Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

mit allen Mitteln anzustreben. Die Kunst diesseits und jenseits der Vogesen
hat sich Naturtreue in allein, was dargestellt wird, zur Pflicht gemacht, und
neuerdings kann man den Abschaum der Menschheit, wenn man wollte, beinahe
besser studiren ans den Brettern, die die Welt bedeuten, als im wirklichen
Leben. Auch Herrn Giißfeldts Pädagogik scheint von diesem Streben nach
natürlicher Entwicklung und Entfaltung aller Dinge angekränkelt zu sein.
Damit komme ich zu dem zweiten Punkte, Ruch hier muß ich auf die große
Verwandtschaft mit den Grundsätze" Rousseaus hinweisen.

Herr Güßfeldt will die Natur des Kindes sich ruhig entwickeln lassen,
ohne Eingriffe. Er sagt in dieser Beziehung: "In dem Fernhalten des Schäd¬
lichen, nicht in dem naturwidriger Versuche, Gutes zu erzeugen, liegt die ganze
Weisheit der Kindererziehung." Rousseau wirft die Frage auf: "Was soll
man thun, um einen Naturmenschen zu bilden?" und antwortet: "Verhindern,
daß etwas geschehe, was der natürlichen Entwicklung hemmend und hindernd
in den Weg tritt."

Herrn Güßfeldts Satz über die ullum r-alio aller Kindererziehung ist
geboren und getragen von dein Vergleich einer jungen Menschenseele mit einer
Pflanze. Es mag ja nun seine Richtigkeit haben, daß wirklich nnr das Fern¬
halten etwaiger schädlicher Einflüsse die Gewähr einer kräftigen und schönen
Pflanze giebt. Steht es aber ebenso mit der Entwicklung eines Menschen zu
einer sittlichen Persönlichkeit, zu einem Charakter? Ich glaube, Herrn Gü߬
feldts Vergleich sinkt nicht bloß auf einem Beine, sondern auf beiden. Es
ist ein eigentümlicher Zufall gewesen, daß ich, noch mit den Gedanken unsers
Buches innerlich beschnstigt, eine neue historische Abhandlung von Ernst Curtius
las, deren Einleitung so beginnt: "Pflanzen erwachsen aus dem im Boden
ruhenden Keime, und ihre glückliche Entwicklung ist nur davon abhängig, daß
sie ungestört erfolge und nichts von dem fehle, was zu ihrem Gedeihen nötig
ist. Geistige Entwicklungen haben andre Bedingungen; sie verkommen, wenn
sie sich selbst überlassen bleiben, und wie bei der Biographie eines geistig be¬
deutenden Mannes nichts von größeren Interesse ist, als zu erkennen, unter
welcherlei Einflüssen seine ganze Persönlichkeit sich ausgebildet hat, so u.s. W-"

Es ist in der That nicht wahr, daß menschliche, geistige Entwicklung in
derselben Weise und unter Denselben Bedingungen verlaufe, wie das Wachs¬
tum einer Pflanze. Aber über jenen Vergleich hinaus läßt sich doch bei Herr"
Güßfeldt ganz wie bei Rousseau die theoretische Voraussetzung entdecken, aus
der die praktische Folgerung geschlossen ist. Jeder übertriebenen oder einseitige"
Forderung einer Rückkehr zur Natur liegt ein Irrtum zu Grunde über Wesen
und Beschaffenheit dessen, was Natur genannt ist. Rousseau beginnt seinen
Emil mit dem Satze: "Alles ist gut, wenn es aus den Händen des Urhebers
der Dinge kommt." lind Herr Güßfeldt sagt: "Der Mensch ist ursprünglich
nicht schlecht, er wird es."


mit allen Mitteln anzustreben. Die Kunst diesseits und jenseits der Vogesen
hat sich Naturtreue in allein, was dargestellt wird, zur Pflicht gemacht, und
neuerdings kann man den Abschaum der Menschheit, wenn man wollte, beinahe
besser studiren ans den Brettern, die die Welt bedeuten, als im wirklichen
Leben. Auch Herrn Giißfeldts Pädagogik scheint von diesem Streben nach
natürlicher Entwicklung und Entfaltung aller Dinge angekränkelt zu sein.
Damit komme ich zu dem zweiten Punkte, Ruch hier muß ich auf die große
Verwandtschaft mit den Grundsätze» Rousseaus hinweisen.

Herr Güßfeldt will die Natur des Kindes sich ruhig entwickeln lassen,
ohne Eingriffe. Er sagt in dieser Beziehung: „In dem Fernhalten des Schäd¬
lichen, nicht in dem naturwidriger Versuche, Gutes zu erzeugen, liegt die ganze
Weisheit der Kindererziehung." Rousseau wirft die Frage auf: „Was soll
man thun, um einen Naturmenschen zu bilden?" und antwortet: „Verhindern,
daß etwas geschehe, was der natürlichen Entwicklung hemmend und hindernd
in den Weg tritt."

