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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Unterricht und Erziehung

Wenn der Mensch ursprünglich gilt wäre, dann könnte es freilich nur
darauf ankommen, ihm alles fernzuhalten, was diese ursprüngliche Reinheit
zu trüben vermöchte. Aber der Mensch ist nicht gut von Anbeginn an. Unsre
Sprache hat ein schönes Wort; sie redet von der Unschuld des Kindes. Das
will besagen, es lastet uoch keine Schuld auf dem Haupte des Kindes, es ist
nicht schlecht, aber anch nicht gut. Vielmehr sind gute und böse Anlagen keim-
"rdig in der jungen Menschenseele eingeschlossen. Wächst das Kind heran, so
werden aus diesen Anlagen Vorstellungen, Gedanken und Handlungen, schlechte
wie gute. Es ist eine bekannte Wahrheit, daß fast immer schon im ersten
Lebensjahre des Kindes sich der Eigensinn einstellt. Wenn sich dies aber so
Erhalt, kann da die zugespitzte Forderung Herrn Güßfeldts von "dem Fern¬
halten des Schädlichen als ganze Weisheit der Kindererziehung" noch aufrecht
ehalten werdeu? Gewiß ist es jedem Erzieher eine ausgemachte Sache, daß
^' das Kind vor allem, was ihm sehnten könnte, zu behüten habe. Weit
wichtiger freilich ist es, zu wissen: was schadet dem Kinde, und was schadet
gerade diesem Kinde, das du erziehen sollst? Denn die Kinder sind sich nicht
w allen Stücken gleich, in gewissem Sinne ist jedes Kind ein Original. Darum
wüssen Erzieher Menschenkenner sei". Doch was nützt alle Kenntnis, wenn
do Macht fehlt? Niemand ist es gegeben, alles Schädliche fern zu halten, weil
jemand allwissend und allgegenwärtig ist. Sollte sich nicht schon aus dieser
Erwägung ergeben, daß das Fernhalten und Abwehren nicht genügt, eben ein-
^ob weil es in seinem ganzen Umfange durchzuführen unmöglich ist, und daß
^' deshalb unrichtig ist, diese Forderung zum Eckstein aller Erziehungslehre
macheu? Wäre Herr Güßfeldt hier' im Rechte, welche Last der Borwürfe
wüßte sich da nicht auf alle Eltern und Erzieher zusammenhäufen, denn alles
7"'se in der Welt stammte ja nur daher, weil sie schädliche und verderbliche
Ulflüsse von ihren Kindern nicht ferngehalten hätten! Rousseau hat diese Be-
^Uiptuug nicht gescheut. Herr Güßfeldt spricht eine solche Anschuldigung
allerdings nicht aus. Aber liegt nicht wenigstens die Folgerung aus seinem
^'ge, daß alles Böse durch Einwirkung von anßen her in dem Menschen entstehe?

Doch vielleicht habe ich Herrn Güßfeldts Meinung nicht recht verstanden.
^ spricht von dem despotischen Hange, der dem Meuscheu eingewurzelt sei,
er warnt davor, in Kindern nur kleine Engel sehen zu wollen, und weiß
gut, daß viele aus vulgärem Stoff und voller Ungezogenheiten sind.
^ heißt doch wohl, in dem Kinde selbst entwickelt sich Böses. Ist dann
Herr Güßfeldt nicht mit sich selbst im Widerspruch, wenn er gleichwohl
^ Hauptsache in der Erziehung des Kindes das Fernhalten des Schädlichen
, . ^ge? Ich sollte meinen, angesichts solcher Thatsachen könnte seine Forderung
grundlegende Norm für Kindererziehung aufgestellt werdeu. Es muß
N r ""es etwas andres hinzutreten, was mir als die Hauptsache erscheint.
)t bloß das Schädliche nach Kräften von der Kindesseele fernhalten ist die


^Mzbvteu II 1890 W
Unterricht und Erziehung

Wenn der Mensch ursprünglich gilt wäre, dann könnte es freilich nur
darauf ankommen, ihm alles fernzuhalten, was diese ursprüngliche Reinheit
zu trüben vermöchte. Aber der Mensch ist nicht gut von Anbeginn an. Unsre
Sprache hat ein schönes Wort; sie redet von der Unschuld des Kindes. Das
will besagen, es lastet uoch keine Schuld auf dem Haupte des Kindes, es ist
nicht schlecht, aber anch nicht gut. Vielmehr sind gute und böse Anlagen keim-
"rdig in der jungen Menschenseele eingeschlossen. Wächst das Kind heran, so
werden aus diesen Anlagen Vorstellungen, Gedanken und Handlungen, schlechte
wie gute. Es ist eine bekannte Wahrheit, daß fast immer schon im ersten
Lebensjahre des Kindes sich der Eigensinn einstellt. Wenn sich dies aber so
Erhalt, kann da die zugespitzte Forderung Herrn Güßfeldts von „dem Fern¬
halten des Schädlichen als ganze Weisheit der Kindererziehung" noch aufrecht
ehalten werdeu? Gewiß ist es jedem Erzieher eine ausgemachte Sache, daß
^' das Kind vor allem, was ihm sehnten könnte, zu behüten habe. Weit
wichtiger freilich ist es, zu wissen: was schadet dem Kinde, und was schadet
gerade diesem Kinde, das du erziehen sollst? Denn die Kinder sind sich nicht
w allen Stücken gleich, in gewissem Sinne ist jedes Kind ein Original. Darum
wüssen Erzieher Menschenkenner sei». Doch was nützt alle Kenntnis, wenn
do Macht fehlt? Niemand ist es gegeben, alles Schädliche fern zu halten, weil
jemand allwissend und allgegenwärtig ist. Sollte sich nicht schon aus dieser
Erwägung ergeben, daß das Fernhalten und Abwehren nicht genügt, eben ein-
^ob weil es in seinem ganzen Umfange durchzuführen unmöglich ist, und daß
^' deshalb unrichtig ist, diese Forderung zum Eckstein aller Erziehungslehre
macheu? Wäre Herr Güßfeldt hier' im Rechte, welche Last der Borwürfe
wüßte sich da nicht auf alle Eltern und Erzieher zusammenhäufen, denn alles
7"'se in der Welt stammte ja nur daher, weil sie schädliche und verderbliche
Ulflüsse von ihren Kindern nicht ferngehalten hätten! Rousseau hat diese Be-
^Uiptuug nicht gescheut. Herr Güßfeldt spricht eine solche Anschuldigung
allerdings nicht aus. Aber liegt nicht wenigstens die Folgerung aus seinem
^'ge, daß alles Böse durch Einwirkung von anßen her in dem Menschen entstehe?

