Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches und Verhältnisse darin finden. Auf einen einzelnen Vers läßt sich kein Gebäude Der Grundsatz, daß die Männer genau unter denselben sittlichen Gesetzen Ans dieser Verwischung von Grenzen, die der Schöpfer selbst gezogen hat, Maßgebliches und Unmaßgebliches und Verhältnisse darin finden. Auf einen einzelnen Vers läßt sich kein Gebäude Der Grundsatz, daß die Männer genau unter denselben sittlichen Gesetzen Ans dieser Verwischung von Grenzen, die der Schöpfer selbst gezogen hat, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0336" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/207631"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_923" prev="#ID_922"> und Verhältnisse darin finden. Auf einen einzelnen Vers läßt sich kein Gebäude<lb/> der Sittenlehre bauen. Menschen gewöhnlichen Schlages halten sich am besten an<lb/> 1. Kor. 7, 2—9 und an die Spruchdichter des Alten Testaments: Sprichwörter,<lb/> Jesus Sirach und Prediger, namentlich Prediger 11, 9. Wie milde Christus ge¬<lb/> schlechtliche Fehltritte beurteilte, ist aus vielen Stellen des Neuen Testaments bekannt.<lb/> Die richtige Mittelstraße zwischen einem unnatürlichen Rigorismus, der uur Unheil<lb/> stiftet, und frecher Zügellosigkeit hat unter den Theologen Luther und unter den<lb/> Dichtern Goethe gezeigt. Diese Mittelstraße gegen den litterarischen Ansturm von<lb/> rechts und links zu behaupten, das ist eine wesentliche Bedingung fiir die Erhaltung<lb/> der Gesundheit unsers deutsche» Volkes.</p><lb/> <p xml:id="ID_924"> Der Grundsatz, daß die Männer genau unter denselben sittlichen Gesetzen<lb/> stünden wie die Frauen und Jungfrauen, daß demnach beider Verhalten mit dem¬<lb/> selben Maßstabe zu luesseu sei, ist insofern bereits durchgeführt, als ein öffentlicher<lb/> Protest dagegen schon sehr gewagt erscheint, und die Männer sich in der Unter¬<lb/> haltung und bei ihren Vergnügungen nicht leicht etwas herausnehmen dürfen, was<lb/> sich für Frnueu, Mädchen und Kinder nicht schickt. Goethe war darin andrer<lb/> Meinung und forderte für Männer und verheiratete Frauen jene Vorrechte zurück,<lb/> die ihnen bei den alten Athenern eingeräumt waren; Mädchen gehören nicht inS<lb/> Theater, sondern ins Kloster, sagte er am 29. Januar 1826 zu Eckermann. Und<lb/> wie er die Verkürzung der Männerrechte zu Gunsten der Backfische und Kinder<lb/> nicht billigte, so würde er anderseits die Erweiterung der Frauen- und Mädchen¬<lb/> rechte, die aus der Gleichstellung beider Geschlechter unvermeidlich hervorgehen muß,<lb/> und von der wir schon recht bedenkliche Proben sehen, kaum billigen; ein öffent¬<lb/> liches Damenwettschwimmen und eine Schöuheitskoukurreuz würde ihm vielleicht<lb/> von der ästhetische», aber günz und gar nicht von der sozialen und der sittlichen<lb/> Seite gefallen. Ob nnn die unverheirateten Männer durch jene Gleichstcllungs-<lb/> bestrebuugen dem Zustande der Jungfräulichkeit erheblich näher gekommen sind, das<lb/> zu ergründen überlassen wir den Ärzten, Polizeibeamten und Strafrichtern. Aber<lb/> daß auch in der Litteratur die Beschneidung der Männerrechte durch eine nicht<lb/> unbedenkliche Erweiterung der Frauen- und Mädchenrechte ausgeglichen wird, darüber<lb/> darf und muß öffentlich gesprochen werden. Eine Komödie im Stile des Aristo-<lb/> Phanes oder des Aretino dürfen sich die Männer nicht ansehen, sie darf überhaupt<lb/> nicht aufgeführt werdeu. Aber die Rechtfertigung des Ehebruchs in französischen<lb/> und französelnden Stücken und die musikalisch-poetische Verherrlichung der Brunst<lb/> in der Nibeluugentrilvgie dürfen sich deutsche Frauen und Mädchen ansehen und<lb/> anhören; müssen es sogar thun, wenn sie nicht fiir ungebildet gelten wollen.</p><lb/> <p xml:id="ID_925" next="#ID_926"> Ans dieser Verwischung von Grenzen, die der Schöpfer selbst gezogen hat,<lb/> erkläre ich mir mich die Verzeichnung eines Charakters, die einem unsrer besten<lb/> Schriftsteller, der Frau vou Ebner-Eschenbach, begegnet ist. (Wir nennen sie eine»<lb/> Schriftsteller, weil sie ein Mann zu sein verdiente, und weil, wenn eine Fran in<lb/> Kunst, Wissenschaft oder Politik u. f. w. Großes leistet, dies einem Zusätze männ¬<lb/> lichen Geistes in ihrer Naturanlage zu danken ist.) In ihrem letzten Noi»"»<lb/> „Unsühnbar" zeichnet sie uns eine mit allen Vorzügen des Körpers, Geistes,<lb/> Herzens und der Bildung ausgestattete Frau, eine echte Aristokratin. die ihre-»<lb/> Vater zu Gefallen, wie das in Romanen üblich ist, einem ungeliebten Manne d,e<lb/> Hand reicht. Aber dieser ungeliebte Mann ist ein Jdealmensch und voll der zärt¬<lb/> lichsten, stärksten und rücksichtsvollsten Liebe zu ihr, sodaß sie ein Ungeheuer few<lb/> müßte, wenn sie nicht wenigstens Hochachtung und Freundschaft für ihn empfände,<lb/> und eine Gans, wenn sie sich unglücklich fühlte; die äußern Bedingungen de-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0336]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
und Verhältnisse darin finden. Auf einen einzelnen Vers läßt sich kein Gebäude
der Sittenlehre bauen. Menschen gewöhnlichen Schlages halten sich am besten an
1. Kor. 7, 2—9 und an die Spruchdichter des Alten Testaments: Sprichwörter,
Jesus Sirach und Prediger, namentlich Prediger 11, 9. Wie milde Christus ge¬
schlechtliche Fehltritte beurteilte, ist aus vielen Stellen des Neuen Testaments bekannt.
