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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Zwei Schauspiele von Henrik Ibsen

keit" schreiben, aber es ist ihm nur gelungen, das Drama von der "eigne"
Unklarheit" zu schreiben. In keiner Litteratnrgattnng rächt sich das phan¬
tastische Spiel mit unsichern, stützenlosen Stinunungen bitterer, als innerhalb
der straffen Architektonik des Dramas, die keine losen Steine duldet, sondern
nnr ganz fest gefügte, mit scharfen Umrissen.

Der geistige Niederschlag in Ibsens Werken zeigt überhaupt zwei durchaus
verschiedne und unvereinbare Elemente. Einerseits predigt der Dichter -- denn
seine sozialen Stücke sind alle Programmarbeiten -- das völlige, unumschränkte
Ausleben der Persönlichkeit über die dummen Schranken der sogenannten ge¬
sellschaftlichen Ehrbarkeit und Sittlichkeit, das Recht der Persönlichkeit auf
ungehinderte Entfaltung. Anderseits stellt er die allerstrengsten Forderungen
der Moral ans, donnert gegen alles Pallirer, verlangt die strengste Unter¬
ordnung unter die ewigen Prinzipien des Sittengesetzes, obwohl "keine normal
gebaute Wahrheit auf der Welt länger als höchstens zwanzig Jahre lebt,"
und verliert sich dadurch in einen ungeheuern Widerspruch, den er nicht zu
überwinden vermag. Die erste Forderung würde nicht nur zu einem gesell¬
schaftlichen Atomismns führen, den man sich, in die Wirklichkeit übersetzt, gar
nicht vorstellen kann, zu einem Krieg aller gegen alle, zur Auflösung aller
Kultur, zur vollendeten Barbarei; sie würde auch eben dieses von ihm so
streng verteidigte Sittengesetz beseitigen, denn gerade dieses begründet die
Schränken, die der Einzelne im Zusammenleben mit andern beachten muß,
damit ein solches überhaupt möglich sei.

Schon dieser klaffende Bruch, der durch Ibsens ganze Anschauung vom
Menschendnsein geht, erschüttert deu Sockel, der sein Bild im Tempel der
"Realisten" trägt. Der wahre Realist konstruirt nicht, stellt keine Forderungen
an die Menschheit und die Weltordnung, wird nie zum Programmdichter,
sondern bescheidet sich in der treuen, absichtslosen Wiedergabe des wirklich be¬
stehenden. Das Einzige, was er -- im Gegensatze zum rohen Naturalisten --
aus seinem anspruchslosen Ich hinzufügt, ist eine solche Führung der Hand¬
lang, daß diese, ganz wie das organische Vorbild der Pflanze, sich natur¬
gemäß zu einer edeln Frucht entfaltet: zur Allgemeingiltigkeit, die die rein
äußerlichen Einzelvorgänge erst erhalten, wenn sie ans dem Kreise der Zu¬
fälligkeiten in den einer zwingenden logischen Folge erhoben werden. Nicht
die Wahrheit allein zeitigt deu eigentlichen Realismus in der Kunst, es bedarf
noch des erwärmenden Svuueublicks der Schönheit, wenn er anders wirkliche
Kunstwerke gestalten soll. Denn sollte das Kunstwerk, wie der Irrtum heut¬
zutage so aufdringlich geltend machen möchte, schon im photographischen Ab¬
klatsch der gemeinen Wirklichkeit geboren werden, dann kann sich die Menschheit
am unvermittelter Anblick dieser Wirklichkeit genügen lassen, die doch immer
interessanter sein wird als deren mattes Abbild. Die Wahrheit allem ist
Sache der Wisseuschnft, und die Kunst bleibt unter ihrer ganz spezifischen Auf'


Zwei Schauspiele von Henrik Ibsen

keit" schreiben, aber es ist ihm nur gelungen, das Drama von der „eigne»
Unklarheit" zu schreiben. In keiner Litteratnrgattnng rächt sich das phan¬
tastische Spiel mit unsichern, stützenlosen Stinunungen bitterer, als innerhalb
der straffen Architektonik des Dramas, die keine losen Steine duldet, sondern
nnr ganz fest gefügte, mit scharfen Umrissen.

Der geistige Niederschlag in Ibsens Werken zeigt überhaupt zwei durchaus
verschiedne und unvereinbare Elemente. Einerseits predigt der Dichter — denn
seine sozialen Stücke sind alle Programmarbeiten — das völlige, unumschränkte
Ausleben der Persönlichkeit über die dummen Schranken der sogenannten ge¬
sellschaftlichen Ehrbarkeit und Sittlichkeit, das Recht der Persönlichkeit auf
ungehinderte Entfaltung. Anderseits stellt er die allerstrengsten Forderungen
der Moral ans, donnert gegen alles Pallirer, verlangt die strengste Unter¬
ordnung unter die ewigen Prinzipien des Sittengesetzes, obwohl „keine normal
gebaute Wahrheit auf der Welt länger als höchstens zwanzig Jahre lebt,"
und verliert sich dadurch in einen ungeheuern Widerspruch, den er nicht zu
überwinden vermag. Die erste Forderung würde nicht nur zu einem gesell¬
schaftlichen Atomismns führen, den man sich, in die Wirklichkeit übersetzt, gar
nicht vorstellen kann, zu einem Krieg aller gegen alle, zur Auflösung aller
Kultur, zur vollendeten Barbarei; sie würde auch eben dieses von ihm so
streng verteidigte Sittengesetz beseitigen, denn gerade dieses begründet die
Schränken, die der Einzelne im Zusammenleben mit andern beachten muß,
damit ein solches überhaupt möglich sei.

Schon dieser klaffende Bruch, der durch Ibsens ganze Anschauung vom
Menschendnsein geht, erschüttert deu Sockel, der sein Bild im Tempel der
„Realisten" trägt. Der wahre Realist konstruirt nicht, stellt keine Forderungen
an die Menschheit und die Weltordnung, wird nie zum Programmdichter,
sondern bescheidet sich in der treuen, absichtslosen Wiedergabe des wirklich be¬
stehenden. Das Einzige, was er — im Gegensatze zum rohen Naturalisten —
aus seinem anspruchslosen Ich hinzufügt, ist eine solche Führung der Hand¬
lang, daß diese, ganz wie das organische Vorbild der Pflanze, sich natur¬
gemäß zu einer edeln Frucht entfaltet: zur Allgemeingiltigkeit, die die rein
äußerlichen Einzelvorgänge erst erhalten, wenn sie ans dem Kreise der Zu¬
fälligkeiten in den einer zwingenden logischen Folge erhoben werden. Nicht
die Wahrheit allein zeitigt deu eigentlichen Realismus in der Kunst, es bedarf
noch des erwärmenden Svuueublicks der Schönheit, wenn er anders wirkliche
Kunstwerke gestalten soll. Denn sollte das Kunstwerk, wie der Irrtum heut¬
zutage so aufdringlich geltend machen möchte, schon im photographischen Ab¬
klatsch der gemeinen Wirklichkeit geboren werden, dann kann sich die Menschheit
am unvermittelter Anblick dieser Wirklichkeit genügen lassen, die doch immer
interessanter sein wird als deren mattes Abbild. Die Wahrheit allem ist
Sache der Wisseuschnft, und die Kunst bleibt unter ihrer ganz spezifischen Auf'


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/138>, abgerufen am 22.07.2024.