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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Sittenrichter

diese arme Rieke im Sterben liege, da verlassen Prinzessin und Königin die Villa
der Pitersen und steigen die vier Treppen zur Rieke empor, um sie noch vor dem
Tode zu ehren, und alle Plage und alle Hoffnung Leontinens ist damit vernichtet.
Diese Prinzessin ist der cle-n" ox um.(allen: sie ist die Vertreterin des sittlichen
Gewissens, die uns endlich aus dem Sumpf emporhebt, sie verkörpert das Ideal,
Was bleibt nun Leontine übrig? Sie heiratet den gichtbrüchigen Grafen Trienitz,
dem seine Frau kurz vorher durchgegangen ist, sie wird also mit ihren in der Pflege
des kranken Kommerzienrath erheblicheren Millionen von neuem Krankenpflegerin.

Ein Symbol der Gegenwart ist diese Leontine wohl schwerlich bis ans
Ende der Erzählung, wie Mauthuer im Anfang andeutet. Aber man kann
auch nicht sagen, daß sie eine wahre, lebenswarme Gestalt geworden sei-
Mauthner hat sie mit einer einzigen Eigenschaft ausgestattet: der der Klugheit
im Dienste der rücksichtslosesten Selbstsucht, Leontine ist Meisterin im Ränke-
spinnen; die Fäden aller Handlung im Cyklus laufen von ihr aus; sie ist
unverfroren, niederträchtig, unsagbar gemein, unsagbar schlecht, so wie sie aus-
bündig klug ist. Der Erzähler hat eine wahre Freude daran, ihr alle mögliche
Schlauheit zuzuschreiben. Aber wahr, lebensmöglich erscheint uns diese Leontine
nicht, trotz des langen Verkehrs, den mir mit ihr durch drei Bände gepflogen
haben. Sie ist ein Hirngespinst, keine geschaute, keine poetisch empfundene
Gestalt. Sie müßte etwas Dämonisches haben, um wenigstens poetisch zu
wirken; dies hat aber Mauthners Realismus vermieden. Was immer man
der Gegenwart nachsagen mag: mit der Selbstsucht, mit dem Strebertum, mit
der Jagd uach dem Golde allein kann sie denn doch uicht ausreichend charakterisirt
werden. Also weg mit der Symbolik Leontinens! Doch wird damit die Ein¬
seitigkeit der Manthnerschen Sittenschilderung noch nicht erschöpft. Unstreitig
ist das gewaltige Anwachsen Berlins auch nach Mauthuers Auffassung "u'lM
an sich Böses, Eine so großartige Erscheinung kann nicht bloß der Erfolg
böser Mächte sein, Sie muß, da auch Mauthner weit davon entfernt ist,
grundsätzlich die Großstadt zu beklagen, gute Elemente besitzen, die uns die
Zukunft dieses großen menschlichen Gemeinwesens verbürgen. Ans die Schilderung
der Lichtseite" des Berliuertums und der Großstadt überhaupt hat sich aber
Mauthner nur höchst spärlich eingelassen; die wahrhaft gute Gesellschaft, die
Leontine fort und fort sucht, hat er uns nicht vorgeführt, nur die Schmarotzer
an der kraftvollen Pflanze, die bösen Auswüchse an dem strotzenden Wachstum,
den Sumpf, der jedes große Gewässer begleitet und die Opfer dieses Gedeihens,
die an die Wand gedrückten Menschen. Von diesem Standpunkte betrachtet ist
Manthners Darstellung unwirklich, weil sie einseitig ist. Das Bild Berlins,
das er uns entwirft, ist satirisch zugerichtet, stellenweise geradezu Karrikatur,
wenn auch im Kleinen mit vielen geistreichen Zügen ausgestattet. Den"
Mauthner kennt die faulen Kreise, die er schildert, sehr gut und bemüht fiel>
recht genau zu sein. Er versteht es zwar uicht, uus durch ein eignes ne"^