Doch vielleicht habe ich Herrn Güßfeldts Meinung nicht recht verstanden.
^ spricht von dem despotischen Hange, der dem Meuscheu eingewurzelt sei,
er warnt davor, in Kindern nur kleine Engel sehen zu wollen, und weiß
gut, daß viele aus vulgärem Stoff und voller Ungezogenheiten sind.
^ heißt doch wohl, in dem Kinde selbst entwickelt sich Böses. Ist dann
Herr Güßfeldt nicht mit sich selbst im Widerspruch, wenn er gleichwohl
^ Hauptsache in der Erziehung des Kindes das Fernhalten des Schädlichen
, . ^ge? Ich sollte meinen, angesichts solcher Thatsachen könnte seine Forderung
grundlegende Norm für Kindererziehung aufgestellt werdeu. Es muß
N r ""es etwas andres hinzutreten, was mir als die Hauptsache erscheint.
)t bloß das Schädliche nach Kräften von der Kindesseele fernhalten ist die


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[0225] Unterricht und Erziehung Wenn der Mensch ursprünglich gilt wäre, dann könnte es freilich nur darauf ankommen, ihm alles fernzuhalten, was diese ursprüngliche Reinheit zu trüben vermöchte. Aber der Mensch ist nicht gut von Anbeginn an. Unsre Sprache hat ein schönes Wort; sie redet von der Unschuld des Kindes. Das will besagen, es lastet uoch keine Schuld auf dem Haupte des Kindes, es ist nicht schlecht, aber anch nicht gut. Vielmehr sind gute und böse Anlagen keim- "rdig in der jungen Menschenseele eingeschlossen. Wächst das Kind heran, so werden aus diesen Anlagen Vorstellungen, Gedanken und Handlungen, schlechte wie gute. Es ist eine bekannte Wahrheit, daß fast immer schon im ersten Lebensjahre des Kindes sich der Eigensinn einstellt. Wenn sich dies aber so Erhalt, kann da die zugespitzte Forderung Herrn Güßfeldts von „dem Fern¬ halten des Schädlichen als ganze Weisheit der Kindererziehung" noch aufrecht ehalten werdeu? Gewiß ist es jedem Erzieher eine ausgemachte Sache, daß ^' das Kind vor allem, was ihm sehnten könnte, zu behüten habe. Weit wichtiger freilich ist es, zu wissen: was schadet dem Kinde, und was schadet gerade diesem Kinde, das du erziehen sollst? Denn die Kinder sind sich nicht w allen Stücken gleich, in gewissem Sinne ist jedes Kind ein Original. Darum wüssen Erzieher Menschenkenner sei». Doch was nützt alle Kenntnis, wenn do Macht fehlt? Niemand ist es gegeben, alles Schädliche fern zu halten, weil jemand allwissend und allgegenwärtig ist. Sollte sich nicht schon aus dieser Erwägung ergeben, daß das Fernhalten und Abwehren nicht genügt, eben ein- ^ob weil es in seinem ganzen Umfange durchzuführen unmöglich ist, und daß ^' deshalb unrichtig ist, diese Forderung zum Eckstein aller Erziehungslehre macheu? Wäre Herr Güßfeldt hier' im Rechte, welche Last der Borwürfe wüßte sich da nicht auf alle Eltern und Erzieher zusammenhäufen, denn alles 7"'se in der Welt stammte ja nur daher, weil sie schädliche und verderbliche Ulflüsse von ihren Kindern nicht ferngehalten hätten! Rousseau hat diese Be- ^Uiptuug nicht gescheut. Herr Güßfeldt spricht eine solche Anschuldigung allerdings nicht aus. Aber liegt nicht wenigstens die Folgerung aus seinem ^'ge, daß alles Böse durch Einwirkung von anßen her in dem Menschen entstehe? Doch vielleicht habe ich Herrn Güßfeldts Meinung nicht recht verstanden. ^ spricht von dem despotischen Hange, der dem Meuscheu eingewurzelt sei, er warnt davor, in Kindern nur kleine Engel sehen zu wollen, und weiß gut, daß viele aus vulgärem Stoff und voller Ungezogenheiten sind. ^ heißt doch wohl, in dem Kinde selbst entwickelt sich Böses. Ist dann Herr Güßfeldt nicht mit sich selbst im Widerspruch, wenn er gleichwohl ^ Hauptsache in der Erziehung des Kindes das Fernhalten des Schädlichen , . ^ge? Ich sollte meinen, angesichts solcher Thatsachen könnte seine Forderung grundlegende Norm für Kindererziehung aufgestellt werdeu. Es muß N r ""es etwas andres hinzutreten, was mir als die Hauptsache erscheint. )t bloß das Schädliche nach Kräften von der Kindesseele fernhalten ist die ^Mzbvteu II 1890 W

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/225>, abgerufen am 23.07.2024.