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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Die soziale Frage

auf eine Geschmacksfrage. Gewöhnlich versteht man unter innerer Kolonisation
die Besiedelung von Parzellen großer Güter (unkultivirtes Land haben wir
in Deutschland nur uoch sehr wenig) mit Kleinbauern. Da aber Landwirt¬
schaft und Industrie in enger gegenseitiger Abhängigkeit von einander stehen
die Gutsbesitzer der industrielosen Provinzen Ost- und Westpreußen werden
ihr Getreide daheim nicht los, und Mittel- und Westdeutschland mag es
uicht -- so haben wir die Gewerbe mit einbezogen und dem Begriff einen
weitern Umfang gegeben.

Was nun die innere Kolonisation in dem bisher üblichen Sinn anlangt, so
können wir die bekannten darauf gerichteten Maßregeln des preußischen Staates
sehr kurz abfertigen. Die Zahl der Westdeutschen Landwirte, die durch das
Ansiedelnngsgesetz für Posen und Westpreußen in diese dünner bevölkerten
Gegenden übergeführt werden kann, ist, selbst wenn alles nach Wunsch geht,
so gering, daß eine erhebliche Verschiebung der Bevölkerungsverhältnisse da¬
durch nicht bewirkt wird; zudem wird der Abfluß deutscher Bauern aus dem
Westen durch den Zufluß polnischer Arbeiter dahin mehr als ausgeglichen.
Der Gesetzentwurf über die Rentengüter aber ist zwar im Herrenhause als
gutgemeint und unschädlich angenommen worden, aber zugleich haben die meisten
der Großgrundbesitzer, die am 22. März und am 25. April das Wort er¬
griffen, rund heraus erklärt, daß uach ihrer Ansicht von dem Gesetze nur
wenig Gebrauch gemacht werden wird; und die Herren sind doch ohne Zweifel
Sachverständige.

Auch hier wird alles auf den Geschmack ankommen. Hie und da war
der Arbeitslohn der ländlichen Tagelöhner in den östlichen Provinzen so tief
gesunken, daß sie schlechterdings nicht mehr dabei bestehen konnten und aus¬
wandern mußten. Nehmen wir aber auch an, daß er jetzt durch die Sachsen-
gängerei ein wenig hinaufgeschraubt worden und auskömmlich sei, so muß man
doch aus der Fortdauer des Abflusses schließen, daß es den Leuten in Sachsen,
M Westen und in den großen Städten besser gefällt als daheim. Wer das
bessere kennen gelernt hat, dein gefällt eben das Schlechtere nicht mehr. Dazu
kvnimt noch ein merkwürdiger Umstand. Seit mehr als zwei Jahrzehnten be¬
obachte ich mit steigender Verwunderung, wie geflissentlich man in gewissen
legenden unsers Vaterlandes bemüht ist, den Landleuten, und namentlich den
Endlichen Arbeitern, die Heimat zu verleiden dnrch allerlei Polizeivorschriften
Kilt Maßregeln, die mehr Dienst- und Pflichteifer als Menschenkenntnis und
Weisheit verraten. Ja wenn es sich um Zustände handelte, wie die in Ur. 13
d^r Grenzboten geschilderten des Vogelsberges! Aber davon ist keine Rede.
handelt sich um ganz harmlose Dinge, um die Kirmeßfeier und den Sonntags-
^uz, die voriges Jahr in den Grenzboten erwähnt wurden, und ähnliches.
-Man den" auch oft genug die Klage, daß es "Genußsucht, Vergnügungs¬
sucht und das Verlangen nach Ungebundenheit und Zügellosigkeit" sei, was


Die soziale Frage

auf eine Geschmacksfrage. Gewöhnlich versteht man unter innerer Kolonisation
die Besiedelung von Parzellen großer Güter (unkultivirtes Land haben wir
in Deutschland nur uoch sehr wenig) mit Kleinbauern. Da aber Landwirt¬
schaft und Industrie in enger gegenseitiger Abhängigkeit von einander stehen
die Gutsbesitzer der industrielosen Provinzen Ost- und Westpreußen werden
ihr Getreide daheim nicht los, und Mittel- und Westdeutschland mag es
uicht — so haben wir die Gewerbe mit einbezogen und dem Begriff einen
weitern Umfang gegeben.

Was nun die innere Kolonisation in dem bisher üblichen Sinn anlangt, so
können wir die bekannten darauf gerichteten Maßregeln des preußischen Staates
sehr kurz abfertigen. Die Zahl der Westdeutschen Landwirte, die durch das
Ansiedelnngsgesetz für Posen und Westpreußen in diese dünner bevölkerten
Gegenden übergeführt werden kann, ist, selbst wenn alles nach Wunsch geht,
so gering, daß eine erhebliche Verschiebung der Bevölkerungsverhältnisse da¬
durch nicht bewirkt wird; zudem wird der Abfluß deutscher Bauern aus dem
Westen durch den Zufluß polnischer Arbeiter dahin mehr als ausgeglichen.
Der Gesetzentwurf über die Rentengüter aber ist zwar im Herrenhause als
gutgemeint und unschädlich angenommen worden, aber zugleich haben die meisten
der Großgrundbesitzer, die am 22. März und am 25. April das Wort er¬
griffen, rund heraus erklärt, daß uach ihrer Ansicht von dem Gesetze nur
wenig Gebrauch gemacht werden wird; und die Herren sind doch ohne Zweifel
Sachverständige.

