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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Schopenhauer und Richard 2l)agner

suchen an den Kindern" u. s. w.) Durch die denkbar äußerlichste Jdeenkom-
bination, eigentlich einen bloßen srvi8 iur löcztour oder ^ 1'g.uäiwur, nnr daß
die Wirkung, das Gewahrwerden aller dieser in der That an sich sinnreichen
Beziehungen eigentlich und wirklich erst beim stillen, aufmerksamen Lesen zu
Hause, beim Anblick der Noten, ein recht gutes Gedächtnis vorausgesetzt, wirklich
zu stände kommt, so sehr sich auch Wagner selbst gegen das nur zum Lesen
taugliche Kunstwerk, gegen die dichtende ,.Litteratur" empörte. Wir werden,
wenn auch in Tönen, benachrichtigt, "erfahren" also ganz von außen, und
sehen ganz hell, ohne "hellzusehen," was Wotan dort dunkel ahnt, oder was
über ihn hinaus als düstere Wahrheit gelten soll. Die hundertfache und fast
immerwährende Anwendung dieses Prinzips macht es um nichts metaphysischer,
um nichts eigentlich musikalisch ausdruckskräftiger. Nur die Motive selbst,
einzeln genommen, in der Ausdehnung von ein paar Takten, ein paar Tönen
selbst, sind ausdrucksvoll, eine Art von Zusammendrängung und Abkürzung
des Empfinduugsausdruckes, in der Wagner zweifellos einer der größten
Meister war -- als Musiker also groß im Kleinen, mochte der Horizont seiner
Dichtungen noch so weit sein oder scheine". Für die Wirkung, die auf den.
Hörer zu machen sei, bewertet es um aber in der Hauptsache bei dieser Aus¬
druckskraft im Einzelnsten und bei der Hellseherei, die durch die wesentlich eben
nnr benachrichtigende Anwendung der mit einer bestimmten Bedeutung abge¬
stempelten Motive in der jeweilig passenden Anwendung und Aufeinanderfolge
vermeintlich erzielt wird; die musikalische Helligkeit, Durchsichtigkeit, Folgerich¬
tigkeit und der Aufbau, also jegliche Art der Form wurde ihr zu neun Zehnteln,
also überhaupt geopfert. Begleitungsmotive, die eine Zeit lang durchgeführt,
eigentlich nur wiederholt, ja abgehetzt werden (z. B. in der Einleitung zur
Walküre), ein gelegentliches Erwachen der Rezitation zu mehr melodischem
Charakter, zur Not bisweilen eine nicht bloß rhetorische Melodie ändern nichts
an dem Wesen seiner Kompositionsweise; die Motive, bald hier bald da je
nach Anlaß nnftanchend, machten den Hörer ja rückwärts, im vorbereitenden
Sinn auch vorwärts, vor allein nach innen hellsichtig -- was bedürfte es
nun musikalischer Helle und orientirender Festigkeit, wenn nur die angewandten
Musikausdrücke oder Symbole (denn das sind die kurzen Motive im einzelne")
intensiv waren: tief, heftig, nervös, erotisch, hymenäisch, selbst priapisch (denn
das und nichts andres sind sie für jeden, der es hören will, am Ende des
zweiten Walkürenaktes, wo Sieglinde und Siegfried aneinanderstürzen) oder
narkotisch, aufregend, faseinirend, je nachdem! So ward das Schaffen in
großen Formen aufgegeben, denn wäre eine Tetralogie statt zehnmal, auch
hundertmal länger als eine Symphonie, ein Schaffen in großen Ausdehnungen
ist noch kein Schaffen in großen Formen; eines ohne solche oder in losen
Formen in der größten aller musikalischen Ausdehnungen, der Oper, ist, was
man will, je nach der Wahl insbesondre auch der phonetischen und mit Hilfe


Schopenhauer und Richard 2l)agner

suchen an den Kindern" u. s. w.) Durch die denkbar äußerlichste Jdeenkom-
bination, eigentlich einen bloßen srvi8 iur löcztour oder ^ 1'g.uäiwur, nnr daß
die Wirkung, das Gewahrwerden aller dieser in der That an sich sinnreichen
Beziehungen eigentlich und wirklich erst beim stillen, aufmerksamen Lesen zu
Hause, beim Anblick der Noten, ein recht gutes Gedächtnis vorausgesetzt, wirklich
zu stände kommt, so sehr sich auch Wagner selbst gegen das nur zum Lesen
taugliche Kunstwerk, gegen die dichtende ,.Litteratur" empörte. Wir werden,
wenn auch in Tönen, benachrichtigt, „erfahren" also ganz von außen, und
sehen ganz hell, ohne „hellzusehen," was Wotan dort dunkel ahnt, oder was
über ihn hinaus als düstere Wahrheit gelten soll. Die hundertfache und fast
immerwährende Anwendung dieses Prinzips macht es um nichts metaphysischer,
um nichts eigentlich musikalisch ausdruckskräftiger. Nur die Motive selbst,
einzeln genommen, in der Ausdehnung von ein paar Takten, ein paar Tönen
selbst, sind ausdrucksvoll, eine Art von Zusammendrängung und Abkürzung
des Empfinduugsausdruckes, in der Wagner zweifellos einer der größten
Meister war — als Musiker also groß im Kleinen, mochte der Horizont seiner
Dichtungen noch so weit sein oder scheine«. Für die Wirkung, die auf den.
Hörer zu machen sei, bewertet es um aber in der Hauptsache bei dieser Aus¬
druckskraft im Einzelnsten und bei der Hellseherei, die durch die wesentlich eben
nnr benachrichtigende Anwendung der mit einer bestimmten Bedeutung abge¬
stempelten Motive in der jeweilig passenden Anwendung und Aufeinanderfolge
vermeintlich erzielt wird; die musikalische Helligkeit, Durchsichtigkeit, Folgerich¬
tigkeit und der Aufbau, also jegliche Art der Form wurde ihr zu neun Zehnteln,
also überhaupt geopfert. Begleitungsmotive, die eine Zeit lang durchgeführt,
eigentlich nur wiederholt, ja abgehetzt werden (z. B. in der Einleitung zur
Walküre), ein gelegentliches Erwachen der Rezitation zu mehr melodischem
Charakter, zur Not bisweilen eine nicht bloß rhetorische Melodie ändern nichts
an dem Wesen seiner Kompositionsweise; die Motive, bald hier bald da je
nach Anlaß nnftanchend, machten den Hörer ja rückwärts, im vorbereitenden
Sinn auch vorwärts, vor allein nach innen hellsichtig — was bedürfte es
nun musikalischer Helle und orientirender Festigkeit, wenn nur die angewandten
Musikausdrücke oder Symbole (denn das sind die kurzen Motive im einzelne»)
intensiv waren: tief, heftig, nervös, erotisch, hymenäisch, selbst priapisch (denn
das und nichts andres sind sie für jeden, der es hören will, am Ende des
zweiten Walkürenaktes, wo Sieglinde und Siegfried aneinanderstürzen) oder
narkotisch, aufregend, faseinirend, je nachdem! So ward das Schaffen in
großen Formen aufgegeben, denn wäre eine Tetralogie statt zehnmal, auch
hundertmal länger als eine Symphonie, ein Schaffen in großen Ausdehnungen
ist noch kein Schaffen in großen Formen; eines ohne solche oder in losen
Formen in der größten aller musikalischen Ausdehnungen, der Oper, ist, was
man will, je nach der Wahl insbesondre auch der phonetischen und mit Hilfe


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/514>, abgerufen am 22.07.2024.