Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die soziale Frage

lustigen Geschlecht unerklärlich. Ans Gründen, die auf der Hand liegen, wird
diese Ansicht selten ausgesprochen, von Behörden und Volksvertretungen nie¬
mals. Ist man genötigt, den verhängnisvollen Punkt zu berühren, so hilft
man sich mit Umschreibungen. So heißt es z. B. in dem amtlichen Bericht
der Berliner Arbeiterschutzkonfcrenz: "Was die Frage der Frauenarbeit an¬
langt, so wies der italienische Vertreter auf deu Umstand hin, wie in Ländern
mit starker Auswanderung es sehr oft geschieht, daß nur die Mäuner einen
gewissen Teil des Jahres im Auslande zubringen. Während ihrer Abwesen¬
heit müssen die Frauen mit ihrem Arbeitsverdienste den Unterhalt des Haus¬
standes auf sich nehmen." Statt des einfachern, alles erklärenden Ausdrucks
"in übervölkerten Länder"" ist der verblümtere beliebt worden: "in Ländern
mit starker Auswanderung."

"Die Möglichkeit einer Übervölkerung, sagt Röscher (System der Volks¬
wirtschaft, elfte Auflage, I, 5!)9) wird vou vielen Theoretikern bestritten; und
wirklich sind die Klagen darüber in den meisten Fällen eben nur eine aber¬
gläubische Ausrede der Trägheit, welche deu Druck der Volksvermehrung
empfindet, ohne sich dadurch zur Vermehrung der Unterhaltsmittel spornen zu
lassen. Ich rede von Übervölkerung allenthalben, wo das Mißverhältnis
zwischen Bewvhnerzahl und Nnterhaltsmitteln eine drückende Kleinheit der
Durchschuittspvrtionen bewirkt." Natürlich werden die Ansichten darüber, ob
die Durchschuittspvrtion schon drückend klein sei, verschieden ausfallen. Um
sie zu berechnen, kaun man entweder die amtliche Einkvmmeustatiftik in Ver¬
bindung mit den ebenfalls amtlich nachweisbaren Unterhaltungskosten für einen
Soldaten zu Grunde legen, oder die Mvrgcnzahl des vorhandenen Pflug- und
Weidelandes durch die Einwohnerzahl dividiren. Wir lassen uns ans eine
solche Berechnung nicht ein und versuchen keine unmittelbare Antwort auf die
Frage zu geben, ob Deutschland übervölkert sei, sondern veranschaulichen
uns nnr, wie stetige Zunahme der Bevölkerung ans die Lage der Einzelnen
einwirkt.

Was Nur zu diesem Zwecke zu sagen haben, ist so einfach und so all¬
gemein bekannt, daß wir um Entschuldigung bitten müssen, wenn wir eS dennoch
sagen. Wir sagen es aus dem Grunde, weil es in Fälle", wo es an erster
Stelle gesagt werden müßte, verschwiege" zu, werde" pflegt. In den amtliche"
Berichten über die Lage der Landwirtschaft in einzelnen deutschen Staaten und
Provinzen findet man als Ursachen der Snbhastativnen verzeichnet: schlechte
Preise, Verschuldung, Wucher, u"gü"feigen Kauf, zu kleines Betriebskapital,
Erbteilung u. s. w. Daß aber der ungünstige Kauf, das zu kleine Betriebs¬
kapital und die Verschuldung in der fortgesetzten Erbteiluug ihre gemeinsame
Wurzel haben, wird kaum angedeutet, geschweige denn offen eingestanden. Es
^ aber eines großen und hochgebildete" Volkes unwürdig, bei Beratung
über die wichtigste aller Fragen den Ker" der Sache zu umgeben und sich der


Die soziale Frage

lustigen Geschlecht unerklärlich. Ans Gründen, die auf der Hand liegen, wird
diese Ansicht selten ausgesprochen, von Behörden und Volksvertretungen nie¬
mals. Ist man genötigt, den verhängnisvollen Punkt zu berühren, so hilft
man sich mit Umschreibungen. So heißt es z. B. in dem amtlichen Bericht
der Berliner Arbeiterschutzkonfcrenz: „Was die Frage der Frauenarbeit an¬
langt, so wies der italienische Vertreter auf deu Umstand hin, wie in Ländern
mit starker Auswanderung es sehr oft geschieht, daß nur die Mäuner einen
gewissen Teil des Jahres im Auslande zubringen. Während ihrer Abwesen¬
heit müssen die Frauen mit ihrem Arbeitsverdienste den Unterhalt des Haus¬
standes auf sich nehmen." Statt des einfachern, alles erklärenden Ausdrucks
„in übervölkerten Länder»" ist der verblümtere beliebt worden: „in Ländern
mit starker Auswanderung."

