens und Afrikas, die wir mit den
Gaben unsrer Industrie zu beglücken anfangen, dürfen wir auf Jahrhunderte
langen gleichmäßigen Absatz nicht rechnen. Denn die asiatischen Volker besitzen
so, viel technische Bildung, daß sie unsre Erzeugnisse nachmachen können und,
nachdem sie uns die Kunstgriffe abgesehen haben, sich rasch von uns befreien
werden. Die Völker Afrikas aber sind größtenteils bildungsfähig und werden
ebenfalls selbst anfertigen lernen, was sie brauchen; viele unsrer Produkte aber
können sie ihres Klimas wegen teils gar nicht, teils nur in geringer Menge
brauchen; durch ein Übermaß von Kleidungsstücken und Branntwein würden
wir unsre schwarzen Kunden binnen kurzer Zeit umbringen. Endlich aber ist
auch das Vorbild Englands gar nicht verlockend. Der Reichtum der reichen
Engländer ist, wie Lujo Brentano in seiner Geschichte der Gewerkvereine her¬
vorhebt, mit einem entsetzlichen Volkselend erkauft worden. Die Dampfmaschine
für sich allein genügte noch nicht, die industrielle "Blüte" des Landes zu er¬
zeugen; es mußte das Unterbieten der Konkurrenten hinzukommen, und das
war nur möglich durch billige "Hände." Der Zustand dieser "Hände," die
man mit Recht so nannte, weil man die leidige Thatsache, daß an der arbei¬
tenden Hand auch ein Magen, ein Kopf und sogar eine fühlende Seele hängt,
grundsätzlich ignorirte, wurde allmählich derart, daß schon seine bloße Be¬
schreibung Erbrechen erregt. Jahrzehnte hindurch wurde jeder Versuch, auf
dem Wege der Gesetzgebung etwas zum Schutze der Unglücklichen zu thun,
durch die kaltblütige Erklärung der Unternehmer übergeschlagen, sie würden
ehre Fabriken ins Ausland verlegen, wenn man ihnen die "Hände" verteuere.

Das Malthusische Gesetz ist, wenn auch nicht wörtlich, so doch in dem
^nine als richtig anzuerkennen, daß die Menschen sich rascher zu vermehren
Pflegen als die Unterhaltsmittel. Wir halten mit Noscher diese Einrichtung
unsrer irdischen Welt für heilsam und notwendig, weil sie zu Anstrengungen
spornt, den Kulturfortschritt fördert, lind weil ohne sie das göttliche Gebot:
"Erfüllet die Erde!" unerfüllt bleiben würde. Denn wer daheim seineu be¬
quemen Unterhalt findet, der entschließt sich nicht leicht zur Auswanderung in


Die soziale Frage

dem Hinweis auf England abzufertigen. Aber die englischen Politiker haben
erst vorm Jahre gar bänglich erwogen, was wohl aus London werden würde,
wenn es einer feindlichen Flotte gelange, die Themse zu sperren. Auch zehrt
England jetzt von dem früher erworbenen Kapital; nie wird die Zeit wieder¬
kehren, wo England und Holland ungestört ihre indischen Reiche gründen
konnten, während die übrigen Staaten Europas ihre Kraft in dynastischen und
Religionskriegen erschöpften, und wo England, in der Benutzung der Dampf¬
maschine allen Ländern voraus, sich diese durch mehrere Jahrzehnte hindurch
tributpflichtig machte. Heute findet sich kein Land mehr in Europa, das wir
ausbeuten könnten, wie die Engländer uns ausgebeutet haben. England,
Frankreich, Österreich, Belgien sind ebenbürtige Konkurrenten, die übrigen
Staaten eifern nach, und bei den Völkern Asiens und Afrikas, die wir mit den
Gaben unsrer Industrie zu beglücken anfangen, dürfen wir auf Jahrhunderte
langen gleichmäßigen Absatz nicht rechnen. Denn die asiatischen Volker besitzen
so, viel technische Bildung, daß sie unsre Erzeugnisse nachmachen können und,
nachdem sie uns die Kunstgriffe abgesehen haben, sich rasch von uns befreien
werden. Die Völker Afrikas aber sind größtenteils bildungsfähig und werden
ebenfalls selbst anfertigen lernen, was sie brauchen; viele unsrer Produkte aber
können sie ihres Klimas wegen teils gar nicht, teils nur in geringer Menge
brauchen; durch ein Übermaß von Kleidungsstücken und Branntwein würden
wir unsre schwarzen Kunden binnen kurzer Zeit umbringen. Endlich aber ist
auch das Vorbild Englands gar nicht verlockend. Der Reichtum der reichen
Engländer ist, wie Lujo Brentano in seiner Geschichte der Gewerkvereine her¬
vorhebt, mit einem entsetzlichen Volkselend erkauft worden. Die Dampfmaschine
für sich allein genügte noch nicht, die industrielle „Blüte" des Landes zu er¬
zeugen; es mußte das Unterbieten der Konkurrenten hinzukommen, und das
war nur möglich durch billige „Hände." Der Zustand dieser „Hände," die
man mit Recht so nannte, weil man die leidige Thatsache, daß an der arbei¬
tenden Hand auch ein Magen, ein Kopf und sogar eine fühlende Seele hängt,
grundsätzlich ignorirte, wurde allmählich derart, daß schon seine bloße Be¬
schreibung Erbrechen erregt. Jahrzehnte hindurch wurde jeder Versuch, auf
dem Wege der Gesetzgebung etwas zum Schutze der Unglücklichen zu thun,
durch die kaltblütige Erklärung der Unternehmer übergeschlagen, sie würden
ehre Fabriken ins Ausland verlegen, wenn man ihnen die „Hände" verteuere.

