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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Die soziale Lrage

Pflicht gründlicher Prüfung durch eine Scheindebatte über die Goldwährung
zu entziehen, die nach der Behauptung der Vimetallisten an der Not der Land¬
wirtschaft schuld sein soll. Sogar Noscher versteckt in seiner Erörterung des
Gegenstandes den entscheidenden Satz in eine Anmerkung: "Die vom Verein
für Sozialpolitik veranstaltete Untersuchung der bäuerlichen Zustände hat doch
meistens ergeben, daß die wachsende Verschuldung der Bauern und andern
Landwirte selteu durch Not, auch selten durch Bauten, am häufigsten durch
Eintragung zu hoher Erdteile und Kaufgelderreste bewirkt ist." (a. a. O.
II, 485.) '

Überblicken wir den Gang der Besiedlung unsers Vaterlandes. Die alt¬
deutsche Markgenossenschaft und der Edelmann der fränkischen Zeit besaßen
neben ihrem Ackerland noch so viel Wald, Sumpf, und sonstiges Urland,
daß zur Versorgung der Söhne, die den Hof uicht erbten, nur weitere Flachen
urbar gemacht und neue Höfe angelegt zu werden brauchten. Nicht eiuer aber-
gläubischen Frömmigkeit entsprangen die zahlreichen Schenkungen an Kirchen
und die Neugründungen von Stiftern, sondern dem Bedürfnis rascher Besied¬
lung. Noch um das Jahr 1000 war der nordöstliche Winkel des heutigen
Baierns, die Oberpfalz und Oberfranken, beinahe eine menschenleere Wüste;
und wenn Kaiser Heinrich II. auf der Synode zu Frankfurt am 1. November
1007 einige Bischöfe fußfällig bat, in die Verkleinerung ihrer Sprengel zu
willigen, damit er durch Gründung des Bistums Bcuuberg deu Böhmen ihr
Ausfallsthor, wie Giesebrecht den Landstrich nennt, verschließen könne, so war
dieses nach unsern Begriffen unkönigliche und widerliche Gebahren nur ein in
die Formen jeuer Zeit gekleideter Akt einer weisen und großen Politik.
Übrigens hatten damals die fünf deutschen Stämme die Kolonisation des
slawischen Ostens, d. h. der Ländermasse, die den österreichischen Staat, das
.Königreich Sachsen und die alten Provinzen Preußens umfaßt, schon in An¬
griff genommen. Den Bnieru fiel dabei natürlich der südliche, den Sachsen
der nördliche Flügel des gewaltigen Gebietes zu. Kein deutscher Grundherr
und Bauer brauchte damals sein Anwesen unter seine Söhne zu teilen; mit
Schwert und Pflug eroberten sich die überzähligen Sohne ihr Erbe, ohne das
väterliche Gut mit Hypotheken zu belasten.

Und das war nicht die einzige Versvrgungsart. Widmete sich doch fast
in jeder vornehmen Familie mindestens ein Sohn der Kirche. Viele Pfründen
wurden geradezu als Sekundogenituren gestiftet. Über wieviel Pfründen ein
Grundherr das Patronat besaß, soviel jüngere Söhne konnte er versorgen, und
nicht bloß er, sondern jeder seiner Gntsnachfvlger. Denn der Inhaber der
Pfründe durfte ja nicht heiraten; durch jede Erledigung wurde sie wieder frei
für ein Glied des Stammhauses. Zwar fehlte es dem geistlichen Adel nicht
an unehelichen Kindern; allein diese brauchten doch nicht standesgemäß aus¬
gestattet zu werden. In späterer Zeit versorgte man sie mit einem Geldkapital,


Die soziale Lrage

Pflicht gründlicher Prüfung durch eine Scheindebatte über die Goldwährung
zu entziehen, die nach der Behauptung der Vimetallisten an der Not der Land¬
wirtschaft schuld sein soll. Sogar Noscher versteckt in seiner Erörterung des
Gegenstandes den entscheidenden Satz in eine Anmerkung: „Die vom Verein
für Sozialpolitik veranstaltete Untersuchung der bäuerlichen Zustände hat doch
meistens ergeben, daß die wachsende Verschuldung der Bauern und andern
Landwirte selteu durch Not, auch selten durch Bauten, am häufigsten durch
Eintragung zu hoher Erdteile und Kaufgelderreste bewirkt ist." (a. a. O.
II, 485.) '

Überblicken wir den Gang der Besiedlung unsers Vaterlandes. Die alt¬
deutsche Markgenossenschaft und der Edelmann der fränkischen Zeit besaßen
neben ihrem Ackerland noch so viel Wald, Sumpf, und sonstiges Urland,
daß zur Versorgung der Söhne, die den Hof uicht erbten, nur weitere Flachen
urbar gemacht und neue Höfe angelegt zu werden brauchten. Nicht eiuer aber-
gläubischen Frömmigkeit entsprangen die zahlreichen Schenkungen an Kirchen
und die Neugründungen von Stiftern, sondern dem Bedürfnis rascher Besied¬
lung. Noch um das Jahr 1000 war der nordöstliche Winkel des heutigen
Baierns, die Oberpfalz und Oberfranken, beinahe eine menschenleere Wüste;
und wenn Kaiser Heinrich II. auf der Synode zu Frankfurt am 1. November
1007 einige Bischöfe fußfällig bat, in die Verkleinerung ihrer Sprengel zu
willigen, damit er durch Gründung des Bistums Bcuuberg deu Böhmen ihr
Ausfallsthor, wie Giesebrecht den Landstrich nennt, verschließen könne, so war
dieses nach unsern Begriffen unkönigliche und widerliche Gebahren nur ein in
die Formen jeuer Zeit gekleideter Akt einer weisen und großen Politik.
Übrigens hatten damals die fünf deutschen Stämme die Kolonisation des
slawischen Ostens, d. h. der Ländermasse, die den österreichischen Staat, das
.Königreich Sachsen und die alten Provinzen Preußens umfaßt, schon in An¬
griff genommen. Den Bnieru fiel dabei natürlich der südliche, den Sachsen
der nördliche Flügel des gewaltigen Gebietes zu. Kein deutscher Grundherr
und Bauer brauchte damals sein Anwesen unter seine Söhne zu teilen; mit
Schwert und Pflug eroberten sich die überzähligen Sohne ihr Erbe, ohne das
väterliche Gut mit Hypotheken zu belasten.

