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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Aus der Stadt des Reichskainmergerichts

und von ihr über Goethe gehört haben. Leider hat der Platz sein Äußeres
sehr verändert: bei eine"! großen Brande ist beinahe das ganze Dorf in
Flammen aufgegangen und dann neu aufgebaut worden; auch die schönen
Linden sind verschwunden. Am hundertjährigen Geburtstage des Dichters hat
man sein Andenken dem jetzt lebenden Geschlechte durch eine schlichte Erinnernngs-
süule ins Gedächtnis zurückgerufen.

Auf dem Wege nach "Wahlheim" vergaß der Dichter nie, an seinem
Lieblingsplätzchen, dem Wildbacher Brunnen, kurze Rast zu halten. "Da ist
gleich vor dem Orte ein Brunnen, ein Brunnen, um den ich gebannt bin, wie
Melusine mit ihren Schwestern. Du gehst eiuen kleinen Hügel hinunter und
findest dich vor einem Gewölbe, da wohl zwanzig Stufen hinabgehen, wo
unten das klarste Wasser ans Marmorfelsen quillt. Die kleine Mauer, die
oben umher die Einfassung macht, die hohen Bäume, die deu Platz rings¬
umher bedecken, die Kühle des Ortes -- das hat alles so was Anzügliches."
Der Brunnen ist noch genau so, wie ihn der Dichter beschreibt, man nennt
ihn jetzt Goethebruunen; von den hohen Bciumeu dagegen ist unmittelbar an
der Quelle mir noch eine Linde übrig geblieben, und auch sie wird uur mit
Mühe vor dem gänzlichen Absterben bewahrt.

Goethe kam zu einer wenig günstigen Zeit nach Wetzlar: es waren
wieder Untersuchungen gegen Mitglieder des Gerichts im Gange, und man
erlebte von neuem den Anblick des richtenden und gerichteten Gerichts. Ver-
schiedne Assessoren hatten sich durch Vermittlung eines Juden ans Frankfurt
am Main, Nathan Aaron Wetzlar, in der schnödesten Weise bestechen lassen.
Man kassirte sie mit Schimpf und Schande und schickte den Vermittler auf
sechs Jahre ins Gefängnis. Diese Herren rechtfertigten wenig den stolzen
Titel "Amphiktyonen," den mau ihnen dann und wann rednerisch beilegte.
Freilich lag die Schuld weniger an den Personen, als nu den Verhältnissen.
Wie überhaupt die Beschaffenheit der Gerichte die genaueste Einsicht in die
Beschaffenheit des Landes gewährt, so ist das Neichskaunnergericht ein getreues
Abbild der Zerrissenheit und Schwäche des ehemaligen deutschen Reiches. Es
waren die letzten Zuckungen eines sterbenden Körpers. Bald war die Rolle
des Reiches und seines höchsten Gerichtshofes völlig ausgespielt.

Schon im Jahre 1796 fluteten die Wogen der französischen Revolution
bis in den ruhigen Hafen des Reichskammergerichts: feindliche Heere er¬
schienen unter Jourdan und Hoche in dem stillen Thal, um durch diese alte
Völkerstraße von Westen nach Osten in die deutscheu Gaue einzudringen. Für
diesmal wurden die Franzosen durch deutsche Truppen unter Erzherzog Karl
noch zurückgeworfen, einer der Führer, Hoche, wurde zu Tode verwundet und
starb in Wetzlar im jetzigen Gnsthof zum herzoglichen Hause. Aber nach kurzer
Frist kehrte der Feind °als Sieger zurück, der deutsche Kaiser legte die Krone
nieder, das ehrwürdige römische Reich deutscher Nation war nicht mehr. Damit


Aus der Stadt des Reichskainmergerichts

und von ihr über Goethe gehört haben. Leider hat der Platz sein Äußeres
sehr verändert: bei eine»! großen Brande ist beinahe das ganze Dorf in
Flammen aufgegangen und dann neu aufgebaut worden; auch die schönen
Linden sind verschwunden. Am hundertjährigen Geburtstage des Dichters hat
man sein Andenken dem jetzt lebenden Geschlechte durch eine schlichte Erinnernngs-
süule ins Gedächtnis zurückgerufen.

Auf dem Wege nach „Wahlheim" vergaß der Dichter nie, an seinem
Lieblingsplätzchen, dem Wildbacher Brunnen, kurze Rast zu halten. „Da ist
gleich vor dem Orte ein Brunnen, ein Brunnen, um den ich gebannt bin, wie
Melusine mit ihren Schwestern. Du gehst eiuen kleinen Hügel hinunter und
findest dich vor einem Gewölbe, da wohl zwanzig Stufen hinabgehen, wo
unten das klarste Wasser ans Marmorfelsen quillt. Die kleine Mauer, die
oben umher die Einfassung macht, die hohen Bäume, die deu Platz rings¬
umher bedecken, die Kühle des Ortes — das hat alles so was Anzügliches."
Der Brunnen ist noch genau so, wie ihn der Dichter beschreibt, man nennt
ihn jetzt Goethebruunen; von den hohen Bciumeu dagegen ist unmittelbar an
der Quelle mir noch eine Linde übrig geblieben, und auch sie wird uur mit
Mühe vor dem gänzlichen Absterben bewahrt.

