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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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je nach den Kulturverhältnissen bald enger bald weiter sind-, niemals aber
betrachten wir ihn als ein notwendiges, möglichst zu beschränkendes Übel;
immer ist uns der Staat das großartigste sittliche Institut zur Erziehung des
Menschengeschlechts." Von diesem Standpunkt ans, dem modern-reformato-
rischen gegenüber dem ultramontan-kirchlichen und dem manchesterlichen, die
sich beide darin begegnen, den Staat als ein "Übel" anzusehen und so zu
behandeln, von diesem Standpunkt aus ist es von selbst gegeben, daß der Staat
die wirtschaftlich schwachen gegen egoistische Klasseninteressen schützt und sie
in ihren Daseinsbedingungen auch positiv fördert. Das heißt soziale Reform
treiben. "Vorausgesetzt wird dabei natürlich -- sagt Bismarck in seinem
Schreiben an den Handelsminister --, daß dies in der rechten Weise und dem
rechten Sinne geschieht, wobei ich freilich darin abweiche, als ob eine bloße
Klarlegung und Diskussion der sozialistischen Forderungen dieselben erst recht
eigentlich in die Öffentlichkeit einführen und damit die Gefahren heraufbeschwören
werde, die man vermeiden wolle." Es scheint ihm vielmehr ein ganz vergeb¬
liches Bemühen, die sozialistischen Lehren und Forderungen ignoriren oder ihre
Gefahren durch Stillschweigen beschwören zu wollen; dazu seien sie bereits viel
zu tief und zu breit in die Massen eingedrungen. "Im Gegenteil erscheint es
mir als dringend geboten, dieselben so laut und so öffentlich als möglich zu
erörtern, damit die irregeleiteten Massen nicht immer lediglich die Stimme der
Agitatoren vernehmen, sondern ans dem Für und Wider lernen, was an ihren
Forderungen berechtigt und unberechtigt, möglich und unmöglich ist." Dn der
Handelsminister selbst in seinen: Bericht unter den Dingen, die bereits zur
Besserung der Lage der arbeitenden Klassen in Preußen geschaffen seien, mich
die gewerblichen Schiedsgerichte mit aufgezahlt und gehofft hatte, daß sich aus
diesen Schieds- und Einigungsümter bilden würden, so ergreift Bismarck die
Gelegenheit und weist den Handelsminister darauf hin, daß sehr wichtige soziale
Forderungen gerade ein berechtigter Gegenstand für das Wirken dieser Ämter
sein müßten. "Daß hierbei die brennendsten Fragen von Arbeitszeit und
Arbeitslohn, Wohnungsnot und dergleichen nicht ausgeschlossen werden dürfen,
betrachte ich als selbstverständlich, umso mehr, als' Ew. Exzellenz in den
Schieds- und Einigungsämtern selbst Institute vorschlagen, welche recht
eigentlich auf die Regulirung der beiden ersten Fragen (Arbeitszeit und Arbeits¬
lohn) berechnet find, und es als ein vergebliches Bestreben erscheint, die Agi¬
tation zu beschwören, wenn man den Agitatoren ihre besten Aqitntionsmittel
beläßt."

Daß auch der Handelsminister, wenn er uicht rat- und thatlos der ganzen
Arbeiterbewegung gegenüberstehen wollte, nicht seinen ninnchesterlicheu Standpunkt
unverrückt festhalten konnte, geht aus dem Artikel der Provinzialkorrespondenz
vom 4. September l"72 hervor, worin er bereits soweit gekommen ist, den
von ihm selbst gehofften Schieds- und Eiuigungsämtern eine sehr starke so-


je nach den Kulturverhältnissen bald enger bald weiter sind-, niemals aber
betrachten wir ihn als ein notwendiges, möglichst zu beschränkendes Übel;
immer ist uns der Staat das großartigste sittliche Institut zur Erziehung des
Menschengeschlechts." Von diesem Standpunkt ans, dem modern-reformato-
rischen gegenüber dem ultramontan-kirchlichen und dem manchesterlichen, die
sich beide darin begegnen, den Staat als ein „Übel" anzusehen und so zu
behandeln, von diesem Standpunkt aus ist es von selbst gegeben, daß der Staat
die wirtschaftlich schwachen gegen egoistische Klasseninteressen schützt und sie
in ihren Daseinsbedingungen auch positiv fördert. Das heißt soziale Reform
treiben. „Vorausgesetzt wird dabei natürlich — sagt Bismarck in seinem
Schreiben an den Handelsminister —, daß dies in der rechten Weise und dem
rechten Sinne geschieht, wobei ich freilich darin abweiche, als ob eine bloße
Klarlegung und Diskussion der sozialistischen Forderungen dieselben erst recht
eigentlich in die Öffentlichkeit einführen und damit die Gefahren heraufbeschwören
werde, die man vermeiden wolle." Es scheint ihm vielmehr ein ganz vergeb¬
liches Bemühen, die sozialistischen Lehren und Forderungen ignoriren oder ihre
Gefahren durch Stillschweigen beschwören zu wollen; dazu seien sie bereits viel
zu tief und zu breit in die Massen eingedrungen. „Im Gegenteil erscheint es
mir als dringend geboten, dieselben so laut und so öffentlich als möglich zu
erörtern, damit die irregeleiteten Massen nicht immer lediglich die Stimme der
Agitatoren vernehmen, sondern ans dem Für und Wider lernen, was an ihren
Forderungen berechtigt und unberechtigt, möglich und unmöglich ist." Dn der
Handelsminister selbst in seinen: Bericht unter den Dingen, die bereits zur
Besserung der Lage der arbeitenden Klassen in Preußen geschaffen seien, mich
die gewerblichen Schiedsgerichte mit aufgezahlt und gehofft hatte, daß sich aus
diesen Schieds- und Einigungsümter bilden würden, so ergreift Bismarck die
Gelegenheit und weist den Handelsminister darauf hin, daß sehr wichtige soziale
Forderungen gerade ein berechtigter Gegenstand für das Wirken dieser Ämter
sein müßten. „Daß hierbei die brennendsten Fragen von Arbeitszeit und
Arbeitslohn, Wohnungsnot und dergleichen nicht ausgeschlossen werden dürfen,
betrachte ich als selbstverständlich, umso mehr, als' Ew. Exzellenz in den
Schieds- und Einigungsämtern selbst Institute vorschlagen, welche recht
eigentlich auf die Regulirung der beiden ersten Fragen (Arbeitszeit und Arbeits¬
lohn) berechnet find, und es als ein vergebliches Bestreben erscheint, die Agi¬
tation zu beschwören, wenn man den Agitatoren ihre besten Aqitntionsmittel
beläßt."

Daß auch der Handelsminister, wenn er uicht rat- und thatlos der ganzen
Arbeiterbewegung gegenüberstehen wollte, nicht seinen ninnchesterlicheu Standpunkt
unverrückt festhalten konnte, geht aus dem Artikel der Provinzialkorrespondenz
vom 4. September l»72 hervor, worin er bereits soweit gekommen ist, den
von ihm selbst gehofften Schieds- und Eiuigungsämtern eine sehr starke so-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/354>, abgerufen am 22.07.2024.