Das Malthusische Gesetz ist, wenn auch nicht wörtlich, so doch in dem
^nine als richtig anzuerkennen, daß die Menschen sich rascher zu vermehren
Pflegen als die Unterhaltsmittel. Wir halten mit Noscher diese Einrichtung
unsrer irdischen Welt für heilsam und notwendig, weil sie zu Anstrengungen
spornt, den Kulturfortschritt fördert, lind weil ohne sie das göttliche Gebot:
"Erfüllet die Erde!" unerfüllt bleiben würde. Denn wer daheim seineu be¬
quemen Unterhalt findet, der entschließt sich nicht leicht zur Auswanderung in


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[0549] Die soziale Frage dem Hinweis auf England abzufertigen. Aber die englischen Politiker haben erst vorm Jahre gar bänglich erwogen, was wohl aus London werden würde, wenn es einer feindlichen Flotte gelange, die Themse zu sperren. Auch zehrt England jetzt von dem früher erworbenen Kapital; nie wird die Zeit wieder¬ kehren, wo England und Holland ungestört ihre indischen Reiche gründen konnten, während die übrigen Staaten Europas ihre Kraft in dynastischen und Religionskriegen erschöpften, und wo England, in der Benutzung der Dampf¬ maschine allen Ländern voraus, sich diese durch mehrere Jahrzehnte hindurch tributpflichtig machte. Heute findet sich kein Land mehr in Europa, das wir ausbeuten könnten, wie die Engländer uns ausgebeutet haben. England, Frankreich, Österreich, Belgien sind ebenbürtige Konkurrenten, die übrigen Staaten eifern nach, und bei den Völkern Asiens und Afrikas, die wir mit den Gaben unsrer Industrie zu beglücken anfangen, dürfen wir auf Jahrhunderte langen gleichmäßigen Absatz nicht rechnen. Denn die asiatischen Volker besitzen so, viel technische Bildung, daß sie unsre Erzeugnisse nachmachen können und, nachdem sie uns die Kunstgriffe abgesehen haben, sich rasch von uns befreien werden. Die Völker Afrikas aber sind größtenteils bildungsfähig und werden ebenfalls selbst anfertigen lernen, was sie brauchen; viele unsrer Produkte aber können sie ihres Klimas wegen teils gar nicht, teils nur in geringer Menge brauchen; durch ein Übermaß von Kleidungsstücken und Branntwein würden wir unsre schwarzen Kunden binnen kurzer Zeit umbringen. Endlich aber ist auch das Vorbild Englands gar nicht verlockend. Der Reichtum der reichen Engländer ist, wie Lujo Brentano in seiner Geschichte der Gewerkvereine her¬ vorhebt, mit einem entsetzlichen Volkselend erkauft worden. Die Dampfmaschine für sich allein genügte noch nicht, die industrielle „Blüte" des Landes zu er¬ zeugen; es mußte das Unterbieten der Konkurrenten hinzukommen, und das war nur möglich durch billige „Hände." Der Zustand dieser „Hände," die man mit Recht so nannte, weil man die leidige Thatsache, daß an der arbei¬ tenden Hand auch ein Magen, ein Kopf und sogar eine fühlende Seele hängt, grundsätzlich ignorirte, wurde allmählich derart, daß schon seine bloße Be¬ schreibung Erbrechen erregt. Jahrzehnte hindurch wurde jeder Versuch, auf dem Wege der Gesetzgebung etwas zum Schutze der Unglücklichen zu thun, durch die kaltblütige Erklärung der Unternehmer übergeschlagen, sie würden ehre Fabriken ins Ausland verlegen, wenn man ihnen die „Hände" verteuere. Das Malthusische Gesetz ist, wenn auch nicht wörtlich, so doch in dem ^nine als richtig anzuerkennen, daß die Menschen sich rascher zu vermehren Pflegen als die Unterhaltsmittel. Wir halten mit Noscher diese Einrichtung unsrer irdischen Welt für heilsam und notwendig, weil sie zu Anstrengungen spornt, den Kulturfortschritt fördert, lind weil ohne sie das göttliche Gebot: "Erfüllet die Erde!" unerfüllt bleiben würde. Denn wer daheim seineu be¬ quemen Unterhalt findet, der entschließt sich nicht leicht zur Auswanderung in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/549>, abgerufen am 22.07.2024.