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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Die soziale Frage

unter Wege in vollkommnerer Form wieder hergestellt werde. Auch hier kommt
die Kunst dem Handwerk zu Hilfe; je mehr der Geschmack an Leinen- und
Seidendamast, an Brokaten, an neuen, selbständig erfundenen Mustern steigt,
desto weniger vermag die Maschine mit dein durch die beständige Mitwirkung
von Auge und Geist unterstützten Handweber zu konkurriren. Die höchste
Stufe der Weberei, die Gobelinweberei, bleibt der Handarbeit sicher. Die Be-
klcidungshandwerker haben die Maschine nicht zu fürchten, im Gegenteil er¬
leichtert ihnen die Nähmaschine ihre Arbeit ganz außerordentlich. Dagegen
geraten sie mehr und mehr in die Hörigkeit kapitalistischer Unternehmer. Es
sind dies namentlich die Schneider, Schuhmacher und Handschuhmacher samt
ihren Leidensgefährtinnen, den Konfektionsdamen, Putzmacherinnen, Wäsche-
näherinnen, Stickerinnen, Wollarbeiterinnen, Posamentennrbeiterinnen n. s. w.
Aber auch ihretwegen braucht man nicht zu verzweifeln, vielmehr darf man
ihre Wiederherstellung durch reformirte Innungen und namentlich durch eine
Reform deS Kreditwesens (nicht im Sinne der Vorschnßvereine) erwarten.

Obwohl unsre Übersicht auf Vollständigkeit keinen Anspruch erhebt, haben
wir doch eine stattliche Reihe von Gewerben gefunden, die sich weder von der
Dampfmaschine noch vom Großkapital bedroht fühlen, und was die bedrohten,
geschädigten und teilweise vernichteten anlangt, so vermochten wir auf einen
Rettungsweg hinzuweisen. Durch das Geschrei: die Zeit des Handwerks sei
ein für allemal vorüber, es habe einfach der Großindustrie Platz zu machen,
darf man sich nicht beirren lassen. Dieses Geschrei wird in einer dafür be¬
zahlten Presse im Auftrage vou Leuten erhoben, die ein Interesse daran haben,
die Handwerker von allen Versuchen korporativer Selbsthilfe abzuschrecken und
sie zu entmutigen. Wenn übrigens auch die Fabrikation gewisser Stück für
Stück gleichartiger Gegenstände des Massenverbrauchs, wie der glatten Ge¬
webe, der Großindustrie für immer verbliebe, so würde dadurch dem Hand¬
werk doch nur ein kleiner Teil seines Gebiets entzogen sein, ohne daß sein
Bestand im großen und ganzen angetastet würde. Ist nun aber der Fort¬
bestand des mittlern und kleinen Gewerbebetriebes gesichert, so ist anch die
Anhäufung der Handwerker in Großstädten und der Gewerbenrbeiter in Industrie-
bezirken nicht in dem Grade nötig, wie wir sie jetzt erleben, vielmehr ihre Ver¬
teilung übers Land möglich, und sie wird um so leichter durchzuführen sein,
je mehr durch die Vervollkommnung der Einrichtungen für Kraftübertragung
der Betrieb kleiner Maschinen ermöglicht und durch Nnsgestnltuug der Bahn-
nnd Kanalnetze der Absatz der Erzeugnisse nud die Herbeischaffung des Roh¬
materials erleichtert wird. Ob aber dieser Dezentralisirnngsprozeß eintritt, und
wie rasch oder langsam er fortgeht, das hangt ganz wesentlich davon ab, ob
die Großstädter Lust haben, aufs Land zurückzukehren, und ob die Kleinstädter
und die Dörfler Lust haben, daheim zu bleiben; ob ihnen das Freie besser ge¬
fällt als mauerumschlvssene Räume. So stoßen wir denn zum zweitenmale


Die soziale Frage

unter Wege in vollkommnerer Form wieder hergestellt werde. Auch hier kommt
die Kunst dem Handwerk zu Hilfe; je mehr der Geschmack an Leinen- und
Seidendamast, an Brokaten, an neuen, selbständig erfundenen Mustern steigt,
desto weniger vermag die Maschine mit dein durch die beständige Mitwirkung
von Auge und Geist unterstützten Handweber zu konkurriren. Die höchste
Stufe der Weberei, die Gobelinweberei, bleibt der Handarbeit sicher. Die Be-
klcidungshandwerker haben die Maschine nicht zu fürchten, im Gegenteil er¬
leichtert ihnen die Nähmaschine ihre Arbeit ganz außerordentlich. Dagegen
geraten sie mehr und mehr in die Hörigkeit kapitalistischer Unternehmer. Es
sind dies namentlich die Schneider, Schuhmacher und Handschuhmacher samt
ihren Leidensgefährtinnen, den Konfektionsdamen, Putzmacherinnen, Wäsche-
näherinnen, Stickerinnen, Wollarbeiterinnen, Posamentennrbeiterinnen n. s. w.
Aber auch ihretwegen braucht man nicht zu verzweifeln, vielmehr darf man
ihre Wiederherstellung durch reformirte Innungen und namentlich durch eine
Reform deS Kreditwesens (nicht im Sinne der Vorschnßvereine) erwarten.

