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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Zur Bekämpfung der Sozialdemokratie

ist es, daß den Pfarrern der Religionsunterricht in den Elementarschulen ge¬
nommen sei; bekanntlich steht aber den Pfarrern dus Recht zu, dein Religions¬
unterricht in den Elementarschulen beizuwohnen und bei Mißständen auf eine
Änderung hinzuwirken. Die Pfarrer machen aber von dieser Befugnis einen
äußerst bescheidenen Gebrauch. Wir stimmen ans vollem Herzen der Ansicht
bei, das; die evangelische Kirche zum Kampfe gegen die Sozialdemokratie be¬
rufen sei, aber wir mochten hinzufügen: Auf, ihr Pfarrer, ihr kirchlichen
Behörden, thut, was euers Amts ist!

Ein überaus wichtiges Mittel zur Bekämpfung der Sozialdemokratie ist
ein tüchtiges Elementarschulwesen. Wie steht es damit in Preuße"? Werden
die schulpflichtigen Kinder wirklich vom sechsten bis zum vierzehnten Jahre in
den Schulen gesehen oder bis zur Erlangung einer gewissen Reife, über die
sich der Lvkalvorsteher zu erklären hat? Werden die säumigen Eltern bestraft?
Die Bestimmungen darüber sind überall vorhanden, aber sie werden nicht
überall ausgeführt. Aus den Jahren 1877, 1878 n. s. w. ist uns bekannt,
daß in Danzig mehr als sechshundert schulpflichtige Kinder überhaupt keine
Schulen besuchten; in Stettin hat die Volkszählung von 1885 ähnliche Er¬
gebnisse gezeigt. Der Rektor einer größeren Elementarschule in der Nähe
einer Prvvinzialhauptstadt sagte auf Befragen, er mache von den Schnl-
versäumnissen keine Anzeige, wenn sie nicht zehn Tage des Monats betrügen, aber
auch dann, wenn die Versäumnisse zehn Tage überstiegen, würde eine Bestrafung
nicht verfügt, weil die Leute arm seien, Haftstrafe verbüßen müßten und die
Gemeinde noch die Kosten dafür zu entrichten hätte. Ist much eine solche schlaffe
Praxis nur im Osten und in wenigen Distrikten des Westens der Monarchie
zu finden, so scheint es doch hohe Zeit, endlich mit der allgemeinen Schulpflicht
Ernst zu machen; die Staatsbehörde ist dazu berufen und wird sich ihrer
Aufgabe ohne Nachteil für das Gemeinwohl nicht länger entziehen können-
Hiermit würde der fünfte Punkt des erwähnten Aufsatzes seine Erledigung
finden. Wir fügen noch hinzu, daß in Preußen jeder Elementarlehrer das
Recht hat, deu Schülern eine Züchtigung, die sich allerdings nicht zur Mi߬
handlung versteigen darf, angedeihen zu lassen. Auch hier ist das Recht da,
es braucht nur benutzt zu werden.

Die auf dem Gebiete der Schule mangelnde Staatsnnfsicht fehlt aber
mich auf andern Gebieten der Verwaltung, z. B. auf dem der Armenpflege.
Das preußische Armengesetz vom 8. März 1871 bestimmt in H 51:

Jedem hilfsbedürftigen Deutschen ist von dem zu seiner Unterstützung ver¬
pflichteten Armenverbcmde Obdach, der unentbehrliche Lebensunterhalt, die erforder¬
liche Pflege in Krankheitsfällen und im Falle seines Ablebens ein angemessenes
Begräbnis zu gewähren.

So klar und deutlich diese Vorschrift ist, so vielfach wird sie umgangcn-
Viele Armenverwaltungen großer Gemeinden stellen den geradezu gesetzwidrigen


Zur Bekämpfung der Sozialdemokratie

ist es, daß den Pfarrern der Religionsunterricht in den Elementarschulen ge¬
nommen sei; bekanntlich steht aber den Pfarrern dus Recht zu, dein Religions¬
unterricht in den Elementarschulen beizuwohnen und bei Mißständen auf eine
Änderung hinzuwirken. Die Pfarrer machen aber von dieser Befugnis einen
äußerst bescheidenen Gebrauch. Wir stimmen ans vollem Herzen der Ansicht
bei, das; die evangelische Kirche zum Kampfe gegen die Sozialdemokratie be¬
rufen sei, aber wir mochten hinzufügen: Auf, ihr Pfarrer, ihr kirchlichen
Behörden, thut, was euers Amts ist!

