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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Bismarck und die sozialpolitische Gesetzgebung

kanzler in Gastein einen Gedankenaustausch über die Sache gehabt, der eine
Übereinstimmung der Ansichten dahin ergeben habe, daß eine Thätigkeit der
Regierungen sich in doppelter Weise äußern könne, indem sie einmal "den¬
jenigen Wünschen der arbeitenden Klassen, welche in den Wandlungen der
Prodnktivns-, Verkehrs- und Preisverhältnisse eine Berechtigung haben, durch
die Gesetzgebung und Verwaltung entgegenkommen, soweit es mit den all¬
gemeinen Staatsinteressen verträglich ist," sodann, indem sie "staatsgefährliche
Agitationen durch Verbots- und Strafgesetze hemmen, soweit es geschehen kann,
ohne ein gesundes öffentliches Leben zu verkümmern."

Wir finden hier das spätere Vorgehen Bismarcks gegen die soziale Agi¬
tation schon im Keim. Erstens also: Befriedigung der Wünsche der arbeitenden
Klassen durch Gesetzgebung und Verwaltung, soweit es mit den allgemeinen
Staatsinteressen verträglich ist. Diese Verträglichkeit mit den allgemeinen
Staatsinteressen näher zu bestimmen und ihre jeweiligen Grenzen festzustellen,
ist natürlich Sache der Gesetzgebung, und die Weisheit des Staatsmannes hat
sich auf diesem schwierigen Gebiete darin zu bewähren, daß er ermessen kann,
wie weit er gehen darf. Nachdem Bismarck auch auf diesem Gebiete, dem
sozialpolitischen, seine Studien- und Lehrjahre so durchgemacht hatte, wie vorher
für das politische Gebiet durch seine diplomatische Thätigkeit in Frankfurt,
Petersburg und Paris, stellte er sowohl die Art der Behandlung dieser Frage
als die Grenzen des Vorgehens fest in den großen sozialreformatorischcn Ge¬
setzen, die das Gebiet der Kranken- und Unfall-, der Jnvaliditäts- und Alters¬
versicherung umfassen. Den zweiten Punkt: Hemmnis der staatsgefährlichen
Agitation durch Verbots- und Strafgesetze, "soweit es geschehen kann, ohne
ein gesundes öffentliches Leben zu verkümmern," hat Bismarck durch das
Sozialistengesetz erreicht. Man muß wirklich sagen: "erreicht," nicht etwa nur:
zu erreichen gesucht. Denn daß die sozialdemokratischen Agitationen die Grund-
lagen unsers Staates nicht erschüttert haben, ja daß wir die sozialreformatorische
Gesetzgebung selbst mit jener Sicherheit in die Hand nehmen konnten, die den
Erfolg verheißt, das ist nur möglich geworden durch das Sozialisteugcsctz.
'lusuahmezustättdeu ist nur ein Ausnahmegesetz gewachsen; auch wird es dem
nihigeu Teil der Staatsbürger allem gerecht, weil es ihnen ihr Maß von
Freiheit sichert, "ohne das gesunde öffentliche Leben zu verkümmern." Der
Vorschlag des Freisinns, daß das allgemeine Recht mit solchen strafgesetzlichen
Bestimmungen versehen werden solle, die auch zur Niederhaltung der staats¬
gefährlichen Bestrebungen der sozialdemokratischen Agitation ausreichten, ist ent¬
weder ein dilettantischer Firlefanz, oder er verkümmert durch allzu starke Ve-
schreibung der allgemein biirgerlichen Freiheit das gesunde öffentliche Leben
und befördert jenen Rückschritt, dem unsre Fortschrittspartei überhaupt huldigt,
weil das Staatsgefühl in ihr wenig entwickelt ist. Da das Svzialistengesetz
allein Anschein nach seinem Ende entgegengeht, so ist die Sache, von der wir


Bismarck und die sozialpolitische Gesetzgebung

kanzler in Gastein einen Gedankenaustausch über die Sache gehabt, der eine
Übereinstimmung der Ansichten dahin ergeben habe, daß eine Thätigkeit der
Regierungen sich in doppelter Weise äußern könne, indem sie einmal „den¬
jenigen Wünschen der arbeitenden Klassen, welche in den Wandlungen der
Prodnktivns-, Verkehrs- und Preisverhältnisse eine Berechtigung haben, durch
die Gesetzgebung und Verwaltung entgegenkommen, soweit es mit den all¬
gemeinen Staatsinteressen verträglich ist," sodann, indem sie „staatsgefährliche
Agitationen durch Verbots- und Strafgesetze hemmen, soweit es geschehen kann,
ohne ein gesundes öffentliches Leben zu verkümmern."