Goethe kam zu einer wenig günstigen Zeit nach Wetzlar: es waren
wieder Untersuchungen gegen Mitglieder des Gerichts im Gange, und man
erlebte von neuem den Anblick des richtenden und gerichteten Gerichts. Ver-
schiedne Assessoren hatten sich durch Vermittlung eines Juden ans Frankfurt
am Main, Nathan Aaron Wetzlar, in der schnödesten Weise bestechen lassen.
Man kassirte sie mit Schimpf und Schande und schickte den Vermittler auf
sechs Jahre ins Gefängnis. Diese Herren rechtfertigten wenig den stolzen
Titel „Amphiktyonen," den mau ihnen dann und wann rednerisch beilegte.
Freilich lag die Schuld weniger an den Personen, als nu den Verhältnissen.
Wie überhaupt die Beschaffenheit der Gerichte die genaueste Einsicht in die
Beschaffenheit des Landes gewährt, so ist das Neichskaunnergericht ein getreues
Abbild der Zerrissenheit und Schwäche des ehemaligen deutschen Reiches. Es
waren die letzten Zuckungen eines sterbenden Körpers. Bald war die Rolle
des Reiches und seines höchsten Gerichtshofes völlig ausgespielt.

Schon im Jahre 1796 fluteten die Wogen der französischen Revolution
bis in den ruhigen Hafen des Reichskammergerichts: feindliche Heere er¬
schienen unter Jourdan und Hoche in dem stillen Thal, um durch diese alte
Völkerstraße von Westen nach Osten in die deutscheu Gaue einzudringen. Für
diesmal wurden die Franzosen durch deutsche Truppen unter Erzherzog Karl
noch zurückgeworfen, einer der Führer, Hoche, wurde zu Tode verwundet und
starb in Wetzlar im jetzigen Gnsthof zum herzoglichen Hause. Aber nach kurzer
Frist kehrte der Feind °als Sieger zurück, der deutsche Kaiser legte die Krone
nieder, das ehrwürdige römische Reich deutscher Nation war nicht mehr. Damit


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[0415] Aus der Stadt des Reichskainmergerichts und von ihr über Goethe gehört haben. Leider hat der Platz sein Äußeres sehr verändert: bei eine»! großen Brande ist beinahe das ganze Dorf in Flammen aufgegangen und dann neu aufgebaut worden; auch die schönen Linden sind verschwunden. Am hundertjährigen Geburtstage des Dichters hat man sein Andenken dem jetzt lebenden Geschlechte durch eine schlichte Erinnernngs- süule ins Gedächtnis zurückgerufen. Auf dem Wege nach „Wahlheim" vergaß der Dichter nie, an seinem Lieblingsplätzchen, dem Wildbacher Brunnen, kurze Rast zu halten. „Da ist gleich vor dem Orte ein Brunnen, ein Brunnen, um den ich gebannt bin, wie Melusine mit ihren Schwestern. Du gehst eiuen kleinen Hügel hinunter und findest dich vor einem Gewölbe, da wohl zwanzig Stufen hinabgehen, wo unten das klarste Wasser ans Marmorfelsen quillt. Die kleine Mauer, die oben umher die Einfassung macht, die hohen Bäume, die deu Platz rings¬ umher bedecken, die Kühle des Ortes — das hat alles so was Anzügliches." Der Brunnen ist noch genau so, wie ihn der Dichter beschreibt, man nennt ihn jetzt Goethebruunen; von den hohen Bciumeu dagegen ist unmittelbar an der Quelle mir noch eine Linde übrig geblieben, und auch sie wird uur mit Mühe vor dem gänzlichen Absterben bewahrt. Goethe kam zu einer wenig günstigen Zeit nach Wetzlar: es waren wieder Untersuchungen gegen Mitglieder des Gerichts im Gange, und man erlebte von neuem den Anblick des richtenden und gerichteten Gerichts. Ver- schiedne Assessoren hatten sich durch Vermittlung eines Juden ans Frankfurt am Main, Nathan Aaron Wetzlar, in der schnödesten Weise bestechen lassen. Man kassirte sie mit Schimpf und Schande und schickte den Vermittler auf sechs Jahre ins Gefängnis. Diese Herren rechtfertigten wenig den stolzen Titel „Amphiktyonen," den mau ihnen dann und wann rednerisch beilegte. Freilich lag die Schuld weniger an den Personen, als nu den Verhältnissen. Wie überhaupt die Beschaffenheit der Gerichte die genaueste Einsicht in die Beschaffenheit des Landes gewährt, so ist das Neichskaunnergericht ein getreues Abbild der Zerrissenheit und Schwäche des ehemaligen deutschen Reiches. Es waren die letzten Zuckungen eines sterbenden Körpers. Bald war die Rolle des Reiches und seines höchsten Gerichtshofes völlig ausgespielt. Schon im Jahre 1796 fluteten die Wogen der französischen Revolution bis in den ruhigen Hafen des Reichskammergerichts: feindliche Heere er¬ schienen unter Jourdan und Hoche in dem stillen Thal, um durch diese alte Völkerstraße von Westen nach Osten in die deutscheu Gaue einzudringen. Für diesmal wurden die Franzosen durch deutsche Truppen unter Erzherzog Karl noch zurückgeworfen, einer der Führer, Hoche, wurde zu Tode verwundet und starb in Wetzlar im jetzigen Gnsthof zum herzoglichen Hause. Aber nach kurzer Frist kehrte der Feind °als Sieger zurück, der deutsche Kaiser legte die Krone nieder, das ehrwürdige römische Reich deutscher Nation war nicht mehr. Damit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/415>, abgerufen am 03.07.2024.