„Die Möglichkeit einer Übervölkerung, sagt Röscher (System der Volks¬
wirtschaft, elfte Auflage, I, 5!)9) wird vou vielen Theoretikern bestritten; und
wirklich sind die Klagen darüber in den meisten Fällen eben nur eine aber¬
gläubische Ausrede der Trägheit, welche deu Druck der Volksvermehrung
empfindet, ohne sich dadurch zur Vermehrung der Unterhaltsmittel spornen zu
lassen. Ich rede von Übervölkerung allenthalben, wo das Mißverhältnis
zwischen Bewvhnerzahl und Nnterhaltsmitteln eine drückende Kleinheit der
Durchschuittspvrtionen bewirkt." Natürlich werden die Ansichten darüber, ob
die Durchschuittspvrtion schon drückend klein sei, verschieden ausfallen. Um
sie zu berechnen, kaun man entweder die amtliche Einkvmmeustatiftik in Ver¬
bindung mit den ebenfalls amtlich nachweisbaren Unterhaltungskosten für einen
Soldaten zu Grunde legen, oder die Mvrgcnzahl des vorhandenen Pflug- und
Weidelandes durch die Einwohnerzahl dividiren. Wir lassen uns ans eine
solche Berechnung nicht ein und versuchen keine unmittelbare Antwort auf die
Frage zu geben, ob Deutschland übervölkert sei, sondern veranschaulichen
uns nnr, wie stetige Zunahme der Bevölkerung ans die Lage der Einzelnen
einwirkt.