Wir finden hier das spätere Vorgehen Bismarcks gegen die soziale Agi¬
tation schon im Keim. Erstens also: Befriedigung der Wünsche der arbeitenden
Klassen durch Gesetzgebung und Verwaltung, soweit es mit den allgemeinen
Staatsinteressen verträglich ist. Diese Verträglichkeit mit den allgemeinen
Staatsinteressen näher zu bestimmen und ihre jeweiligen Grenzen festzustellen,
ist natürlich Sache der Gesetzgebung, und die Weisheit des Staatsmannes hat
sich auf diesem schwierigen Gebiete darin zu bewähren, daß er ermessen kann,
wie weit er gehen darf. Nachdem Bismarck auch auf diesem Gebiete, dem
sozialpolitischen, seine Studien- und Lehrjahre so durchgemacht hatte, wie vorher
für das politische Gebiet durch seine diplomatische Thätigkeit in Frankfurt,
Petersburg und Paris, stellte er sowohl die Art der Behandlung dieser Frage
als die Grenzen des Vorgehens fest in den großen sozialreformatorischcn Ge¬
setzen, die das Gebiet der Kranken- und Unfall-, der Jnvaliditäts- und Alters¬
versicherung umfassen. Den zweiten Punkt: Hemmnis der staatsgefährlichen
Agitation durch Verbots- und Strafgesetze, „soweit es geschehen kann, ohne
ein gesundes öffentliches Leben zu verkümmern," hat Bismarck durch das
Sozialistengesetz erreicht. Man muß wirklich sagen: „erreicht," nicht etwa nur:
zu erreichen gesucht. Denn daß die sozialdemokratischen Agitationen die Grund-
lagen unsers Staates nicht erschüttert haben, ja daß wir die sozialreformatorische
Gesetzgebung selbst mit jener Sicherheit in die Hand nehmen konnten, die den
Erfolg verheißt, das ist nur möglich geworden durch das Sozialisteugcsctz.
'lusuahmezustättdeu ist nur ein Ausnahmegesetz gewachsen; auch wird es dem
nihigeu Teil der Staatsbürger allem gerecht, weil es ihnen ihr Maß von
Freiheit sichert, „ohne das gesunde öffentliche Leben zu verkümmern." Der
Vorschlag des Freisinns, daß das allgemeine Recht mit solchen strafgesetzlichen
Bestimmungen versehen werden solle, die auch zur Niederhaltung der staats¬
gefährlichen Bestrebungen der sozialdemokratischen Agitation ausreichten, ist ent¬
weder ein dilettantischer Firlefanz, oder er verkümmert durch allzu starke Ve-
schreibung der allgemein biirgerlichen Freiheit das gesunde öffentliche Leben
und befördert jenen Rückschritt, dem unsre Fortschrittspartei überhaupt huldigt,
weil das Staatsgefühl in ihr wenig entwickelt ist. Da das Svzialistengesetz
allein Anschein nach seinem Ende entgegengeht, so ist die Sache, von der wir


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[0347] Bismarck und die sozialpolitische Gesetzgebung kanzler in Gastein einen Gedankenaustausch über die Sache gehabt, der eine Übereinstimmung der Ansichten dahin ergeben habe, daß eine Thätigkeit der Regierungen sich in doppelter Weise äußern könne, indem sie einmal „den¬ jenigen Wünschen der arbeitenden Klassen, welche in den Wandlungen der Prodnktivns-, Verkehrs- und Preisverhältnisse eine Berechtigung haben, durch die Gesetzgebung und Verwaltung entgegenkommen, soweit es mit den all¬ gemeinen Staatsinteressen verträglich ist," sodann, indem sie „staatsgefährliche Agitationen durch Verbots- und Strafgesetze hemmen, soweit es geschehen kann, ohne ein gesundes öffentliches Leben zu verkümmern." Wir finden hier das spätere Vorgehen Bismarcks gegen die soziale Agi¬ tation schon im Keim. Erstens also: Befriedigung der Wünsche der arbeitenden Klassen durch Gesetzgebung und Verwaltung, soweit es mit den allgemeinen Staatsinteressen verträglich ist. Diese Verträglichkeit mit den allgemeinen Staatsinteressen näher zu bestimmen und ihre jeweiligen Grenzen festzustellen, ist natürlich Sache der Gesetzgebung, und die Weisheit des Staatsmannes hat sich auf diesem schwierigen Gebiete darin zu bewähren, daß er ermessen kann, wie weit er gehen darf. Nachdem Bismarck auch auf diesem Gebiete, dem sozialpolitischen, seine Studien- und Lehrjahre so durchgemacht hatte, wie vorher für das politische Gebiet durch seine diplomatische Thätigkeit in Frankfurt, Petersburg und Paris, stellte er sowohl die Art der Behandlung dieser Frage als die Grenzen des Vorgehens fest in den großen sozialreformatorischcn Ge¬ setzen, die das Gebiet der Kranken- und Unfall-, der Jnvaliditäts- und Alters¬ versicherung umfassen. Den zweiten Punkt: Hemmnis der staatsgefährlichen Agitation durch Verbots- und Strafgesetze, „soweit es geschehen kann, ohne ein gesundes öffentliches Leben zu verkümmern," hat Bismarck durch das Sozialistengesetz erreicht. Man muß wirklich sagen: „erreicht," nicht etwa nur: zu erreichen gesucht. Denn daß die sozialdemokratischen Agitationen die Grund- lagen unsers Staates nicht erschüttert haben, ja daß wir die sozialreformatorische Gesetzgebung selbst mit jener Sicherheit in die Hand nehmen konnten, die den Erfolg verheißt, das ist nur möglich geworden durch das Sozialisteugcsctz. 'lusuahmezustättdeu ist nur ein Ausnahmegesetz gewachsen; auch wird es dem nihigeu Teil der Staatsbürger allem gerecht, weil es ihnen ihr Maß von Freiheit sichert, „ohne das gesunde öffentliche Leben zu verkümmern." Der Vorschlag des Freisinns, daß das allgemeine Recht mit solchen strafgesetzlichen Bestimmungen versehen werden solle, die auch zur Niederhaltung der staats¬ gefährlichen Bestrebungen der sozialdemokratischen Agitation ausreichten, ist ent¬ weder ein dilettantischer Firlefanz, oder er verkümmert durch allzu starke Ve- schreibung der allgemein biirgerlichen Freiheit das gesunde öffentliche Leben und befördert jenen Rückschritt, dem unsre Fortschrittspartei überhaupt huldigt, weil das Staatsgefühl in ihr wenig entwickelt ist. Da das Svzialistengesetz allein Anschein nach seinem Ende entgegengeht, so ist die Sache, von der wir

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/347>, abgerufen am 22.07.2024.