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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Unterricht und Erziehung

Dn fühlt man sich aber doch bedenklich an den antiken Begriff des Staates
erinnert, wo der Staat alles war und die einzige Form einer Gemeinschaft der
Menschen darstellte. Unser Leben hat sich reicher gestaltet, wir haben noch
andre historisch gewordene sittliche Gemeinschaftskreise, die, weil sie noch immer
eine lebendige Macht sind, mich noch immer ein Recht haben. So wenig der
Mensch sich hente isoliren kann, so wenig kann und darf er ein bloßes Stacits-
individunm werden; sondern er steht zunächst in der Familie, dann erst kommt
der Staat und neben dem Staate, wenn wir unsre Angen geschichtlicher Ent¬
wicklung nicht verschließen wollen, die Kirche. Alle drei Gemeinschaftskreise
stellen an den Menschen ihre besondern sittlichen Aufgaben, und die Erziehung
hat deshalb alle drei gleichmäßig zu berücksichtigen. Daraus ergiebt sich, daß
Herr Güßfeldt sein Ziel zu nahe gesteckt hat.

Das Ziel, das die Erziehung ihrer Arbeit setzt, wirkt immer bestimmend
ein ans die Mittel, die zur Anwendung gelangen. Auch bei Herrn Güßfeldt
bleibt die theoretische Voraussetzung nicht ohne praktische Folgerung. Wen"
"harmonische Bildung," mit Glück und Leistungsfähigkeit als Inhalt, die
Richtschnur für die Erziehung unsrer männlichen Jugend abgeben soll, wird
sich die Nötigung ergeben, zu prüfen, ob unsre jetzigen höhern Bildungs¬
anstalten diesem Ziele gerecht werden, und im Falle der Verneinung die andre
Nötigung, neue Mittel zur Erreichung jener "harmonischen Bildung" auszu¬
weisen. Herr Güßfeldt hat beides gethan. Für unsre kritische Betrachtung
empfiehlt sich der umgekehrte Weg.

Herr Güßfeldt nennt seinen neuen Vorschlag zu einer Verbesserung unsers
Schulwesens selbst radikal. Er verlangt Internate als Erziehungsanstalten
für die Jngend, wobei ihm die Kadettenanstalten als Muster vorschweben. Die
Zöglinge sollen im elterliche" Hause uur den Abend und die Nacht, den Sonntag
und die Ferien verbringen.

Es ist eine eigentümliche Erscheinung, daß fast immer, wenn neue Ideen
in der Pädagogik wirksam wurden, auch das Streben "ach Jnternntserziehnng
besonders stark hervorgetreten ist. Die Gedanken der Reformation haben die
Fürstenschulen gezeitigt, die pietistische Bewegung hat die Schulen der Franckischen
Stiftung hervorgebracht, und die Philanthrvpine sind unter der Einwirkung
Rousseauischer Ideen entstanden. Das hängt aber zum Teil noch mit einer
andern Erscheinung zusammen. Sobald die Gesellschaft nnter Schmerzen er¬
kennt, daß ein Gebrechen an ihrem Leibe frißt, glaubt sie immer sofort an
den Erziehungsplanen und -anstellten bessern zu müssen, damit das künftige
Geschlecht des Glückes mehr genieße. Rousseau, der die Revolution voraus¬
sagte, ist hierfür wohl das sprechendste Beispiel. Aber man hat dabei oft
genng vergessen, daß neben der Schule auch das Haus, die Familie si>r
die Erziehung wichtig sind, und daß wer an den Kindern bessern will, bei
den Großen anfangen soll. Die Schule läßt sich immer leichter umgestalten,


Unterricht und Erziehung

Dn fühlt man sich aber doch bedenklich an den antiken Begriff des Staates
erinnert, wo der Staat alles war und die einzige Form einer Gemeinschaft der
Menschen darstellte. Unser Leben hat sich reicher gestaltet, wir haben noch
andre historisch gewordene sittliche Gemeinschaftskreise, die, weil sie noch immer
eine lebendige Macht sind, mich noch immer ein Recht haben. So wenig der
Mensch sich hente isoliren kann, so wenig kann und darf er ein bloßes Stacits-
individunm werden; sondern er steht zunächst in der Familie, dann erst kommt
der Staat und neben dem Staate, wenn wir unsre Angen geschichtlicher Ent¬
wicklung nicht verschließen wollen, die Kirche. Alle drei Gemeinschaftskreise
stellen an den Menschen ihre besondern sittlichen Aufgaben, und die Erziehung
hat deshalb alle drei gleichmäßig zu berücksichtigen. Daraus ergiebt sich, daß
Herr Güßfeldt sein Ziel zu nahe gesteckt hat.

Das Ziel, das die Erziehung ihrer Arbeit setzt, wirkt immer bestimmend
ein ans die Mittel, die zur Anwendung gelangen. Auch bei Herrn Güßfeldt
bleibt die theoretische Voraussetzung nicht ohne praktische Folgerung. Wen»
„harmonische Bildung," mit Glück und Leistungsfähigkeit als Inhalt, die
Richtschnur für die Erziehung unsrer männlichen Jugend abgeben soll, wird
sich die Nötigung ergeben, zu prüfen, ob unsre jetzigen höhern Bildungs¬
anstalten diesem Ziele gerecht werden, und im Falle der Verneinung die andre
Nötigung, neue Mittel zur Erreichung jener „harmonischen Bildung" auszu¬
weisen. Herr Güßfeldt hat beides gethan. Für unsre kritische Betrachtung
empfiehlt sich der umgekehrte Weg.

