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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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bezeichnen ließ. Bismarck konnte dies umso weniger thun, als er die der
Arbeiterfrage innewohnende Wichtigkeit von vornherein begriff und der Be¬
friedigung der wirklichen Bedürfnisse des Arbeiterstandes sofort seine volle
Aufmerksamkeit zuwandte, als Lassalle die Arbeiterbewegung so mächtig in Gang
brachte. Die Ohnmacht des Staates, die der Handelsminister (und mit ihm
war die ganze herrschende manchesterliche Freihandelspartei) in seinen offiziösen
Preßartikeln verkündete, war niemals Bismarcks Standpunkt gewesen.

Es ist also begreiflich, daß Bismarck in der schon erwähnten Reichstags-
rede vom 17. September 1878 den Eindruck, den Lassalles Gedanken einst auf
ihn ausgeübt hatten, nicht leugnen wollte; er sah darin keine staatsverderbliche
Lehre, wie der Handelsminister, und so wies er dessen Bedenken, die sich über¬
haupt gegen eine Einmischung des Staates in die soziale Bewegung richteten,
mit den Worten zurück: "Eine Einmischung der bestehenden Staaten in
sozialistische Bewegung ist deshalb so wenig gleichbedeutend mit dem Siege
der sozialistischen Doktrin, daß mir vielmehr die Aktion der gegenwärtig
herrschenden Staatsgewalt als das einzige Mittel erscheint, der sozialistischen
Bewegung in ihrer gegenwärtigen Verirrung Halt zu gebieten und dieselbe
besonders dadurch in seltsamere Wege zu leiten, daß man realisirt, Unis in
den sozialistischen Forderungen als berechtigt erscheint und in dein Nahmen
der gegenwärtigen Staats- und Gesellschaftsordnung verwirklicht werden kann."

In dem letzten Satze liegt der Keim und der Grundgedanke unsrer ganzen
spätern Gesetzgebung zum Schutze der wirtschaftlich schwachen. Es liegt aber
auch die Auffassung darin, daß der Staat der höchste sittliche Organismus sei,
worin das Menschengeschlecht die ihm von der Vorsehung gestellten Kultur-
aufgabeu zu lösen berufen ist, wie es bereits Hegel, dieser hervorragend
Politische Denker unter den Philosophen, gelehrt hatte. Auf diesen Standpunkt
stellte sich auch -- und es war das die erste bedeutende Unterstützung, die
Bismarck jetzt, wo seine wirtschaftlichen und sozialpolitischen Gedanken der
>^elfe zustrebte", vou außen kam -- die Versammlung von Sozialpolitikern
(sogenannten Kathedersozialiste"), die im Oktober 1872 unter der Anregung
Professor Schnivllers in Eisenach zu stände kam. "Wir geben zu -- sagte
^chmvller in seine"! einleitenden Vortrage --, daß die Aufgaben des Staates



Halte er doch schon kurze Zeit "ach seinem Eintritt ins Ministerium den Gedanken ins
^>lge gefaßt, das Los der alten, invalide gewordenen Arbeiter durch Errichtung von Pensions-
^sha zu verbessern ; in einem Ende November 18W an die Mitglieder des Staatsministeriums
kMichlcteu Schreiben weist er darauf hin, wie wünschenswert es sei, den alten Tagen invalider
Arbeiter zu Hilfe zu kommen, wobei er in Anregung bringt, ob nicht die großen Konununal-
vnbnnde, namentlich die Kreise, diese soziale Aufgabe durch Errichtung von Pensivnskassen in
Hand nehmen konnten- Diese sozialreformatorischen Gedanke" lassen ihn auch während
ganzen Zeit des BerfnssmlgSkvnflikts nicht los, und weder die deutsche Frage noch der
dänische Krieg haben sie bei ihm verdrängen können.
Grenzboten II 1890 >4

bezeichnen ließ. Bismarck konnte dies umso weniger thun, als er die der
Arbeiterfrage innewohnende Wichtigkeit von vornherein begriff und der Be¬
friedigung der wirklichen Bedürfnisse des Arbeiterstandes sofort seine volle
Aufmerksamkeit zuwandte, als Lassalle die Arbeiterbewegung so mächtig in Gang
brachte. Die Ohnmacht des Staates, die der Handelsminister (und mit ihm
war die ganze herrschende manchesterliche Freihandelspartei) in seinen offiziösen
Preßartikeln verkündete, war niemals Bismarcks Standpunkt gewesen.

Es ist also begreiflich, daß Bismarck in der schon erwähnten Reichstags-
rede vom 17. September 1878 den Eindruck, den Lassalles Gedanken einst auf
ihn ausgeübt hatten, nicht leugnen wollte; er sah darin keine staatsverderbliche
Lehre, wie der Handelsminister, und so wies er dessen Bedenken, die sich über¬
haupt gegen eine Einmischung des Staates in die soziale Bewegung richteten,
mit den Worten zurück: „Eine Einmischung der bestehenden Staaten in
sozialistische Bewegung ist deshalb so wenig gleichbedeutend mit dem Siege
der sozialistischen Doktrin, daß mir vielmehr die Aktion der gegenwärtig
herrschenden Staatsgewalt als das einzige Mittel erscheint, der sozialistischen
Bewegung in ihrer gegenwärtigen Verirrung Halt zu gebieten und dieselbe
besonders dadurch in seltsamere Wege zu leiten, daß man realisirt, Unis in
den sozialistischen Forderungen als berechtigt erscheint und in dein Nahmen
der gegenwärtigen Staats- und Gesellschaftsordnung verwirklicht werden kann."

In dem letzten Satze liegt der Keim und der Grundgedanke unsrer ganzen
spätern Gesetzgebung zum Schutze der wirtschaftlich schwachen. Es liegt aber
auch die Auffassung darin, daß der Staat der höchste sittliche Organismus sei,
worin das Menschengeschlecht die ihm von der Vorsehung gestellten Kultur-
aufgabeu zu lösen berufen ist, wie es bereits Hegel, dieser hervorragend
Politische Denker unter den Philosophen, gelehrt hatte. Auf diesen Standpunkt
stellte sich auch — und es war das die erste bedeutende Unterstützung, die
Bismarck jetzt, wo seine wirtschaftlichen und sozialpolitischen Gedanken der
>^elfe zustrebte», vou außen kam — die Versammlung von Sozialpolitikern
(sogenannten Kathedersozialiste»), die im Oktober 1872 unter der Anregung
Professor Schnivllers in Eisenach zu stände kam. „Wir geben zu — sagte
^chmvller in seine»! einleitenden Vortrage —, daß die Aufgaben des Staates



Halte er doch schon kurze Zeit »ach seinem Eintritt ins Ministerium den Gedanken ins
^>lge gefaßt, das Los der alten, invalide gewordenen Arbeiter durch Errichtung von Pensions-
^sha zu verbessern ; in einem Ende November 18W an die Mitglieder des Staatsministeriums
kMichlcteu Schreiben weist er darauf hin, wie wünschenswert es sei, den alten Tagen invalider
Arbeiter zu Hilfe zu kommen, wobei er in Anregung bringt, ob nicht die großen Konununal-
vnbnnde, namentlich die Kreise, diese soziale Aufgabe durch Errichtung von Pensivnskassen in
Hand nehmen konnten- Diese sozialreformatorischen Gedanke» lassen ihn auch während
ganzen Zeit des BerfnssmlgSkvnflikts nicht los, und weder die deutsche Frage noch der
dänische Krieg haben sie bei ihm verdrängen können.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/353>, abgerufen am 29.12.2024.