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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Unterricht und Erziehung

formen einer Nation bestimmen die Mittel ihrer Erziehung. Darum ist die
Pädagogik niemals graue Theorie, sondern immer etwas hervorragend Prak¬
tisches. Die Voraussetzung bei dieser Auffassung ist einmal der Begriff der
sittlichen Freiheit, sodann die Meinung, daß jeder Schulunterricht nichts als
ein Mittel für die Erziehung ist.

Herr Güßfeldt hat das Ziel der Erziehung näher dahin bestimmt, ,,eins
der männlichen Jugend möglichst glückliche und möglichst leistungsfähige Mit¬
glieder des staatlichen Gemeinwesens" heranzubilden. Als notwendig für das
Glück und die Leistungsfähigkeit jedes Menschen erachtet er vornehmlich "Ge¬
sundheit, Physische Kraft und Geschicklichkeit, ein reines Gemüt und einen
humanen Sinn, Charakterfestigkeit und Pflichtgefühl, Verstandesschärfe und ein
gewisses Maß von Kenntnissen." Beide Begriffe aber schließen sich für ihn zu
dem zusammen, was er harmonische Bildung nennt. Die enge Verbindung,
w die jene zwei Faktoren gesetzt sind, ist wohl dahin zu erklären, daß Glück
auf Leistungsfähigkeit beruhen soll.

Ob das, was die Menschen unter Glück verstehen, durch diese Aufzählung
wirklich erschöpft sei, erscheint nur zweifelhaft. Mancher wird -- und nie¬
mand wird ihn tadeln können -- ein Stückchen des irdischen Mammons
darunter vermissen, denn um glücklich zu sein, muß man leben können. Und
'es meine, daß z.B. auch ein Kranker und Schwacher glücklich sein könne.
ich glaube, Leute mit reicher Lebenserfahrung werden mir bestätigen, daß
einer alles, was Herr Güßfeldt aufzählt, besitzen und doch unglücklich sein
^um, weil ihm Demut und innere Zufriedenheit fehlen. Wohl ist jeder seines
Glückes Schmied, aber über alle Schicksale unsers Lebens sind wir doch nicht
Herr, wenn wir uns nicht demütig zu fügen verstehen. Und nun gar mög¬
lichst glückliche Mitglieder des Staates! Der Sozialdemokrat wird sich nur
d"um als glücklicher Staatsbürger fühlen, wenn alle seine Wünsche erfüllt sind.

Herrn Güßfeldts Glück zerfliegt also unter meinen Händen wie eine goldige
^olle, die der Wind aus einander treibt. Es bleibt die Leistungsfähigkeit.
"Das sieht schon besser aus! Mau weiß doch wo und wie." Nun wird
vielleicht das Ziel, das unsrer Erziehung gesteckt werden soll, aus dem schil¬
lerndeen,, schwankenden, ungewissen Ideale zu einem festen Punkte in der Er-
'cheinungen Flucht.

Leistungsfähigkeit kaun weder vom individuelle" Standpunkte des Kindes
^ gefaßt werden noch schlechthin für den Erzieher als maßgebendes Ziel
^ ten, weil in dem einen Falle zu wenig, im andern zu viel geleistet werden
würde. Denn der Mensch ist weder ans sich selbst beschränkt, noch soll
h cui Kosmopolit werden. Sondern weil der Mensch in eine Reihe ganz
tnnmrer sittlicher Gemcinschaftskreise hineingcschaffen ist, soll er auch für
n.'c ^ise erzogen werden. Herr Güßfeldt hat darum anch den Begriff der
^ Ntungsfähigkeit eingeschränkt auf das staatliche Gemeinwesen.


Unterricht und Erziehung

formen einer Nation bestimmen die Mittel ihrer Erziehung. Darum ist die
Pädagogik niemals graue Theorie, sondern immer etwas hervorragend Prak¬
tisches. Die Voraussetzung bei dieser Auffassung ist einmal der Begriff der
sittlichen Freiheit, sodann die Meinung, daß jeder Schulunterricht nichts als
ein Mittel für die Erziehung ist.

Herr Güßfeldt hat das Ziel der Erziehung näher dahin bestimmt, ,,eins
der männlichen Jugend möglichst glückliche und möglichst leistungsfähige Mit¬
glieder des staatlichen Gemeinwesens" heranzubilden. Als notwendig für das
Glück und die Leistungsfähigkeit jedes Menschen erachtet er vornehmlich „Ge¬
sundheit, Physische Kraft und Geschicklichkeit, ein reines Gemüt und einen
humanen Sinn, Charakterfestigkeit und Pflichtgefühl, Verstandesschärfe und ein
gewisses Maß von Kenntnissen." Beide Begriffe aber schließen sich für ihn zu
dem zusammen, was er harmonische Bildung nennt. Die enge Verbindung,
w die jene zwei Faktoren gesetzt sind, ist wohl dahin zu erklären, daß Glück
auf Leistungsfähigkeit beruhen soll.