Herr Güßfeldt nennt seinen neuen Vorschlag zu einer Verbesserung unsers
Schulwesens selbst radikal. Er verlangt Internate als Erziehungsanstalten
für die Jngend, wobei ihm die Kadettenanstalten als Muster vorschweben. Die
Zöglinge sollen im elterliche» Hause uur den Abend und die Nacht, den Sonntag
und die Ferien verbringen.

Es ist eine eigentümliche Erscheinung, daß fast immer, wenn neue Ideen
in der Pädagogik wirksam wurden, auch das Streben »ach Jnternntserziehnng
besonders stark hervorgetreten ist. Die Gedanken der Reformation haben die
Fürstenschulen gezeitigt, die pietistische Bewegung hat die Schulen der Franckischen
Stiftung hervorgebracht, und die Philanthrvpine sind unter der Einwirkung
Rousseauischer Ideen entstanden. Das hängt aber zum Teil noch mit einer
andern Erscheinung zusammen. Sobald die Gesellschaft nnter Schmerzen er¬
kennt, daß ein Gebrechen an ihrem Leibe frißt, glaubt sie immer sofort an
den Erziehungsplanen und -anstellten bessern zu müssen, damit das künftige
Geschlecht des Glückes mehr genieße. Rousseau, der die Revolution voraus¬
sagte, ist hierfür wohl das sprechendste Beispiel. Aber man hat dabei oft
genng vergessen, daß neben der Schule auch das Haus, die Familie si>r
die Erziehung wichtig sind, und daß wer an den Kindern bessern will, bei
den Großen anfangen soll. Die Schule läßt sich immer leichter umgestalten,


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[0228] Unterricht und Erziehung Dn fühlt man sich aber doch bedenklich an den antiken Begriff des Staates erinnert, wo der Staat alles war und die einzige Form einer Gemeinschaft der Menschen darstellte. Unser Leben hat sich reicher gestaltet, wir haben noch andre historisch gewordene sittliche Gemeinschaftskreise, die, weil sie noch immer eine lebendige Macht sind, mich noch immer ein Recht haben. So wenig der Mensch sich hente isoliren kann, so wenig kann und darf er ein bloßes Stacits- individunm werden; sondern er steht zunächst in der Familie, dann erst kommt der Staat und neben dem Staate, wenn wir unsre Angen geschichtlicher Ent¬ wicklung nicht verschließen wollen, die Kirche. Alle drei Gemeinschaftskreise stellen an den Menschen ihre besondern sittlichen Aufgaben, und die Erziehung hat deshalb alle drei gleichmäßig zu berücksichtigen. Daraus ergiebt sich, daß Herr Güßfeldt sein Ziel zu nahe gesteckt hat. Das Ziel, das die Erziehung ihrer Arbeit setzt, wirkt immer bestimmend ein ans die Mittel, die zur Anwendung gelangen. Auch bei Herrn Güßfeldt bleibt die theoretische Voraussetzung nicht ohne praktische Folgerung. Wen» „harmonische Bildung," mit Glück und Leistungsfähigkeit als Inhalt, die Richtschnur für die Erziehung unsrer männlichen Jugend abgeben soll, wird sich die Nötigung ergeben, zu prüfen, ob unsre jetzigen höhern Bildungs¬ anstalten diesem Ziele gerecht werden, und im Falle der Verneinung die andre Nötigung, neue Mittel zur Erreichung jener „harmonischen Bildung" auszu¬ weisen. Herr Güßfeldt hat beides gethan. Für unsre kritische Betrachtung empfiehlt sich der umgekehrte Weg. Herr Güßfeldt nennt seinen neuen Vorschlag zu einer Verbesserung unsers Schulwesens selbst radikal. Er verlangt Internate als Erziehungsanstalten für die Jngend, wobei ihm die Kadettenanstalten als Muster vorschweben. Die Zöglinge sollen im elterliche» Hause uur den Abend und die Nacht, den Sonntag und die Ferien verbringen. Es ist eine eigentümliche Erscheinung, daß fast immer, wenn neue Ideen in der Pädagogik wirksam wurden, auch das Streben »ach Jnternntserziehnng besonders stark hervorgetreten ist. Die Gedanken der Reformation haben die Fürstenschulen gezeitigt, die pietistische Bewegung hat die Schulen der Franckischen Stiftung hervorgebracht, und die Philanthrvpine sind unter der Einwirkung Rousseauischer Ideen entstanden. Das hängt aber zum Teil noch mit einer andern Erscheinung zusammen. Sobald die Gesellschaft nnter Schmerzen er¬ kennt, daß ein Gebrechen an ihrem Leibe frißt, glaubt sie immer sofort an den Erziehungsplanen und -anstellten bessern zu müssen, damit das künftige Geschlecht des Glückes mehr genieße. Rousseau, der die Revolution voraus¬ sagte, ist hierfür wohl das sprechendste Beispiel. Aber man hat dabei oft genng vergessen, daß neben der Schule auch das Haus, die Familie si>r die Erziehung wichtig sind, und daß wer an den Kindern bessern will, bei den Großen anfangen soll. Die Schule läßt sich immer leichter umgestalten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/228>, abgerufen am 23.07.2024.