Sittenrichter

diese arme Rieke im Sterben liege, da verlassen Prinzessin und Königin die Villa
der Pitersen und steigen die vier Treppen zur Rieke empor, um sie noch vor dem
Tode zu ehren, und alle Plage und alle Hoffnung Leontinens ist damit vernichtet.
Diese Prinzessin ist der cle-n» ox um.(allen: sie ist die Vertreterin des sittlichen
Gewissens, die uns endlich aus dem Sumpf emporhebt, sie verkörpert das Ideal,
Was bleibt nun Leontine übrig? Sie heiratet den gichtbrüchigen Grafen Trienitz,
dem seine Frau kurz vorher durchgegangen ist, sie wird also mit ihren in der Pflege
des kranken Kommerzienrath erheblicheren Millionen von neuem Krankenpflegerin.

Ein Symbol der Gegenwart ist diese Leontine wohl schwerlich bis ans
Ende der Erzählung, wie Mauthuer im Anfang andeutet. Aber man kann
auch nicht sagen, daß sie eine wahre, lebenswarme Gestalt geworden sei-
Mauthner hat sie mit einer einzigen Eigenschaft ausgestattet: der der Klugheit
im Dienste der rücksichtslosesten Selbstsucht, Leontine ist Meisterin im Ränke-
spinnen; die Fäden aller Handlung im Cyklus laufen von ihr aus; sie ist
unverfroren, niederträchtig, unsagbar gemein, unsagbar schlecht, so wie sie aus-
bündig klug ist. Der Erzähler hat eine wahre Freude daran, ihr alle mögliche
Schlauheit zuzuschreiben. Aber wahr, lebensmöglich erscheint uns diese Leontine
nicht, trotz des langen Verkehrs, den mir mit ihr durch drei Bände gepflogen
haben. Sie ist ein Hirngespinst, keine geschaute, keine poetisch empfundene
Gestalt. Sie müßte etwas Dämonisches haben, um wenigstens poetisch zu
wirken; dies hat aber Mauthners Realismus vermieden. Was immer man
der Gegenwart nachsagen mag: mit der Selbstsucht, mit dem Strebertum, mit
der Jagd uach dem Golde allein kann sie denn doch uicht ausreichend charakterisirt
werden. Also weg mit der Symbolik Leontinens! Doch wird damit die Ein¬
seitigkeit der Manthnerschen Sittenschilderung noch nicht erschöpft. Unstreitig
ist das gewaltige Anwachsen Berlins auch nach Mauthuers Auffassung »u'lM
an sich Böses, Eine so großartige Erscheinung kann nicht bloß der Erfolg
böser Mächte sein, Sie muß, da auch Mauthner weit davon entfernt ist,
grundsätzlich die Großstadt zu beklagen, gute Elemente besitzen, die uns die
Zukunft dieses großen menschlichen Gemeinwesens verbürgen. Ans die Schilderung
der Lichtseite» des Berliuertums und der Großstadt überhaupt hat sich aber
Mauthner nur höchst spärlich eingelassen; die wahrhaft gute Gesellschaft, die
Leontine fort und fort sucht, hat er uns nicht vorgeführt, nur die Schmarotzer
an der kraftvollen Pflanze, die bösen Auswüchse an dem strotzenden Wachstum,
den Sumpf, der jedes große Gewässer begleitet und die Opfer dieses Gedeihens,
die an die Wand gedrückten Menschen. Von diesem Standpunkte betrachtet ist
Manthners Darstellung unwirklich, weil sie einseitig ist. Das Bild Berlins,
das er uns entwirft, ist satirisch zugerichtet, stellenweise geradezu Karrikatur,
wenn auch im Kleinen mit vielen geistreichen Zügen ausgestattet. Den»
Mauthner kennt die faulen Kreise, die er schildert, sehr gut und bemüht fiel>