Was Nur zu diesem Zwecke zu sagen haben, ist so einfach und so all¬
gemein bekannt, daß wir um Entschuldigung bitten müssen, wenn wir eS dennoch
sagen. Wir sagen es aus dem Grunde, weil es in Fälle», wo es an erster
Stelle gesagt werden müßte, verschwiege» zu, werde» pflegt. In den amtliche»
Berichten über die Lage der Landwirtschaft in einzelnen deutschen Staaten und
Provinzen findet man als Ursachen der Snbhastativnen verzeichnet: schlechte
Preise, Verschuldung, Wucher, u»gü»feigen Kauf, zu kleines Betriebskapital,
Erbteilung u. s. w. Daß aber der ungünstige Kauf, das zu kleine Betriebs¬
kapital und die Verschuldung in der fortgesetzten Erbteiluug ihre gemeinsame
Wurzel haben, wird kaum angedeutet, geschweige denn offen eingestanden. Es
^ aber eines großen und hochgebildete» Volkes unwürdig, bei Beratung
über die wichtigste aller Fragen den Ker» der Sache zu umgeben und sich der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0453" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/207748"/>
            <fw type="header" place="top"> Die soziale Frage</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1242" prev="#ID_1241"> lustigen Geschlecht unerklärlich. Ans Gründen, die auf der Hand liegen, wird<lb/>
diese Ansicht selten ausgesprochen, von Behörden und Volksvertretungen nie¬<lb/>
mals. Ist man genötigt, den verhängnisvollen Punkt zu berühren, so hilft<lb/>
man sich mit Umschreibungen. So heißt es z. B. in dem amtlichen Bericht<lb/>
der Berliner Arbeiterschutzkonfcrenz: &#x201E;Was die Frage der Frauenarbeit an¬<lb/>
langt, so wies der italienische Vertreter auf deu Umstand hin, wie in Ländern<lb/>
mit starker Auswanderung es sehr oft geschieht, daß nur die Mäuner einen<lb/>
gewissen Teil des Jahres im Auslande zubringen. Während ihrer Abwesen¬<lb/>
heit müssen die Frauen mit ihrem Arbeitsverdienste den Unterhalt des Haus¬<lb/>
standes auf sich nehmen." Statt des einfachern, alles erklärenden Ausdrucks<lb/>
&#x201E;in übervölkerten Länder»" ist der verblümtere beliebt worden: &#x201E;in Ländern<lb/>
mit starker Auswanderung."</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1243"> &#x201E;Die Möglichkeit einer Übervölkerung, sagt Röscher (System der Volks¬<lb/>
wirtschaft, elfte Auflage, I, 5!)9) wird vou vielen Theoretikern bestritten; und<lb/>
wirklich sind die Klagen darüber in den meisten Fällen eben nur eine aber¬<lb/>
gläubische Ausrede der Trägheit, welche deu Druck der Volksvermehrung<lb/>
empfindet, ohne sich dadurch zur Vermehrung der Unterhaltsmittel spornen zu<lb/>
lassen. Ich rede von Übervölkerung allenthalben, wo das Mißverhältnis<lb/>
zwischen Bewvhnerzahl und Nnterhaltsmitteln eine drückende Kleinheit der<lb/>
Durchschuittspvrtionen bewirkt." Natürlich werden die Ansichten darüber, ob<lb/>
die Durchschuittspvrtion schon drückend klein sei, verschieden ausfallen. Um<lb/>
sie zu berechnen, kaun man entweder die amtliche Einkvmmeustatiftik in Ver¬<lb/>
bindung mit den ebenfalls amtlich nachweisbaren Unterhaltungskosten für einen<lb/>
Soldaten zu Grunde legen, oder die Mvrgcnzahl des vorhandenen Pflug- und<lb/>
Weidelandes durch die Einwohnerzahl dividiren. Wir lassen uns ans eine<lb/>
solche Berechnung nicht ein und versuchen keine unmittelbare Antwort auf die<lb/>
Frage zu geben, ob Deutschland übervölkert sei, sondern veranschaulichen<lb/>
uns nnr, wie stetige Zunahme der Bevölkerung ans die Lage der Einzelnen<lb/>
einwirkt.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1244" next="#ID_1245"> Was Nur zu diesem Zwecke zu sagen haben, ist so einfach und so all¬<lb/>
gemein bekannt, daß wir um Entschuldigung bitten müssen, wenn wir eS dennoch<lb/>
sagen. Wir sagen es aus dem Grunde, weil es in Fälle», wo es an erster<lb/>
Stelle gesagt werden müßte, verschwiege» zu, werde» pflegt. In den amtliche»<lb/>
Berichten über die Lage der Landwirtschaft in einzelnen deutschen Staaten und<lb/>
Provinzen findet man als Ursachen der Snbhastativnen verzeichnet: schlechte<lb/>
Preise, Verschuldung, Wucher, u»gü»feigen Kauf, zu kleines Betriebskapital,<lb/>
Erbteilung u. s. w. Daß aber der ungünstige Kauf, das zu kleine Betriebs¬<lb/>
kapital und die Verschuldung in der fortgesetzten Erbteiluug ihre gemeinsame<lb/>
Wurzel haben, wird kaum angedeutet, geschweige denn offen eingestanden. Es<lb/>
^ aber eines großen und hochgebildete» Volkes unwürdig, bei Beratung<lb/>
über die wichtigste aller Fragen den Ker» der Sache zu umgeben und sich der</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0453] Die soziale Frage lustigen Geschlecht unerklärlich. Ans Gründen, die auf der Hand liegen, wird diese Ansicht selten ausgesprochen, von Behörden und Volksvertretungen nie¬ mals. Ist man genötigt, den verhängnisvollen Punkt zu berühren, so hilft man sich mit Umschreibungen. So heißt es z. B. in dem amtlichen Bericht der Berliner Arbeiterschutzkonfcrenz: „Was die Frage der Frauenarbeit an¬ langt, so wies der italienische Vertreter auf deu Umstand hin, wie in Ländern mit starker Auswanderung es sehr oft geschieht, daß nur die Mäuner einen gewissen Teil des Jahres im Auslande zubringen. Während ihrer Abwesen¬ heit müssen die Frauen mit ihrem Arbeitsverdienste den Unterhalt des Haus¬ standes auf sich nehmen." Statt des einfachern, alles erklärenden Ausdrucks „in übervölkerten Länder»" ist der verblümtere beliebt worden: „in Ländern mit starker Auswanderung." „Die Möglichkeit einer Übervölkerung, sagt Röscher (System der Volks¬ wirtschaft, elfte Auflage, I, 5!)9) wird vou vielen Theoretikern bestritten; und wirklich sind die Klagen darüber in den meisten Fällen eben nur eine aber¬ gläubische Ausrede der Trägheit, welche deu Druck der Volksvermehrung empfindet, ohne sich dadurch zur Vermehrung der Unterhaltsmittel spornen zu lassen. Ich rede von Übervölkerung allenthalben, wo das Mißverhältnis zwischen Bewvhnerzahl und Nnterhaltsmitteln eine drückende Kleinheit der Durchschuittspvrtionen bewirkt." Natürlich werden die Ansichten darüber, ob die Durchschuittspvrtion schon drückend klein sei, verschieden ausfallen. Um sie zu berechnen, kaun man entweder die amtliche Einkvmmeustatiftik in Ver¬ bindung mit den ebenfalls amtlich nachweisbaren Unterhaltungskosten für einen Soldaten zu Grunde legen, oder die Mvrgcnzahl des vorhandenen Pflug- und Weidelandes durch die Einwohnerzahl dividiren. Wir lassen uns ans eine solche Berechnung nicht ein und versuchen keine unmittelbare Antwort auf die Frage zu geben, ob Deutschland übervölkert sei, sondern veranschaulichen uns nnr, wie stetige Zunahme der Bevölkerung ans die Lage der Einzelnen einwirkt. Was Nur zu diesem Zwecke zu sagen haben, ist so einfach und so all¬ gemein bekannt, daß wir um Entschuldigung bitten müssen, wenn wir eS dennoch sagen. Wir sagen es aus dem Grunde, weil es in Fälle», wo es an erster Stelle gesagt werden müßte, verschwiege» zu, werde» pflegt. In den amtliche» Berichten über die Lage der Landwirtschaft in einzelnen deutschen Staaten und Provinzen findet man als Ursachen der Snbhastativnen verzeichnet: schlechte Preise, Verschuldung, Wucher, u»gü»feigen Kauf, zu kleines Betriebskapital, Erbteilung u. s. w. Daß aber der ungünstige Kauf, das zu kleine Betriebs¬ kapital und die Verschuldung in der fortgesetzten Erbteiluug ihre gemeinsame Wurzel haben, wird kaum angedeutet, geschweige denn offen eingestanden. Es ^ aber eines großen und hochgebildete» Volkes unwürdig, bei Beratung über die wichtigste aller Fragen den Ker» der Sache zu umgeben und sich der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/453
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/453>, abgerufen am 04.07.2024.