Ob das, was die Menschen unter Glück verstehen, durch diese Aufzählung
wirklich erschöpft sei, erscheint nur zweifelhaft. Mancher wird — und nie¬
mand wird ihn tadeln können — ein Stückchen des irdischen Mammons
darunter vermissen, denn um glücklich zu sein, muß man leben können. Und
'es meine, daß z.B. auch ein Kranker und Schwacher glücklich sein könne.
ich glaube, Leute mit reicher Lebenserfahrung werden mir bestätigen, daß
einer alles, was Herr Güßfeldt aufzählt, besitzen und doch unglücklich sein
^um, weil ihm Demut und innere Zufriedenheit fehlen. Wohl ist jeder seines
Glückes Schmied, aber über alle Schicksale unsers Lebens sind wir doch nicht
Herr, wenn wir uns nicht demütig zu fügen verstehen. Und nun gar mög¬
lichst glückliche Mitglieder des Staates! Der Sozialdemokrat wird sich nur
d"um als glücklicher Staatsbürger fühlen, wenn alle seine Wünsche erfüllt sind.

Herrn Güßfeldts Glück zerfliegt also unter meinen Händen wie eine goldige
^olle, die der Wind aus einander treibt. Es bleibt die Leistungsfähigkeit.
"Das sieht schon besser aus! Mau weiß doch wo und wie." Nun wird
vielleicht das Ziel, das unsrer Erziehung gesteckt werden soll, aus dem schil¬
lerndeen,, schwankenden, ungewissen Ideale zu einem festen Punkte in der Er-
'cheinungen Flucht.

Leistungsfähigkeit kaun weder vom individuelle» Standpunkte des Kindes
^ gefaßt werden noch schlechthin für den Erzieher als maßgebendes Ziel
^ ten, weil in dem einen Falle zu wenig, im andern zu viel geleistet werden
würde. Denn der Mensch ist weder ans sich selbst beschränkt, noch soll
h cui Kosmopolit werden. Sondern weil der Mensch in eine Reihe ganz
tnnmrer sittlicher Gemcinschaftskreise hineingcschaffen ist, soll er auch für
n.'c ^ise erzogen werden. Herr Güßfeldt hat darum anch den Begriff der
^ Ntungsfähigkeit eingeschränkt auf das staatliche Gemeinwesen.


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[0227] Unterricht und Erziehung formen einer Nation bestimmen die Mittel ihrer Erziehung. Darum ist die Pädagogik niemals graue Theorie, sondern immer etwas hervorragend Prak¬ tisches. Die Voraussetzung bei dieser Auffassung ist einmal der Begriff der sittlichen Freiheit, sodann die Meinung, daß jeder Schulunterricht nichts als ein Mittel für die Erziehung ist. Herr Güßfeldt hat das Ziel der Erziehung näher dahin bestimmt, ,,eins der männlichen Jugend möglichst glückliche und möglichst leistungsfähige Mit¬ glieder des staatlichen Gemeinwesens" heranzubilden. Als notwendig für das Glück und die Leistungsfähigkeit jedes Menschen erachtet er vornehmlich „Ge¬ sundheit, Physische Kraft und Geschicklichkeit, ein reines Gemüt und einen humanen Sinn, Charakterfestigkeit und Pflichtgefühl, Verstandesschärfe und ein gewisses Maß von Kenntnissen." Beide Begriffe aber schließen sich für ihn zu dem zusammen, was er harmonische Bildung nennt. Die enge Verbindung, w die jene zwei Faktoren gesetzt sind, ist wohl dahin zu erklären, daß Glück auf Leistungsfähigkeit beruhen soll. Ob das, was die Menschen unter Glück verstehen, durch diese Aufzählung wirklich erschöpft sei, erscheint nur zweifelhaft. Mancher wird — und nie¬ mand wird ihn tadeln können — ein Stückchen des irdischen Mammons darunter vermissen, denn um glücklich zu sein, muß man leben können. Und 'es meine, daß z.B. auch ein Kranker und Schwacher glücklich sein könne. ich glaube, Leute mit reicher Lebenserfahrung werden mir bestätigen, daß einer alles, was Herr Güßfeldt aufzählt, besitzen und doch unglücklich sein ^um, weil ihm Demut und innere Zufriedenheit fehlen. Wohl ist jeder seines Glückes Schmied, aber über alle Schicksale unsers Lebens sind wir doch nicht Herr, wenn wir uns nicht demütig zu fügen verstehen. Und nun gar mög¬ lichst glückliche Mitglieder des Staates! Der Sozialdemokrat wird sich nur d"um als glücklicher Staatsbürger fühlen, wenn alle seine Wünsche erfüllt sind. Herrn Güßfeldts Glück zerfliegt also unter meinen Händen wie eine goldige ^olle, die der Wind aus einander treibt. Es bleibt die Leistungsfähigkeit. "Das sieht schon besser aus! Mau weiß doch wo und wie." Nun wird vielleicht das Ziel, das unsrer Erziehung gesteckt werden soll, aus dem schil¬ lerndeen,, schwankenden, ungewissen Ideale zu einem festen Punkte in der Er- 'cheinungen Flucht. Leistungsfähigkeit kaun weder vom individuelle» Standpunkte des Kindes ^ gefaßt werden noch schlechthin für den Erzieher als maßgebendes Ziel ^ ten, weil in dem einen Falle zu wenig, im andern zu viel geleistet werden würde. Denn der Mensch ist weder ans sich selbst beschränkt, noch soll h cui Kosmopolit werden. Sondern weil der Mensch in eine Reihe ganz tnnmrer sittlicher Gemcinschaftskreise hineingcschaffen ist, soll er auch für n.'c ^ise erzogen werden. Herr Güßfeldt hat darum anch den Begriff der ^ Ntungsfähigkeit eingeschränkt auf das staatliche Gemeinwesen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/227>, abgerufen am 23.07.2024.