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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Zwei Schauspiele von Henrik Ibsen

sondern anch andre Vernunftwesen außer sich denken, also sich als ein Ich
unter mehreren setzen." In der "Kritik aller Offenbarung" erklärt er ferner:
"Es ist das einzige absolut giltige Objektive, daß es eine moralische Welt-
ordnung giebt, daß jedem Individuum seiue bestimmte Stelle in dieser Ordnung
angewiesen und auf seine Arbeit gerechnet ist." Von hier zur Anerkennung
der Gleichberechtigung dieser Einzelichs ist nur ein Schritt, und so wird
jedes in seiner Bethätigung beschränkt durch die gleichberechtigte Bethätigung
der andern. Nur der oberflächliche Sinn eines Friedrich Schlegel konnte seine
aufdringlich gepredigte Willkür des Subjekts an jene Lehre anknüpfen, um
daraus eine Weltanschauung zu gewinnen, worin der schlaraffenhnfte Müßig¬
gang und die freche Nacktheit seiner "Lucinde" ihre ästhetisch-sittliche Be¬
gründung finden sollte. Dagegen nannte er Schiller "moralisch bleiern,"
sprach von dessen "erhabener Unmäßigkeit" und machte sich über Gedichte wie
die "Würde der Frauen" im frechsten Tone lustig. Ibsen selbst ist ja welt¬
weit entfernt von einer solchen Auffassung; sein Wollen ist tief sittlich.
Aber, wie uoch genauer zu erweisen sein wird, es fehlt ihm die folgerichtige
Klarheit, um alle Trugschlüsse abzuweisen, die sich an seinen Hauptgrundsatz von
der freien Bethätigung des Einzelnen als aufdringliche Trabanten heran-
schmeicheln. Dieser Grundsatz hat ja in unsrer sittlichen Welt Giltigkeit nur
in dem Sinne, daß jeder Charakter sich folgerichtig in Treue gegen sich selbst
entwickeln soll, aber nur bis zu der Grenze, wo diese Treue in einen aller¬
dings verhüllten Egoismus umschlägt und darum unsittlich wird. Die wahre
Sittlichkeit erschöpft sich nicht damit, daß man einseitig die Rechte der Persön¬
lichkeit, deren Pflichten gegen sich selbst betont; zur sittlichem Vollendung strebt
in Wahrheit nur der, der den oft schwer erkennbaren Pfad zwischen diesen
Pflichten und den Pflichten gegen andre einzuhalten sucht. Und hier, auf
dieser schmalen Grenze ist es, wo die Blüten echtester Tragik in Überfülle
sprießen. Wenn Nora ihren Gatten verläßt in dem Augenblicke, wo sie dessen
sittliche Unzulänglichkeit erkennt, so handelt sie recht; wenn sie aber den Staub
ihres Puppenheims so gründlich von ihren Fersen schüttelt, daß sie, um
nur sich selbst zu befreien, sich aller Pflichten gegen ihre Kinder entschlage und
sie dem Verkommen in der Stickluft des väterlichen Heims aussetzt, die ihnen
den unumgänglichen moralischen Sauerstoff nicht zuführen wird, so handelt sie
unrecht. Der Dichter hat es in seiner sittlichen Einseitigkeit nicht vermocht,
einen befriedigenden Ausweg ans diesem ernsten Zwiespalt zu finden, und er
lag doch für sein sonst so mutiges Zugreifen sehr nahe!

Der letzte Grund, worauf sich diese Einseitigkeit Ibsens aufbaut, ist der,
daß er uicht allen Lebensformen mit gleicher Vorurteilslosigkeit beobachtend
gegenübertritt und daß er darum alles eher ist als der "große Realist." Es
ist seinem neuesten Werke vorbehalten geblieben, sich sogar in das Gebiet einer
blühenden Phantastik zu verlieren und damit die Befürchtung aller derer zu zer-