Die richtige Mittelstraße zwischen einem unnatürlichen Rigorismus, der uur Unheil
stiftet, und frecher Zügellosigkeit hat unter den Theologen Luther und unter den
Dichtern Goethe gezeigt. Diese Mittelstraße gegen den litterarischen Ansturm von
rechts und links zu behaupten, das ist eine wesentliche Bedingung fiir die Erhaltung
der Gesundheit unsers deutsche» Volkes.
Der Grundsatz, daß die Männer genau unter denselben sittlichen Gesetzen
stünden wie die Frauen und Jungfrauen, daß demnach beider Verhalten mit dem¬
selben Maßstabe zu luesseu sei, ist insofern bereits durchgeführt, als ein öffentlicher
Protest dagegen schon sehr gewagt erscheint, und die Männer sich in der Unter¬
haltung und bei ihren Vergnügungen nicht leicht etwas herausnehmen dürfen, was
sich für Frnueu, Mädchen und Kinder nicht schickt. Goethe war darin andrer
Meinung und forderte für Männer und verheiratete Frauen jene Vorrechte zurück,
die ihnen bei den alten Athenern eingeräumt waren; Mädchen gehören nicht inS
Theater, sondern ins Kloster, sagte er am 29. Januar 1826 zu Eckermann. Und
wie er die Verkürzung der Männerrechte zu Gunsten der Backfische und Kinder
nicht billigte, so würde er anderseits die Erweiterung der Frauen- und Mädchen¬
rechte, die aus der Gleichstellung beider Geschlechter unvermeidlich hervorgehen muß,
und von der wir schon recht bedenkliche Proben sehen, kaum billigen; ein öffent¬
liches Damenwettschwimmen und eine Schöuheitskoukurreuz würde ihm vielleicht
von der ästhetische», aber günz und gar nicht von der sozialen und der sittlichen
Seite gefallen. Ob nnn die unverheirateten Männer durch jene Gleichstcllungs-
bestrebuugen dem Zustande der Jungfräulichkeit erheblich näher gekommen sind, das
zu ergründen überlassen wir den Ärzten, Polizeibeamten und Strafrichtern. Aber
daß auch in der Litteratur die Beschneidung der Männerrechte durch eine nicht
unbedenkliche Erweiterung der Frauen- und Mädchenrechte ausgeglichen wird, darüber
darf und muß öffentlich gesprochen werden. Eine Komödie im Stile des Aristo-
Phanes oder des Aretino dürfen sich die Männer nicht ansehen, sie darf überhaupt
nicht aufgeführt werdeu. Aber die Rechtfertigung des Ehebruchs in französischen
und französelnden Stücken und die musikalisch-poetische Verherrlichung der Brunst
in der Nibeluugentrilvgie dürfen sich deutsche Frauen und Mädchen ansehen und
anhören; müssen es sogar thun, wenn sie nicht fiir ungebildet gelten wollen.
Ans dieser Verwischung von Grenzen, die der Schöpfer selbst gezogen hat,
erkläre ich mir mich die Verzeichnung eines Charakters, die einem unsrer besten
Schriftsteller, der Frau vou Ebner-Eschenbach, begegnet ist. (Wir nennen sie eine»
Schriftsteller, weil sie ein Mann zu sein verdiente, und weil, wenn eine Fran in
Kunst, Wissenschaft oder Politik u. f. w. Großes leistet, dies einem Zusätze männ¬
lichen Geistes in ihrer Naturanlage zu danken ist.) In ihrem letzten Noi»"»
„Unsühnbar" zeichnet sie uns eine mit allen Vorzügen des Körpers, Geistes,
Herzens und der Bildung ausgestattete Frau, eine echte Aristokratin. die ihre-»
Vater zu Gefallen, wie das in Romanen üblich ist, einem ungeliebten Manne d,e
Hand reicht. Aber dieser ungeliebte Mann ist ein Jdealmensch und voll der zärt¬
lichsten, stärksten und rücksichtsvollsten Liebe zu ihr, sodaß sie ein Ungeheuer few
müßte, wenn sie nicht wenigstens Hochachtung und Freundschaft für ihn empfände,
und eine Gans, wenn sie sich unglücklich fühlte; die äußern Bedingungen de-
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |