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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Streifzüge durch die französische Litteratur der Geaeumart

Der Verfasser behandelt in der Einleitung kurz die Bedeutung des fran¬
zösischen Klassizismus, die Vorläufer des neunzehnten Jahrhunderts und die
Pseudvklassiker, geht dann im zweiten Teil ausführlich ans die Romantik ein
und im dritte,: auf deu Realismus. Er bezeichnet Rousseau, Diderot und
Andr6 Chunier als die bahnbrechenden Geister, die durch ihre Gedanken und
Schöpfungen den Entwicklungsgang der französischen Litteratur in nnserm
Jahrhundert bestimmt haben. Rousseau führte zuerst die überknltivirte Mensch¬
heit aus der Scheinwelt des verschnörkelten, verzierten, fratzenhaft gewordenen
Salonlebens in die Freiheit des ungeschminkte", natürlichen Dnseins, aus deu
versteinerten Formeln des Rationalismus in die lebendigelt Quellen eines
religiös gestimmten Spiritualismus. Statt des fadenscheinige", konventionellen
Ehrbegriffs, auf dem die Moral des achtzehnten Jahrhunderts ruhte, ver¬
kündigte er wieder laut die plebejisch gewordenen Begriffe Tugend, Gewissen
und Pflicht als die wahren Gesetze des sittlichen Lebens. Kontrsr vn "oi-
tnöms, vo litt ig, pröiniöro parolo" MS lions-jssu Äclre88g. u,u siöolk, se oelle
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vidualismus in der französischen Litteratur; das Ich beginnt überall zu herrschen,
das subjektive Empfinden tvird der Allsgangspunkt aller Lebensauffassung, die
persönliche Gemütsstimmung die Quelle großer Gedanken und erhabener Be¬
strebungen, aber auch einseitiger Vorstellungen und krankhafter Neigungen.
Rousseau hat der Liebe eine ganz andre Richtung gegeben, sie ans der raffi-
nirten Tändelei der Rokvkozeit zu der Höhe natürlicher Leidenschaft erhoben
und ihr erst wieder die Bedeutung einer übermenschlichen tragischen Gewalt
gegeben. Es ist sehr bezeichnend, daß Voltaire für Rousseaus Ausdruck -lvre
ImiLvr kein Verständnis hatte und sich darüber wiederholt lustig machte-
Pellissier hat nicht so unrecht, wenn er behauptet, daß schau mit diesem -rora
biÜLsr eine Uliiwertuug aller geschlechtlichem Begriffe, eine ganze Revolution
in der französischen Gesellschaft eingetreten sei. In der Liebe zur Natur, in
dem Hange zur Schwärmerei, in dem unbewußten Wohlgefallen an düstern
Vorstellungen, was die Romantiker le- mal "to me'.v!" nannten, in der Pflege
des christlich-religiösen Gefühls -- in all diesen Dingen ist Rousseau unbe¬
dingt der Vorläufer der Romantik. Wenn aber Pellissier aus ihn allein die
Geburt des romantischen Geistes zurückführt, so vergißt er, daß die Litteratur
kein Ziergarten ist, wo sich das Wachstum frei von den Stürmen der poli¬
tischen und gesellschaftlichen Kämpfe ruhig entwickelt; man versteht das Wesen
der Romantik nicht und erkennt ihre Wurzel" nicht, wen" man den El"si"ß
der französischen Revolution und insbesondre die welterschütternden Kriegs-
thnten Napoleons außer Acht läßt, wenn mau die moralische Einwirkung dieses
Geistes verkennt, dem keine Überlieferung heilig war, der alle Völkerschaften,
alle Kulturen, alle geistige" Kräfte durch einander wirbelte, der alle mensch¬
lichen Interessen nur ans eine brutale Lebeusbethätigung hin richtete und in


