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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Schopenhauer und Richard Wagner

Photographische Wahrheit, von denen die metaphysische die innerlichste und
tiefste ist, noch innerlicher nämlich, als der Kern der Sache, jenseits dessen
ihre Strahlen erst ein Bild machen, wie jenes verschwommene, das auf der
Netzhaut weitsichtiger Augen entsteht, weil es erst hinter dem Kreuzungspunkt
der vom Gegenstande zum Auge führenden Lichtstrahlen zu stände kommt; die
Photographische ist aber aus guten Gründen die äußerlichste: beide empfehlen
sich dem Publikum heute im Gewände der Kunst, oder die Kunst empfiehlt sich
dem ihr fremd gewordnen Geiste der Zeit im Gewände der angeblichen "Wahr¬
heit." Wagner hüllt sich dazu in den düstern Mantel pessimistisch-meta¬
physischer, zuletzt halb buddhistischer, halb hyperkatholischer Schwärmerei,
und Ibsen duckt sich unter die schäbige Hülle des "beobachtenden" Photo¬
graphen (vgl. E. Groths "Streifzüge durch die französische Litteratur der
Gegenwart," Grenzboten l88", S. 507); des einen Muse sucht das Welt¬
übel, des andern Muse das Schlechte in der Welt, beide übereinstimmend im
Dienste genannter Kakoterpe, an deren Altar die pathetische Unwahrheit und
das unwahre Pathos zuletzt gleich willkommen sind, während Euterpe ihr
Angesicht verhüllt -- beide "übereinstimmend in dem Gedanken des Pessimisten,
daß die Welt etwas ist, das besser uicht wäre. Der Urheber dieses Gedankens,
sofern er in unsrer Zeit in den Köpfen der obern Tausend, wenn es nicht
bloß Hundert sind, nämlich der Denkenden und der Dichtenden, Platz gegriffen
und eine Art Gesamtstimmung erzeugt hat, die natürlich in der Kunst am
ehesten Ausdruck findet, ist bekanntlich Schopenhauer. Er hat uns die Welt
als die platonische Höhle geschildert, in die die Urbilder des Seienden, Wahren,
Ewigen höchstens schwankende Schatten werfen; allenfalls der Künstler vermag
sie soweit festzuhalten, daß er durch seine Phantasie blühende Abbilder von
ihnen in der Form des Schönen, in der Schönheit der Form zu schaffen ver¬
mag, die er nun gleichsam zwischen Welt und Ewigkeit vor uns hinstellt. Es
sei hier gleich bemerkt, daß darnach eigentlich nicht der Musik, sondern der
Plastik und der Malerei der höchste Rang von ihm hätte zugesprochen werden
müssen, denn deren Gebilde sind es, die am ehesten, die einen die Zeit, die
andern den Raum überwinden zu können scheinen. Die Höhle selbst aber blieb
so beschaffen, daß in sie hinein zu wollen, d. h. daß der "Wille zum Leben" schon
sündlich ist. Kinder zur Welt bringen ist an sich keine Sünde (da es nur die
Folge dessen ist, was neun Monate früher geschah), wohl aber Geboreuwerden,
als (vorläufig wenigstens) durchgesetzter Wille zum Leben. Das kommt davon,
daß in der Schopenhancrischen Welt einer schon etwas wollen kann, acht
bloß ehe er etwas ist, sondern ehe er überhaupt ist, und geboren werden zu
wollen, wäre wahrlich, wenn man Ärzte und Frauen fragen wollte, keine
Kleinigkeit; in einem Prozent der Fälle wäre es bekanntlich Mord, und es
verlohnte sich schon, solchen Willen zum Leben Sünde zu nennen, als Folge
von Erbsünde. Diese Vorstellung, die in den Vordergrund zu stellen sogar