Ein überaus wichtiges Mittel zur Bekämpfung der Sozialdemokratie ist
ein tüchtiges Elementarschulwesen. Wie steht es damit in Preuße»? Werden
die schulpflichtigen Kinder wirklich vom sechsten bis zum vierzehnten Jahre in
den Schulen gesehen oder bis zur Erlangung einer gewissen Reife, über die
sich der Lvkalvorsteher zu erklären hat? Werden die säumigen Eltern bestraft?
Die Bestimmungen darüber sind überall vorhanden, aber sie werden nicht
überall ausgeführt. Aus den Jahren 1877, 1878 n. s. w. ist uns bekannt,
daß in Danzig mehr als sechshundert schulpflichtige Kinder überhaupt keine
Schulen besuchten; in Stettin hat die Volkszählung von 1885 ähnliche Er¬
gebnisse gezeigt. Der Rektor einer größeren Elementarschule in der Nähe
einer Prvvinzialhauptstadt sagte auf Befragen, er mache von den Schnl-
versäumnissen keine Anzeige, wenn sie nicht zehn Tage des Monats betrügen, aber
auch dann, wenn die Versäumnisse zehn Tage überstiegen, würde eine Bestrafung
nicht verfügt, weil die Leute arm seien, Haftstrafe verbüßen müßten und die
Gemeinde noch die Kosten dafür zu entrichten hätte. Ist much eine solche schlaffe
Praxis nur im Osten und in wenigen Distrikten des Westens der Monarchie
zu finden, so scheint es doch hohe Zeit, endlich mit der allgemeinen Schulpflicht
Ernst zu machen; die Staatsbehörde ist dazu berufen und wird sich ihrer
Aufgabe ohne Nachteil für das Gemeinwohl nicht länger entziehen können-
Hiermit würde der fünfte Punkt des erwähnten Aufsatzes seine Erledigung
finden. Wir fügen noch hinzu, daß in Preußen jeder Elementarlehrer das
Recht hat, deu Schülern eine Züchtigung, die sich allerdings nicht zur Mi߬
handlung versteigen darf, angedeihen zu lassen. Auch hier ist das Recht da,
es braucht nur benutzt zu werden.

Die auf dem Gebiete der Schule mangelnde Staatsnnfsicht fehlt aber
mich auf andern Gebieten der Verwaltung, z. B. auf dem der Armenpflege.
Das preußische Armengesetz vom 8. März 1871 bestimmt in H 51:

Jedem hilfsbedürftigen Deutschen ist von dem zu seiner Unterstützung ver¬
pflichteten Armenverbcmde Obdach, der unentbehrliche Lebensunterhalt, die erforder¬
liche Pflege in Krankheitsfällen und im Falle seines Ablebens ein angemessenes
Begräbnis zu gewähren.

So klar und deutlich diese Vorschrift ist, so vielfach wird sie umgangcn-
Viele Armenverwaltungen großer Gemeinden stellen den geradezu gesetzwidrigen


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[0158] Zur Bekämpfung der Sozialdemokratie ist es, daß den Pfarrern der Religionsunterricht in den Elementarschulen ge¬ nommen sei; bekanntlich steht aber den Pfarrern dus Recht zu, dein Religions¬ unterricht in den Elementarschulen beizuwohnen und bei Mißständen auf eine Änderung hinzuwirken. Die Pfarrer machen aber von dieser Befugnis einen äußerst bescheidenen Gebrauch. Wir stimmen ans vollem Herzen der Ansicht bei, das; die evangelische Kirche zum Kampfe gegen die Sozialdemokratie be¬ rufen sei, aber wir mochten hinzufügen: Auf, ihr Pfarrer, ihr kirchlichen Behörden, thut, was euers Amts ist! Ein überaus wichtiges Mittel zur Bekämpfung der Sozialdemokratie ist ein tüchtiges Elementarschulwesen. Wie steht es damit in Preuße»? Werden die schulpflichtigen Kinder wirklich vom sechsten bis zum vierzehnten Jahre in den Schulen gesehen oder bis zur Erlangung einer gewissen Reife, über die sich der Lvkalvorsteher zu erklären hat? Werden die säumigen Eltern bestraft? Die Bestimmungen darüber sind überall vorhanden, aber sie werden nicht überall ausgeführt. Aus den Jahren 1877, 1878 n. s. w. ist uns bekannt, daß in Danzig mehr als sechshundert schulpflichtige Kinder überhaupt keine Schulen besuchten; in Stettin hat die Volkszählung von 1885 ähnliche Er¬ gebnisse gezeigt. Der Rektor einer größeren Elementarschule in der Nähe einer Prvvinzialhauptstadt sagte auf Befragen, er mache von den Schnl- versäumnissen keine Anzeige, wenn sie nicht zehn Tage des Monats betrügen, aber auch dann, wenn die Versäumnisse zehn Tage überstiegen, würde eine Bestrafung nicht verfügt, weil die Leute arm seien, Haftstrafe verbüßen müßten und die Gemeinde noch die Kosten dafür zu entrichten hätte. Ist much eine solche schlaffe Praxis nur im Osten und in wenigen Distrikten des Westens der Monarchie zu finden, so scheint es doch hohe Zeit, endlich mit der allgemeinen Schulpflicht Ernst zu machen; die Staatsbehörde ist dazu berufen und wird sich ihrer Aufgabe ohne Nachteil für das Gemeinwohl nicht länger entziehen können- Hiermit würde der fünfte Punkt des erwähnten Aufsatzes seine Erledigung finden. Wir fügen noch hinzu, daß in Preußen jeder Elementarlehrer das Recht hat, deu Schülern eine Züchtigung, die sich allerdings nicht zur Mi߬ handlung versteigen darf, angedeihen zu lassen. Auch hier ist das Recht da, es braucht nur benutzt zu werden. Die auf dem Gebiete der Schule mangelnde Staatsnnfsicht fehlt aber mich auf andern Gebieten der Verwaltung, z. B. auf dem der Armenpflege. Das preußische Armengesetz vom 8. März 1871 bestimmt in H 51: Jedem hilfsbedürftigen Deutschen ist von dem zu seiner Unterstützung ver¬ pflichteten Armenverbcmde Obdach, der unentbehrliche Lebensunterhalt, die erforder¬ liche Pflege in Krankheitsfällen und im Falle seines Ablebens ein angemessenes Begräbnis zu gewähren. So klar und deutlich diese Vorschrift ist, so vielfach wird sie umgangcn- Viele Armenverwaltungen großer Gemeinden stellen den geradezu gesetzwidrigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/158>, abgerufen am 22.07.2024.