Und das war nicht die einzige Versvrgungsart. Widmete sich doch fast
in jeder vornehmen Familie mindestens ein Sohn der Kirche. Viele Pfründen
wurden geradezu als Sekundogenituren gestiftet. Über wieviel Pfründen ein
Grundherr das Patronat besaß, soviel jüngere Söhne konnte er versorgen, und
nicht bloß er, sondern jeder seiner Gntsnachfvlger. Denn der Inhaber der
Pfründe durfte ja nicht heiraten; durch jede Erledigung wurde sie wieder frei
für ein Glied des Stammhauses. Zwar fehlte es dem geistlichen Adel nicht
an unehelichen Kindern; allein diese brauchten doch nicht standesgemäß aus¬
gestattet zu werden. In späterer Zeit versorgte man sie mit einem Geldkapital,


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[0454] Die soziale Lrage Pflicht gründlicher Prüfung durch eine Scheindebatte über die Goldwährung zu entziehen, die nach der Behauptung der Vimetallisten an der Not der Land¬ wirtschaft schuld sein soll. Sogar Noscher versteckt in seiner Erörterung des Gegenstandes den entscheidenden Satz in eine Anmerkung: „Die vom Verein für Sozialpolitik veranstaltete Untersuchung der bäuerlichen Zustände hat doch meistens ergeben, daß die wachsende Verschuldung der Bauern und andern Landwirte selteu durch Not, auch selten durch Bauten, am häufigsten durch Eintragung zu hoher Erdteile und Kaufgelderreste bewirkt ist." (a. a. O. II, 485.) ' Überblicken wir den Gang der Besiedlung unsers Vaterlandes. Die alt¬ deutsche Markgenossenschaft und der Edelmann der fränkischen Zeit besaßen neben ihrem Ackerland noch so viel Wald, Sumpf, und sonstiges Urland, daß zur Versorgung der Söhne, die den Hof uicht erbten, nur weitere Flachen urbar gemacht und neue Höfe angelegt zu werden brauchten. Nicht eiuer aber- gläubischen Frömmigkeit entsprangen die zahlreichen Schenkungen an Kirchen und die Neugründungen von Stiftern, sondern dem Bedürfnis rascher Besied¬ lung. Noch um das Jahr 1000 war der nordöstliche Winkel des heutigen Baierns, die Oberpfalz und Oberfranken, beinahe eine menschenleere Wüste; und wenn Kaiser Heinrich II. auf der Synode zu Frankfurt am 1. November 1007 einige Bischöfe fußfällig bat, in die Verkleinerung ihrer Sprengel zu willigen, damit er durch Gründung des Bistums Bcuuberg deu Böhmen ihr Ausfallsthor, wie Giesebrecht den Landstrich nennt, verschließen könne, so war dieses nach unsern Begriffen unkönigliche und widerliche Gebahren nur ein in die Formen jeuer Zeit gekleideter Akt einer weisen und großen Politik. Übrigens hatten damals die fünf deutschen Stämme die Kolonisation des slawischen Ostens, d. h. der Ländermasse, die den österreichischen Staat, das .Königreich Sachsen und die alten Provinzen Preußens umfaßt, schon in An¬ griff genommen. Den Bnieru fiel dabei natürlich der südliche, den Sachsen der nördliche Flügel des gewaltigen Gebietes zu. Kein deutscher Grundherr und Bauer brauchte damals sein Anwesen unter seine Söhne zu teilen; mit Schwert und Pflug eroberten sich die überzähligen Sohne ihr Erbe, ohne das väterliche Gut mit Hypotheken zu belasten. Und das war nicht die einzige Versvrgungsart. Widmete sich doch fast in jeder vornehmen Familie mindestens ein Sohn der Kirche. Viele Pfründen wurden geradezu als Sekundogenituren gestiftet. Über wieviel Pfründen ein Grundherr das Patronat besaß, soviel jüngere Söhne konnte er versorgen, und nicht bloß er, sondern jeder seiner Gntsnachfvlger. Denn der Inhaber der Pfründe durfte ja nicht heiraten; durch jede Erledigung wurde sie wieder frei für ein Glied des Stammhauses. Zwar fehlte es dem geistlichen Adel nicht an unehelichen Kindern; allein diese brauchten doch nicht standesgemäß aus¬ gestattet zu werden. In späterer Zeit versorgte man sie mit einem Geldkapital,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/454>, abgerufen am 24.07.2024.