Schopenhauer und Richard Wagner

Photographische Wahrheit, von denen die metaphysische die innerlichste und
tiefste ist, noch innerlicher nämlich, als der Kern der Sache, jenseits dessen
ihre Strahlen erst ein Bild machen, wie jenes verschwommene, das auf der
Netzhaut weitsichtiger Augen entsteht, weil es erst hinter dem Kreuzungspunkt
der vom Gegenstande zum Auge führenden Lichtstrahlen zu stände kommt; die
Photographische ist aber aus guten Gründen die äußerlichste: beide empfehlen
sich dem Publikum heute im Gewände der Kunst, oder die Kunst empfiehlt sich
dem ihr fremd gewordnen Geiste der Zeit im Gewände der angeblichen „Wahr¬
heit." Wagner hüllt sich dazu in den düstern Mantel pessimistisch-meta¬
physischer, zuletzt halb buddhistischer, halb hyperkatholischer Schwärmerei,
und Ibsen duckt sich unter die schäbige Hülle des „beobachtenden" Photo¬
graphen (vgl. E. Groths „Streifzüge durch die französische Litteratur der
Gegenwart," Grenzboten l88», S. 507); des einen Muse sucht das Welt¬
übel, des andern Muse das Schlechte in der Welt, beide übereinstimmend im
Dienste genannter Kakoterpe, an deren Altar die pathetische Unwahrheit und
das unwahre Pathos zuletzt gleich willkommen sind, während Euterpe ihr
Angesicht verhüllt — beide "übereinstimmend in dem Gedanken des Pessimisten,
daß die Welt etwas ist, das besser uicht wäre. Der Urheber dieses Gedankens,
sofern er in unsrer Zeit in den Köpfen der obern Tausend, wenn es nicht
bloß Hundert sind, nämlich der Denkenden und der Dichtenden, Platz gegriffen
und eine Art Gesamtstimmung erzeugt hat, die natürlich in der Kunst am
ehesten Ausdruck findet, ist bekanntlich Schopenhauer. Er hat uns die Welt
als die platonische Höhle geschildert, in die die Urbilder des Seienden, Wahren,
Ewigen höchstens schwankende Schatten werfen; allenfalls der Künstler vermag
sie soweit festzuhalten, daß er durch seine Phantasie blühende Abbilder von
ihnen in der Form des Schönen, in der Schönheit der Form zu schaffen ver¬
mag, die er nun gleichsam zwischen Welt und Ewigkeit vor uns hinstellt. Es
sei hier gleich bemerkt, daß darnach eigentlich nicht der Musik, sondern der
Plastik und der Malerei der höchste Rang von ihm hätte zugesprochen werden
müssen, denn deren Gebilde sind es, die am ehesten, die einen die Zeit, die
andern den Raum überwinden zu können scheinen. Die Höhle selbst aber blieb
so beschaffen, daß in sie hinein zu wollen, d. h. daß der „Wille zum Leben" schon
sündlich ist. Kinder zur Welt bringen ist an sich keine Sünde (da es nur die
Folge dessen ist, was neun Monate früher geschah), wohl aber Geboreuwerden,
als (vorläufig wenigstens) durchgesetzter Wille zum Leben. Das kommt davon,
daß in der Schopenhancrischen Welt einer schon etwas wollen kann, acht
bloß ehe er etwas ist, sondern ehe er überhaupt ist, und geboren werden zu
wollen, wäre wahrlich, wenn man Ärzte und Frauen fragen wollte, keine
Kleinigkeit; in einem Prozent der Fälle wäre es bekanntlich Mord, und es
verlohnte sich schon, solchen Willen zum Leben Sünde zu nennen, als Folge
von Erbsünde. Diese Vorstellung, die in den Vordergrund zu stellen sogar


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[0471] Schopenhauer und Richard Wagner Photographische Wahrheit, von denen die metaphysische die innerlichste und tiefste ist, noch innerlicher nämlich, als der Kern der Sache, jenseits dessen ihre Strahlen erst ein Bild machen, wie jenes verschwommene, das auf der Netzhaut weitsichtiger Augen entsteht, weil es erst hinter dem Kreuzungspunkt der vom Gegenstande zum Auge führenden Lichtstrahlen zu stände kommt; die Photographische ist aber aus guten Gründen die äußerlichste: beide empfehlen sich dem Publikum heute im Gewände der Kunst, oder die Kunst empfiehlt sich dem ihr fremd gewordnen Geiste der Zeit im Gewände der angeblichen „Wahr¬ heit." Wagner hüllt sich dazu in den düstern Mantel pessimistisch-meta¬ physischer, zuletzt halb buddhistischer, halb hyperkatholischer Schwärmerei, und Ibsen duckt sich unter die schäbige Hülle des „beobachtenden" Photo¬ graphen (vgl. E. Groths „Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart," Grenzboten l88», S. 507); des einen Muse sucht das Welt¬ übel, des andern Muse das Schlechte in der Welt, beide übereinstimmend im Dienste genannter Kakoterpe, an deren Altar die pathetische Unwahrheit und das unwahre Pathos zuletzt gleich willkommen sind, während Euterpe ihr Angesicht verhüllt — beide "übereinstimmend in dem Gedanken des Pessimisten, daß die Welt etwas ist, das besser uicht wäre. Der Urheber dieses Gedankens, sofern er in unsrer Zeit in den Köpfen der obern Tausend, wenn es nicht bloß Hundert sind, nämlich der Denkenden und der Dichtenden, Platz gegriffen und eine Art Gesamtstimmung erzeugt hat, die natürlich in der Kunst am ehesten Ausdruck findet, ist bekanntlich Schopenhauer. Er hat uns die Welt als die platonische Höhle geschildert, in die die Urbilder des Seienden, Wahren, Ewigen höchstens schwankende Schatten werfen; allenfalls der Künstler vermag sie soweit festzuhalten, daß er durch seine Phantasie blühende Abbilder von ihnen in der Form des Schönen, in der Schönheit der Form zu schaffen ver¬ mag, die er nun gleichsam zwischen Welt und Ewigkeit vor uns hinstellt. Es sei hier gleich bemerkt, daß darnach eigentlich nicht der Musik, sondern der Plastik und der Malerei der höchste Rang von ihm hätte zugesprochen werden müssen, denn deren Gebilde sind es, die am ehesten, die einen die Zeit, die andern den Raum überwinden zu können scheinen. Die Höhle selbst aber blieb so beschaffen, daß in sie hinein zu wollen, d. h. daß der „Wille zum Leben" schon sündlich ist. Kinder zur Welt bringen ist an sich keine Sünde (da es nur die Folge dessen ist, was neun Monate früher geschah), wohl aber Geboreuwerden, als (vorläufig wenigstens) durchgesetzter Wille zum Leben. Das kommt davon, daß in der Schopenhancrischen Welt einer schon etwas wollen kann, acht bloß ehe er etwas ist, sondern ehe er überhaupt ist, und geboren werden zu wollen, wäre wahrlich, wenn man Ärzte und Frauen fragen wollte, keine Kleinigkeit; in einem Prozent der Fälle wäre es bekanntlich Mord, und es verlohnte sich schon, solchen Willen zum Leben Sünde zu nennen, als Folge von Erbsünde. Diese Vorstellung, die in den Vordergrund zu stellen sogar

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/471>, abgerufen am 22.07.2024.