Obwohl unsre Übersicht auf Vollständigkeit keinen Anspruch erhebt, haben
wir doch eine stattliche Reihe von Gewerben gefunden, die sich weder von der
Dampfmaschine noch vom Großkapital bedroht fühlen, und was die bedrohten,
geschädigten und teilweise vernichteten anlangt, so vermochten wir auf einen
Rettungsweg hinzuweisen. Durch das Geschrei: die Zeit des Handwerks sei
ein für allemal vorüber, es habe einfach der Großindustrie Platz zu machen,
darf man sich nicht beirren lassen. Dieses Geschrei wird in einer dafür be¬
zahlten Presse im Auftrage vou Leuten erhoben, die ein Interesse daran haben,
die Handwerker von allen Versuchen korporativer Selbsthilfe abzuschrecken und
sie zu entmutigen. Wenn übrigens auch die Fabrikation gewisser Stück für
Stück gleichartiger Gegenstände des Massenverbrauchs, wie der glatten Ge¬
webe, der Großindustrie für immer verbliebe, so würde dadurch dem Hand¬
werk doch nur ein kleiner Teil seines Gebiets entzogen sein, ohne daß sein
Bestand im großen und ganzen angetastet würde. Ist nun aber der Fort¬
bestand des mittlern und kleinen Gewerbebetriebes gesichert, so ist anch die
Anhäufung der Handwerker in Großstädten und der Gewerbenrbeiter in Industrie-
bezirken nicht in dem Grade nötig, wie wir sie jetzt erleben, vielmehr ihre Ver¬
teilung übers Land möglich, und sie wird um so leichter durchzuführen sein,
je mehr durch die Vervollkommnung der Einrichtungen für Kraftübertragung
der Betrieb kleiner Maschinen ermöglicht und durch Nnsgestnltuug der Bahn-
nnd Kanalnetze der Absatz der Erzeugnisse nud die Herbeischaffung des Roh¬
materials erleichtert wird. Ob aber dieser Dezentralisirnngsprozeß eintritt, und
wie rasch oder langsam er fortgeht, das hangt ganz wesentlich davon ab, ob
die Großstädter Lust haben, aufs Land zurückzukehren, und ob die Kleinstädter
und die Dörfler Lust haben, daheim zu bleiben; ob ihnen das Freie besser ge¬
fällt als mauerumschlvssene Räume. So stoßen wir denn zum zweitenmale


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[0374] Die soziale Frage unter Wege in vollkommnerer Form wieder hergestellt werde. Auch hier kommt die Kunst dem Handwerk zu Hilfe; je mehr der Geschmack an Leinen- und Seidendamast, an Brokaten, an neuen, selbständig erfundenen Mustern steigt, desto weniger vermag die Maschine mit dein durch die beständige Mitwirkung von Auge und Geist unterstützten Handweber zu konkurriren. Die höchste Stufe der Weberei, die Gobelinweberei, bleibt der Handarbeit sicher. Die Be- klcidungshandwerker haben die Maschine nicht zu fürchten, im Gegenteil er¬ leichtert ihnen die Nähmaschine ihre Arbeit ganz außerordentlich. Dagegen geraten sie mehr und mehr in die Hörigkeit kapitalistischer Unternehmer. Es sind dies namentlich die Schneider, Schuhmacher und Handschuhmacher samt ihren Leidensgefährtinnen, den Konfektionsdamen, Putzmacherinnen, Wäsche- näherinnen, Stickerinnen, Wollarbeiterinnen, Posamentennrbeiterinnen n. s. w. Aber auch ihretwegen braucht man nicht zu verzweifeln, vielmehr darf man ihre Wiederherstellung durch reformirte Innungen und namentlich durch eine Reform deS Kreditwesens (nicht im Sinne der Vorschnßvereine) erwarten. Obwohl unsre Übersicht auf Vollständigkeit keinen Anspruch erhebt, haben wir doch eine stattliche Reihe von Gewerben gefunden, die sich weder von der Dampfmaschine noch vom Großkapital bedroht fühlen, und was die bedrohten, geschädigten und teilweise vernichteten anlangt, so vermochten wir auf einen Rettungsweg hinzuweisen. Durch das Geschrei: die Zeit des Handwerks sei ein für allemal vorüber, es habe einfach der Großindustrie Platz zu machen, darf man sich nicht beirren lassen. Dieses Geschrei wird in einer dafür be¬ zahlten Presse im Auftrage vou Leuten erhoben, die ein Interesse daran haben, die Handwerker von allen Versuchen korporativer Selbsthilfe abzuschrecken und sie zu entmutigen. Wenn übrigens auch die Fabrikation gewisser Stück für Stück gleichartiger Gegenstände des Massenverbrauchs, wie der glatten Ge¬ webe, der Großindustrie für immer verbliebe, so würde dadurch dem Hand¬ werk doch nur ein kleiner Teil seines Gebiets entzogen sein, ohne daß sein Bestand im großen und ganzen angetastet würde. Ist nun aber der Fort¬ bestand des mittlern und kleinen Gewerbebetriebes gesichert, so ist anch die Anhäufung der Handwerker in Großstädten und der Gewerbenrbeiter in Industrie- bezirken nicht in dem Grade nötig, wie wir sie jetzt erleben, vielmehr ihre Ver¬ teilung übers Land möglich, und sie wird um so leichter durchzuführen sein, je mehr durch die Vervollkommnung der Einrichtungen für Kraftübertragung der Betrieb kleiner Maschinen ermöglicht und durch Nnsgestnltuug der Bahn- nnd Kanalnetze der Absatz der Erzeugnisse nud die Herbeischaffung des Roh¬ materials erleichtert wird. Ob aber dieser Dezentralisirnngsprozeß eintritt, und wie rasch oder langsam er fortgeht, das hangt ganz wesentlich davon ab, ob die Großstädter Lust haben, aufs Land zurückzukehren, und ob die Kleinstädter und die Dörfler Lust haben, daheim zu bleiben; ob ihnen das Freie besser ge¬ fällt als mauerumschlvssene Räume. So stoßen wir denn zum zweitenmale

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/374>, abgerufen am 22.07.2024.