Herrn Güßfeldts Satz über die ullum r-alio aller Kindererziehung ist
geboren und getragen von dein Vergleich einer jungen Menschenseele mit einer
Pflanze. Es mag ja nun seine Richtigkeit haben, daß wirklich nnr das Fern¬
halten etwaiger schädlicher Einflüsse die Gewähr einer kräftigen und schönen
Pflanze giebt. Steht es aber ebenso mit der Entwicklung eines Menschen zu
einer sittlichen Persönlichkeit, zu einem Charakter? Ich glaube, Herrn Gü߬
feldts Vergleich sinkt nicht bloß auf einem Beine, sondern auf beiden. Es
ist ein eigentümlicher Zufall gewesen, daß ich, noch mit den Gedanken unsers
Buches innerlich beschnstigt, eine neue historische Abhandlung von Ernst Curtius
las, deren Einleitung so beginnt: „Pflanzen erwachsen aus dem im Boden
ruhenden Keime, und ihre glückliche Entwicklung ist nur davon abhängig, daß
sie ungestört erfolge und nichts von dem fehle, was zu ihrem Gedeihen nötig
ist. Geistige Entwicklungen haben andre Bedingungen; sie verkommen, wenn
sie sich selbst überlassen bleiben, und wie bei der Biographie eines geistig be¬
deutenden Mannes nichts von größeren Interesse ist, als zu erkennen, unter
welcherlei Einflüssen seine ganze Persönlichkeit sich ausgebildet hat, so u.s. W-"

Es ist in der That nicht wahr, daß menschliche, geistige Entwicklung in
derselben Weise und unter Denselben Bedingungen verlaufe, wie das Wachs¬
tum einer Pflanze. Aber über jenen Vergleich hinaus läßt sich doch bei Herr»
Güßfeldt ganz wie bei Rousseau die theoretische Voraussetzung entdecken, aus
der die praktische Folgerung geschlossen ist. Jeder übertriebenen oder einseitige»
Forderung einer Rückkehr zur Natur liegt ein Irrtum zu Grunde über Wesen
und Beschaffenheit dessen, was Natur genannt ist. Rousseau beginnt seinen
Emil mit dem Satze: „Alles ist gut, wenn es aus den Händen des Urhebers
der Dinge kommt." lind Herr Güßfeldt sagt: „Der Mensch ist ursprünglich
nicht schlecht, er wird es."