Auch hier wird alles auf den Geschmack ankommen. Hie und da war
der Arbeitslohn der ländlichen Tagelöhner in den östlichen Provinzen so tief
gesunken, daß sie schlechterdings nicht mehr dabei bestehen konnten und aus¬
wandern mußten. Nehmen wir aber auch an, daß er jetzt durch die Sachsen-
gängerei ein wenig hinaufgeschraubt worden und auskömmlich sei, so muß man
doch aus der Fortdauer des Abflusses schließen, daß es den Leuten in Sachsen,
M Westen und in den großen Städten besser gefällt als daheim. Wer das
bessere kennen gelernt hat, dein gefällt eben das Schlechtere nicht mehr. Dazu
kvnimt noch ein merkwürdiger Umstand. Seit mehr als zwei Jahrzehnten be¬
obachte ich mit steigender Verwunderung, wie geflissentlich man in gewissen
legenden unsers Vaterlandes bemüht ist, den Landleuten, und namentlich den
Endlichen Arbeitern, die Heimat zu verleiden dnrch allerlei Polizeivorschriften
Kilt Maßregeln, die mehr Dienst- und Pflichteifer als Menschenkenntnis und
Weisheit verraten. Ja wenn es sich um Zustände handelte, wie die in Ur. 13
d^r Grenzboten geschilderten des Vogelsberges! Aber davon ist keine Rede.
handelt sich um ganz harmlose Dinge, um die Kirmeßfeier und den Sonntags-
^uz, die voriges Jahr in den Grenzboten erwähnt wurden, und ähnliches.
-Man den» auch oft genug die Klage, daß es „Genußsucht, Vergnügungs¬
sucht und das Verlangen nach Ungebundenheit und Zügellosigkeit" sei, was


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[0375] Die soziale Frage auf eine Geschmacksfrage. Gewöhnlich versteht man unter innerer Kolonisation die Besiedelung von Parzellen großer Güter (unkultivirtes Land haben wir in Deutschland nur uoch sehr wenig) mit Kleinbauern. Da aber Landwirt¬ schaft und Industrie in enger gegenseitiger Abhängigkeit von einander stehen die Gutsbesitzer der industrielosen Provinzen Ost- und Westpreußen werden ihr Getreide daheim nicht los, und Mittel- und Westdeutschland mag es uicht — so haben wir die Gewerbe mit einbezogen und dem Begriff einen weitern Umfang gegeben. Was nun die innere Kolonisation in dem bisher üblichen Sinn anlangt, so können wir die bekannten darauf gerichteten Maßregeln des preußischen Staates sehr kurz abfertigen. Die Zahl der Westdeutschen Landwirte, die durch das Ansiedelnngsgesetz für Posen und Westpreußen in diese dünner bevölkerten Gegenden übergeführt werden kann, ist, selbst wenn alles nach Wunsch geht, so gering, daß eine erhebliche Verschiebung der Bevölkerungsverhältnisse da¬ durch nicht bewirkt wird; zudem wird der Abfluß deutscher Bauern aus dem Westen durch den Zufluß polnischer Arbeiter dahin mehr als ausgeglichen. Der Gesetzentwurf über die Rentengüter aber ist zwar im Herrenhause als gutgemeint und unschädlich angenommen worden, aber zugleich haben die meisten der Großgrundbesitzer, die am 22. März und am 25. April das Wort er¬ griffen, rund heraus erklärt, daß uach ihrer Ansicht von dem Gesetze nur wenig Gebrauch gemacht werden wird; und die Herren sind doch ohne Zweifel Sachverständige. Auch hier wird alles auf den Geschmack ankommen. Hie und da war der Arbeitslohn der ländlichen Tagelöhner in den östlichen Provinzen so tief gesunken, daß sie schlechterdings nicht mehr dabei bestehen konnten und aus¬ wandern mußten. Nehmen wir aber auch an, daß er jetzt durch die Sachsen- gängerei ein wenig hinaufgeschraubt worden und auskömmlich sei, so muß man doch aus der Fortdauer des Abflusses schließen, daß es den Leuten in Sachsen, M Westen und in den großen Städten besser gefällt als daheim. Wer das bessere kennen gelernt hat, dein gefällt eben das Schlechtere nicht mehr. Dazu kvnimt noch ein merkwürdiger Umstand. Seit mehr als zwei Jahrzehnten be¬ obachte ich mit steigender Verwunderung, wie geflissentlich man in gewissen legenden unsers Vaterlandes bemüht ist, den Landleuten, und namentlich den Endlichen Arbeitern, die Heimat zu verleiden dnrch allerlei Polizeivorschriften Kilt Maßregeln, die mehr Dienst- und Pflichteifer als Menschenkenntnis und Weisheit verraten. Ja wenn es sich um Zustände handelte, wie die in Ur. 13 d^r Grenzboten geschilderten des Vogelsberges! Aber davon ist keine Rede. handelt sich um ganz harmlose Dinge, um die Kirmeßfeier und den Sonntags- ^uz, die voriges Jahr in den Grenzboten erwähnt wurden, und ähnliches. -Man den» auch oft genug die Klage, daß es „Genußsucht, Vergnügungs¬ sucht und das Verlangen nach Ungebundenheit und Zügellosigkeit" sei, was

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/375>, abgerufen am 22.07.2024.