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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Gestalt, als römischer Katholizismus, zur Irrlehre entartet sei, verbrüdern,
um das Reich Gottes auf Erden dadurch ins Leben zu rufen, daß man die
Religion der Liebe in eine Religion der Freude und des Genusses für alle
verwandle. Zu einem vollkommen klaren und festen Ergebnisse gelangt der
Verfasser hier nicht, er regt uur an und zeigt im allgemeinen den Weg; das
übrige mich sein begeisterter Schwung thun, der ihm denn auch zuletzt eine
Anzahl eifriger Verehrer zuführte.

Das große Publikum beachtete ihn nicht, auch die Behörden kümmerten
sich nicht um den Schwärmer, bis er in der ersten Nummer seiner Zeitschrift
I/()rc>"rlli8lrtöur die Verkehrtheit der bestehenden gesellschaftlichen Einrichtungen
durch ein Beispiel anschaulich zu machen suchte, das Anstoß erregte. Gesetzt,
sagte er, daß Frankreich plötzlich fünfzig seiner größten Fachgelehrten, fünfzig
seiner bedeutendsten Gewerbtreibenden, fünfzig seiner besten Künstler und Dichter
verlöre, so würde es ein Leib ohne Seele sein, bis ein neues Geschlecht ihm
seine Verluste ersetzte. Angenommen dagegen, daß Frankreich statt jener Männer
von Genie in einer Nacht alle Prinzen und Prinzessinnen des königlichen
Hanfes, alle Großwürdenträger der Krone. Minister, Staatsräte. Marschälle,
Bischöfe, oberste Richter und obendrein zehntausend seiner reichsten Grund¬
eigentümer einbüßte, so würden die Franzosen bei ihrer Gutherzigkeit dies zwar
bedauern, aber dadurch keinen nennenswerten Schaden erleiden. Gelehrte,
Künstler, Dichter und Gewerbtreibende also sind die wichtigsten Personen im
Staate, und ihnen gebührt daher auch die überwiegende Macht. Man stellte
den Verfasser vor die Geschwornen, aber er wurde freigesprochen.

Die materielle Lage des ersten Propheten des Sozialismus blieb traurig,
und verzweifelnd versuchte er 182?) sich selbst den Tod zu geben. Es mißlang,
und noch zwei Jahre führte er in bitterster Armut ein Leben fort, das jetzt
auch ein sieches war. Am 1!). Mai 1825 starb er in den Armen seiner
Jünger, noch im Todeskampfe für seine Lehre begeistert, die er ihnen als Erbe
zur Ausbildung und Ausbreitung hinterließ. Die Jünger begannen ihr Werk
mit wenig ermutigenden Aussichten. Das Blatt, das sie zunächst gründeten,
und das auf Hebung des Selbstbewußtseins der industriellen Welt berechnet
war, fand keinen Anklang. Schon wollte die Schule Se. Simons sich in nichts
auflösen, als der alte Carbonaro Bazard sich ihr anschloß, der mit seinen Er¬
fahrungen die Idee" hineinbrachte, die sie zu praktischem Wirken befähigten.
Mit ihm begann eine neue Epoche, er gestaltete die einzelnen oft dunkeln Sätze
seines Meisters zu einem organischen Systeme, seine Ansichten zu einer Art
Wissenschaft. Indem er begriff, daß das lebendige Wort bessern Erfolg haben
werde als das gedruckte, fing er an, in der 1i.no ^ariumg zu Paris Vor¬
lesungen über die Grundgedanken der Schule zu halten, und siehe dn, bald
strömten ihm zahlreiche Zuhörer zu. Die Vorlesungen erschienen 1829 und
18!>>0 zusammengestellt in dem Buche l!xpi>"i,t(>ii <1ö bi, "1"vt.,-no (>" 8b. ttimo".


Gestalt, als römischer Katholizismus, zur Irrlehre entartet sei, verbrüdern,
um das Reich Gottes auf Erden dadurch ins Leben zu rufen, daß man die
Religion der Liebe in eine Religion der Freude und des Genusses für alle
verwandle. Zu einem vollkommen klaren und festen Ergebnisse gelangt der
Verfasser hier nicht, er regt uur an und zeigt im allgemeinen den Weg; das
übrige mich sein begeisterter Schwung thun, der ihm denn auch zuletzt eine
Anzahl eifriger Verehrer zuführte.

Das große Publikum beachtete ihn nicht, auch die Behörden kümmerten
sich nicht um den Schwärmer, bis er in der ersten Nummer seiner Zeitschrift
I/()rc>"rlli8lrtöur die Verkehrtheit der bestehenden gesellschaftlichen Einrichtungen
durch ein Beispiel anschaulich zu machen suchte, das Anstoß erregte. Gesetzt,
sagte er, daß Frankreich plötzlich fünfzig seiner größten Fachgelehrten, fünfzig
seiner bedeutendsten Gewerbtreibenden, fünfzig seiner besten Künstler und Dichter
verlöre, so würde es ein Leib ohne Seele sein, bis ein neues Geschlecht ihm
seine Verluste ersetzte. Angenommen dagegen, daß Frankreich statt jener Männer
von Genie in einer Nacht alle Prinzen und Prinzessinnen des königlichen
Hanfes, alle Großwürdenträger der Krone. Minister, Staatsräte. Marschälle,
Bischöfe, oberste Richter und obendrein zehntausend seiner reichsten Grund¬
eigentümer einbüßte, so würden die Franzosen bei ihrer Gutherzigkeit dies zwar
bedauern, aber dadurch keinen nennenswerten Schaden erleiden. Gelehrte,
Künstler, Dichter und Gewerbtreibende also sind die wichtigsten Personen im
Staate, und ihnen gebührt daher auch die überwiegende Macht. Man stellte
den Verfasser vor die Geschwornen, aber er wurde freigesprochen.

Die materielle Lage des ersten Propheten des Sozialismus blieb traurig,
und verzweifelnd versuchte er 182?) sich selbst den Tod zu geben. Es mißlang,
und noch zwei Jahre führte er in bitterster Armut ein Leben fort, das jetzt
auch ein sieches war. Am 1!). Mai 1825 starb er in den Armen seiner
Jünger, noch im Todeskampfe für seine Lehre begeistert, die er ihnen als Erbe
zur Ausbildung und Ausbreitung hinterließ. Die Jünger begannen ihr Werk
mit wenig ermutigenden Aussichten. Das Blatt, das sie zunächst gründeten,
und das auf Hebung des Selbstbewußtseins der industriellen Welt berechnet
war, fand keinen Anklang. Schon wollte die Schule Se. Simons sich in nichts
auflösen, als der alte Carbonaro Bazard sich ihr anschloß, der mit seinen Er¬
fahrungen die Idee» hineinbrachte, die sie zu praktischem Wirken befähigten.
Mit ihm begann eine neue Epoche, er gestaltete die einzelnen oft dunkeln Sätze
seines Meisters zu einem organischen Systeme, seine Ansichten zu einer Art
Wissenschaft. Indem er begriff, daß das lebendige Wort bessern Erfolg haben
werde als das gedruckte, fing er an, in der 1i.no ^ariumg zu Paris Vor¬
lesungen über die Grundgedanken der Schule zu halten, und siehe dn, bald
strömten ihm zahlreiche Zuhörer zu. Die Vorlesungen erschienen 1829 und
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/30>, abgerufen am 28.12.2024.