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[0328] Sittenrichter diese arme Rieke im Sterben liege, da verlassen Prinzessin und Königin die Villa der Pitersen und steigen die vier Treppen zur Rieke empor, um sie noch vor dem Tode zu ehren, und alle Plage und alle Hoffnung Leontinens ist damit vernichtet. Diese Prinzessin ist der cle-n» ox um.(allen: sie ist die Vertreterin des sittlichen Gewissens, die uns endlich aus dem Sumpf emporhebt, sie verkörpert das Ideal, Was bleibt nun Leontine übrig? Sie heiratet den gichtbrüchigen Grafen Trienitz, dem seine Frau kurz vorher durchgegangen ist, sie wird also mit ihren in der Pflege des kranken Kommerzienrath erheblicheren Millionen von neuem Krankenpflegerin. Ein Symbol der Gegenwart ist diese Leontine wohl schwerlich bis ans Ende der Erzählung, wie Mauthuer im Anfang andeutet. Aber man kann auch nicht sagen, daß sie eine wahre, lebenswarme Gestalt geworden sei- Mauthner hat sie mit einer einzigen Eigenschaft ausgestattet: der der Klugheit im Dienste der rücksichtslosesten Selbstsucht, Leontine ist Meisterin im Ränke- spinnen; die Fäden aller Handlung im Cyklus laufen von ihr aus; sie ist unverfroren, niederträchtig, unsagbar gemein, unsagbar schlecht, so wie sie aus- bündig klug ist. Der Erzähler hat eine wahre Freude daran, ihr alle mögliche Schlauheit zuzuschreiben. Aber wahr, lebensmöglich erscheint uns diese Leontine nicht, trotz des langen Verkehrs, den mir mit ihr durch drei Bände gepflogen haben. Sie ist ein Hirngespinst, keine geschaute, keine poetisch empfundene Gestalt. Sie müßte etwas Dämonisches haben, um wenigstens poetisch zu wirken; dies hat aber Mauthners Realismus vermieden. Was immer man der Gegenwart nachsagen mag: mit der Selbstsucht, mit dem Strebertum, mit der Jagd uach dem Golde allein kann sie denn doch uicht ausreichend charakterisirt werden. Also weg mit der Symbolik Leontinens! Doch wird damit die Ein¬ seitigkeit der Manthnerschen Sittenschilderung noch nicht erschöpft. Unstreitig ist das gewaltige Anwachsen Berlins auch nach Mauthuers Auffassung »u'lM an sich Böses, Eine so großartige Erscheinung kann nicht bloß der Erfolg böser Mächte sein, Sie muß, da auch Mauthner weit davon entfernt ist, grundsätzlich die Großstadt zu beklagen, gute Elemente besitzen, die uns die Zukunft dieses großen menschlichen Gemeinwesens verbürgen. Ans die Schilderung der Lichtseite» des Berliuertums und der Großstadt überhaupt hat sich aber Mauthner nur höchst spärlich eingelassen; die wahrhaft gute Gesellschaft, die Leontine fort und fort sucht, hat er uns nicht vorgeführt, nur die Schmarotzer an der kraftvollen Pflanze, die bösen Auswüchse an dem strotzenden Wachstum, den Sumpf, der jedes große Gewässer begleitet und die Opfer dieses Gedeihens, die an die Wand gedrückten Menschen. Von diesem Standpunkte betrachtet ist Manthners Darstellung unwirklich, weil sie einseitig ist. Das Bild Berlins, das er uns entwirft, ist satirisch zugerichtet, stellenweise geradezu Karrikatur, wenn auch im Kleinen mit vielen geistreichen Zügen ausgestattet. Den» Mauthner kennt die faulen Kreise, die er schildert, sehr gut und bemüht fiel> recht genau zu sein. Er versteht es zwar uicht, uus durch ein eignes ne»^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/328>, abgerufen am 04.07.2024.