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0224" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/207519"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_614" prev="#ID_613"> mit allen Mitteln anzustreben. Die Kunst diesseits und jenseits der Vogesen<lb/>
hat sich Naturtreue in allein, was dargestellt wird, zur Pflicht gemacht, und<lb/>
neuerdings kann man den Abschaum der Menschheit, wenn man wollte, beinahe<lb/>
besser studiren ans den Brettern, die die Welt bedeuten, als im wirklichen<lb/>
Leben. Auch Herrn Giißfeldts Pädagogik scheint von diesem Streben nach<lb/>
natürlicher Entwicklung und Entfaltung aller Dinge angekränkelt zu sein.<lb/>
Damit komme ich zu dem zweiten Punkte, Ruch hier muß ich auf die große<lb/>
Verwandtschaft mit den Grundsätze» Rousseaus hinweisen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_615"> Herr Güßfeldt will die Natur des Kindes sich ruhig entwickeln lassen,<lb/>
ohne Eingriffe. Er sagt in dieser Beziehung: &#x201E;In dem Fernhalten des Schäd¬<lb/>
lichen, nicht in dem naturwidriger Versuche, Gutes zu erzeugen, liegt die ganze<lb/>
Weisheit der Kindererziehung." Rousseau wirft die Frage auf: &#x201E;Was soll<lb/>
man thun, um einen Naturmenschen zu bilden?" und antwortet: &#x201E;Verhindern,<lb/>
daß etwas geschehe, was der natürlichen Entwicklung hemmend und hindernd<lb/>
in den Weg tritt."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_616"> Herrn Güßfeldts Satz über die ullum r-alio aller Kindererziehung ist<lb/>
geboren und getragen von dein Vergleich einer jungen Menschenseele mit einer<lb/>
Pflanze. Es mag ja nun seine Richtigkeit haben, daß wirklich nnr das Fern¬<lb/>
halten etwaiger schädlicher Einflüsse die Gewähr einer kräftigen und schönen<lb/>
Pflanze giebt. Steht es aber ebenso mit der Entwicklung eines Menschen zu<lb/>
einer sittlichen Persönlichkeit, zu einem Charakter? Ich glaube, Herrn Gü߬<lb/>
feldts Vergleich sinkt nicht bloß auf einem Beine, sondern auf beiden. Es<lb/>
ist ein eigentümlicher Zufall gewesen, daß ich, noch mit den Gedanken unsers<lb/>
Buches innerlich beschnstigt, eine neue historische Abhandlung von Ernst Curtius<lb/>
las, deren Einleitung so beginnt: &#x201E;Pflanzen erwachsen aus dem im Boden<lb/>
ruhenden Keime, und ihre glückliche Entwicklung ist nur davon abhängig, daß<lb/>
sie ungestört erfolge und nichts von dem fehle, was zu ihrem Gedeihen nötig<lb/>
ist. Geistige Entwicklungen haben andre Bedingungen; sie verkommen, wenn<lb/>
sie sich selbst überlassen bleiben, und wie bei der Biographie eines geistig be¬<lb/>
deutenden Mannes nichts von größeren Interesse ist, als zu erkennen, unter<lb/>
welcherlei Einflüssen seine ganze Persönlichkeit sich ausgebildet hat, so u.s. W-"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_617"> Es ist in der That nicht wahr, daß menschliche, geistige Entwicklung in<lb/>
derselben Weise und unter Denselben Bedingungen verlaufe, wie das Wachs¬<lb/>
tum einer Pflanze. Aber über jenen Vergleich hinaus läßt sich doch bei Herr»<lb/>
Güßfeldt ganz wie bei Rousseau die theoretische Voraussetzung entdecken, aus<lb/>
der die praktische Folgerung geschlossen ist. Jeder übertriebenen oder einseitige»<lb/>
Forderung einer Rückkehr zur Natur liegt ein Irrtum zu Grunde über Wesen<lb/>
und Beschaffenheit dessen, was Natur genannt ist. Rousseau beginnt seinen<lb/>
Emil mit dem Satze: &#x201E;Alles ist gut, wenn es aus den Händen des Urhebers<lb/>
der Dinge kommt." lind Herr Güßfeldt sagt: &#x201E;Der Mensch ist ursprünglich<lb/>
nicht schlecht, er wird es."</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0224] mit allen Mitteln anzustreben. Die Kunst diesseits und jenseits der Vogesen hat sich Naturtreue in allein, was dargestellt wird, zur Pflicht gemacht, und neuerdings kann man den Abschaum der Menschheit, wenn man wollte, beinahe besser studiren ans den Brettern, die die Welt bedeuten, als im wirklichen Leben. Auch Herrn Giißfeldts Pädagogik scheint von diesem Streben nach natürlicher Entwicklung und Entfaltung aller Dinge angekränkelt zu sein. Damit komme ich zu dem zweiten Punkte, Ruch hier muß ich auf die große Verwandtschaft mit den Grundsätze» Rousseaus hinweisen. Herr Güßfeldt will die Natur des Kindes sich ruhig entwickeln lassen, ohne Eingriffe. Er sagt in dieser Beziehung: „In dem Fernhalten des Schäd¬ lichen, nicht in dem naturwidriger Versuche, Gutes zu erzeugen, liegt die ganze Weisheit der Kindererziehung." Rousseau wirft die Frage auf: „Was soll man thun, um einen Naturmenschen zu bilden?" und antwortet: „Verhindern, daß etwas geschehe, was der natürlichen Entwicklung hemmend und hindernd in den Weg tritt." Herrn Güßfeldts Satz über die ullum r-alio aller Kindererziehung ist geboren und getragen von dein Vergleich einer jungen Menschenseele mit einer Pflanze. Es mag ja nun seine Richtigkeit haben, daß wirklich nnr das Fern¬ halten etwaiger schädlicher Einflüsse die Gewähr einer kräftigen und schönen Pflanze giebt. Steht es aber ebenso mit der Entwicklung eines Menschen zu einer sittlichen Persönlichkeit, zu einem Charakter? Ich glaube, Herrn Gü߬ feldts Vergleich sinkt nicht bloß auf einem Beine, sondern auf beiden. Es ist ein eigentümlicher Zufall gewesen, daß ich, noch mit den Gedanken unsers Buches innerlich beschnstigt, eine neue historische Abhandlung von Ernst Curtius las, deren Einleitung so beginnt: „Pflanzen erwachsen aus dem im Boden ruhenden Keime, und ihre glückliche Entwicklung ist nur davon abhängig, daß sie ungestört erfolge und nichts von dem fehle, was zu ihrem Gedeihen nötig ist. Geistige Entwicklungen haben andre Bedingungen; sie verkommen, wenn sie sich selbst überlassen bleiben, und wie bei der Biographie eines geistig be¬ deutenden Mannes nichts von größeren Interesse ist, als zu erkennen, unter welcherlei Einflüssen seine ganze Persönlichkeit sich ausgebildet hat, so u.s. W-" Es ist in der That nicht wahr, daß menschliche, geistige Entwicklung in derselben Weise und unter Denselben Bedingungen verlaufe, wie das Wachs¬ tum einer Pflanze. Aber über jenen Vergleich hinaus läßt sich doch bei Herr» Güßfeldt ganz wie bei Rousseau die theoretische Voraussetzung entdecken, aus der die praktische Folgerung geschlossen ist. Jeder übertriebenen oder einseitige» Forderung einer Rückkehr zur Natur liegt ein Irrtum zu Grunde über Wesen und Beschaffenheit dessen, was Natur genannt ist. Rousseau beginnt seinen Emil mit dem Satze: „Alles ist gut, wenn es aus den Händen des Urhebers der Dinge kommt." lind Herr Güßfeldt sagt: „Der Mensch ist ursprünglich nicht schlecht, er wird es."

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/224
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/224>, abgerufen am 28.12.2024.