Streifzüge durch die französische Litteratur der Geaeumart

Der Verfasser behandelt in der Einleitung kurz die Bedeutung des fran¬
zösischen Klassizismus, die Vorläufer des neunzehnten Jahrhunderts und die
Pseudvklassiker, geht dann im zweiten Teil ausführlich ans die Romantik ein
und im dritte,: auf deu Realismus. Er bezeichnet Rousseau, Diderot und
Andr6 Chunier als die bahnbrechenden Geister, die durch ihre Gedanken und
Schöpfungen den Entwicklungsgang der französischen Litteratur in nnserm
Jahrhundert bestimmt haben. Rousseau führte zuerst die überknltivirte Mensch¬
heit aus der Scheinwelt des verschnörkelten, verzierten, fratzenhaft gewordenen
Salonlebens in die Freiheit des ungeschminkte», natürlichen Dnseins, aus deu
versteinerten Formeln des Rationalismus in die lebendigelt Quellen eines
religiös gestimmten Spiritualismus. Statt des fadenscheinige», konventionellen
Ehrbegriffs, auf dem die Moral des achtzehnten Jahrhunderts ruhte, ver¬
kündigte er wieder laut die plebejisch gewordenen Begriffe Tugend, Gewissen
und Pflicht als die wahren Gesetze des sittlichen Lebens. Kontrsr vn «oi-
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vidualismus in der französischen Litteratur; das Ich beginnt überall zu herrschen,
das subjektive Empfinden tvird der Allsgangspunkt aller Lebensauffassung, die
persönliche Gemütsstimmung die Quelle großer Gedanken und erhabener Be¬
strebungen, aber auch einseitiger Vorstellungen und krankhafter Neigungen.
Rousseau hat der Liebe eine ganz andre Richtung gegeben, sie ans der raffi-
nirten Tändelei der Rokvkozeit zu der Höhe natürlicher Leidenschaft erhoben
und ihr erst wieder die Bedeutung einer übermenschlichen tragischen Gewalt
gegeben. Es ist sehr bezeichnend, daß Voltaire für Rousseaus Ausdruck -lvre
ImiLvr kein Verständnis hatte und sich darüber wiederholt lustig machte-
Pellissier hat nicht so unrecht, wenn er behauptet, daß schau mit diesem -rora
biÜLsr eine Uliiwertuug aller geschlechtlichem Begriffe, eine ganze Revolution
in der französischen Gesellschaft eingetreten sei. In der Liebe zur Natur, in
dem Hange zur Schwärmerei, in dem unbewußten Wohlgefallen an düstern
Vorstellungen, was die Romantiker le- mal «to me'.v!« nannten, in der Pflege
des christlich-religiösen Gefühls — in all diesen Dingen ist Rousseau unbe¬
dingt der Vorläufer der Romantik. Wenn aber Pellissier aus ihn allein die
Geburt des romantischen Geistes zurückführt, so vergißt er, daß die Litteratur
kein Ziergarten ist, wo sich das Wachstum frei von den Stürmen der poli¬
tischen und gesellschaftlichen Kämpfe ruhig entwickelt; man versteht das Wesen
der Romantik nicht und erkennt ihre Wurzel» nicht, wen» man den El»si»ß
der französischen Revolution und insbesondre die welterschütternden Kriegs-
thnten Napoleons außer Acht läßt, wenn mau die moralische Einwirkung dieses
Geistes verkennt, dem keine Überlieferung heilig war, der alle Völkerschaften,
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[0176] Streifzüge durch die französische Litteratur der Geaeumart Der Verfasser behandelt in der Einleitung kurz die Bedeutung des fran¬ zösischen Klassizismus, die Vorläufer des neunzehnten Jahrhunderts und die Pseudvklassiker, geht dann im zweiten Teil ausführlich ans die Romantik ein und im dritte,: auf deu Realismus. Er bezeichnet Rousseau, Diderot und Andr6 Chunier als die bahnbrechenden Geister, die durch ihre Gedanken und Schöpfungen den Entwicklungsgang der französischen Litteratur in nnserm Jahrhundert bestimmt haben. Rousseau führte zuerst die überknltivirte Mensch¬ heit aus der Scheinwelt des verschnörkelten, verzierten, fratzenhaft gewordenen Salonlebens in die Freiheit des ungeschminkte», natürlichen Dnseins, aus deu versteinerten Formeln des Rationalismus in die lebendigelt Quellen eines religiös gestimmten Spiritualismus. Statt des fadenscheinige», konventionellen Ehrbegriffs, auf dem die Moral des achtzehnten Jahrhunderts ruhte, ver¬ kündigte er wieder laut die plebejisch gewordenen Begriffe Tugend, Gewissen und Pflicht als die wahren Gesetze des sittlichen Lebens. Kontrsr vn «oi- tnöms, vo litt ig, pröiniöro parolo» MS lions-jssu Äclre88g. u,u siöolk, se oelle ^mrols rvLnmö «mi (»uvre. Mit Rousseau erscheint die Wiedergeburt des Indi¬ vidualismus in der französischen Litteratur; das Ich beginnt überall zu herrschen, das subjektive Empfinden tvird der Allsgangspunkt aller Lebensauffassung, die persönliche Gemütsstimmung die Quelle großer Gedanken und erhabener Be¬ strebungen, aber auch einseitiger Vorstellungen und krankhafter Neigungen. Rousseau hat der Liebe eine ganz andre Richtung gegeben, sie ans der raffi- nirten Tändelei der Rokvkozeit zu der Höhe natürlicher Leidenschaft erhoben und ihr erst wieder die Bedeutung einer übermenschlichen tragischen Gewalt gegeben. Es ist sehr bezeichnend, daß Voltaire für Rousseaus Ausdruck -lvre ImiLvr kein Verständnis hatte und sich darüber wiederholt lustig machte- Pellissier hat nicht so unrecht, wenn er behauptet, daß schau mit diesem -rora biÜLsr eine Uliiwertuug aller geschlechtlichem Begriffe, eine ganze Revolution in der französischen Gesellschaft eingetreten sei. In der Liebe zur Natur, in dem Hange zur Schwärmerei, in dem unbewußten Wohlgefallen an düstern Vorstellungen, was die Romantiker le- mal «to me'.v!« nannten, in der Pflege des christlich-religiösen Gefühls — in all diesen Dingen ist Rousseau unbe¬ dingt der Vorläufer der Romantik. Wenn aber Pellissier aus ihn allein die Geburt des romantischen Geistes zurückführt, so vergißt er, daß die Litteratur kein Ziergarten ist, wo sich das Wachstum frei von den Stürmen der poli¬ tischen und gesellschaftlichen Kämpfe ruhig entwickelt; man versteht das Wesen der Romantik nicht und erkennt ihre Wurzel» nicht, wen» man den El»si»ß der französischen Revolution und insbesondre die welterschütternden Kriegs- thnten Napoleons außer Acht läßt, wenn mau die moralische Einwirkung dieses Geistes verkennt, dem keine Überlieferung heilig war, der alle Völkerschaften, alle Kulturen, alle geistige» Kräfte durch einander wirbelte, der alle mensch¬ lichen Interessen nur ans eine brutale Lebeusbethätigung hin richtete und in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/176>, abgerufen am 03.07.2024.