Zwei Schauspiele von Henrik Ibsen

sondern anch andre Vernunftwesen außer sich denken, also sich als ein Ich
unter mehreren setzen." In der „Kritik aller Offenbarung" erklärt er ferner:
„Es ist das einzige absolut giltige Objektive, daß es eine moralische Welt-
ordnung giebt, daß jedem Individuum seiue bestimmte Stelle in dieser Ordnung
angewiesen und auf seine Arbeit gerechnet ist." Von hier zur Anerkennung
der Gleichberechtigung dieser Einzelichs ist nur ein Schritt, und so wird
jedes in seiner Bethätigung beschränkt durch die gleichberechtigte Bethätigung
der andern. Nur der oberflächliche Sinn eines Friedrich Schlegel konnte seine
aufdringlich gepredigte Willkür des Subjekts an jene Lehre anknüpfen, um
daraus eine Weltanschauung zu gewinnen, worin der schlaraffenhnfte Müßig¬
gang und die freche Nacktheit seiner „Lucinde" ihre ästhetisch-sittliche Be¬
gründung finden sollte. Dagegen nannte er Schiller „moralisch bleiern,"
sprach von dessen „erhabener Unmäßigkeit" und machte sich über Gedichte wie
die „Würde der Frauen" im frechsten Tone lustig. Ibsen selbst ist ja welt¬
weit entfernt von einer solchen Auffassung; sein Wollen ist tief sittlich.
Aber, wie uoch genauer zu erweisen sein wird, es fehlt ihm die folgerichtige
Klarheit, um alle Trugschlüsse abzuweisen, die sich an seinen Hauptgrundsatz von
der freien Bethätigung des Einzelnen als aufdringliche Trabanten heran-
schmeicheln. Dieser Grundsatz hat ja in unsrer sittlichen Welt Giltigkeit nur
in dem Sinne, daß jeder Charakter sich folgerichtig in Treue gegen sich selbst
entwickeln soll, aber nur bis zu der Grenze, wo diese Treue in einen aller¬
dings verhüllten Egoismus umschlägt und darum unsittlich wird. Die wahre
Sittlichkeit erschöpft sich nicht damit, daß man einseitig die Rechte der Persön¬
lichkeit, deren Pflichten gegen sich selbst betont; zur sittlichem Vollendung strebt
in Wahrheit nur der, der den oft schwer erkennbaren Pfad zwischen diesen
Pflichten und den Pflichten gegen andre einzuhalten sucht. Und hier, auf
dieser schmalen Grenze ist es, wo die Blüten echtester Tragik in Überfülle
sprießen. Wenn Nora ihren Gatten verläßt in dem Augenblicke, wo sie dessen
sittliche Unzulänglichkeit erkennt, so handelt sie recht; wenn sie aber den Staub
ihres Puppenheims so gründlich von ihren Fersen schüttelt, daß sie, um
nur sich selbst zu befreien, sich aller Pflichten gegen ihre Kinder entschlage und
sie dem Verkommen in der Stickluft des väterlichen Heims aussetzt, die ihnen
den unumgänglichen moralischen Sauerstoff nicht zuführen wird, so handelt sie
unrecht. Der Dichter hat es in seiner sittlichen Einseitigkeit nicht vermocht,
einen befriedigenden Ausweg ans diesem ernsten Zwiespalt zu finden, und er
lag doch für sein sonst so mutiges Zugreifen sehr nahe!

Der letzte Grund, worauf sich diese Einseitigkeit Ibsens aufbaut, ist der,
daß er uicht allen Lebensformen mit gleicher Vorurteilslosigkeit beobachtend
gegenübertritt und daß er darum alles eher ist als der „große Realist." Es
ist seinem neuesten Werke vorbehalten geblieben, sich sogar in das Gebiet einer
blühenden Phantastik zu verlieren und damit die Befürchtung aller derer zu zer-


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[0134] Zwei Schauspiele von Henrik Ibsen sondern anch andre Vernunftwesen außer sich denken, also sich als ein Ich unter mehreren setzen." In der „Kritik aller Offenbarung" erklärt er ferner: „Es ist das einzige absolut giltige Objektive, daß es eine moralische Welt- ordnung giebt, daß jedem Individuum seiue bestimmte Stelle in dieser Ordnung angewiesen und auf seine Arbeit gerechnet ist." Von hier zur Anerkennung der Gleichberechtigung dieser Einzelichs ist nur ein Schritt, und so wird jedes in seiner Bethätigung beschränkt durch die gleichberechtigte Bethätigung der andern. Nur der oberflächliche Sinn eines Friedrich Schlegel konnte seine aufdringlich gepredigte Willkür des Subjekts an jene Lehre anknüpfen, um daraus eine Weltanschauung zu gewinnen, worin der schlaraffenhnfte Müßig¬ gang und die freche Nacktheit seiner „Lucinde" ihre ästhetisch-sittliche Be¬ gründung finden sollte. Dagegen nannte er Schiller „moralisch bleiern," sprach von dessen „erhabener Unmäßigkeit" und machte sich über Gedichte wie die „Würde der Frauen" im frechsten Tone lustig. Ibsen selbst ist ja welt¬ weit entfernt von einer solchen Auffassung; sein Wollen ist tief sittlich. Aber, wie uoch genauer zu erweisen sein wird, es fehlt ihm die folgerichtige Klarheit, um alle Trugschlüsse abzuweisen, die sich an seinen Hauptgrundsatz von der freien Bethätigung des Einzelnen als aufdringliche Trabanten heran- schmeicheln. Dieser Grundsatz hat ja in unsrer sittlichen Welt Giltigkeit nur in dem Sinne, daß jeder Charakter sich folgerichtig in Treue gegen sich selbst entwickeln soll, aber nur bis zu der Grenze, wo diese Treue in einen aller¬ dings verhüllten Egoismus umschlägt und darum unsittlich wird. Die wahre Sittlichkeit erschöpft sich nicht damit, daß man einseitig die Rechte der Persön¬ lichkeit, deren Pflichten gegen sich selbst betont; zur sittlichem Vollendung strebt in Wahrheit nur der, der den oft schwer erkennbaren Pfad zwischen diesen Pflichten und den Pflichten gegen andre einzuhalten sucht. Und hier, auf dieser schmalen Grenze ist es, wo die Blüten echtester Tragik in Überfülle sprießen. Wenn Nora ihren Gatten verläßt in dem Augenblicke, wo sie dessen sittliche Unzulänglichkeit erkennt, so handelt sie recht; wenn sie aber den Staub ihres Puppenheims so gründlich von ihren Fersen schüttelt, daß sie, um nur sich selbst zu befreien, sich aller Pflichten gegen ihre Kinder entschlage und sie dem Verkommen in der Stickluft des väterlichen Heims aussetzt, die ihnen den unumgänglichen moralischen Sauerstoff nicht zuführen wird, so handelt sie unrecht. Der Dichter hat es in seiner sittlichen Einseitigkeit nicht vermocht, einen befriedigenden Ausweg ans diesem ernsten Zwiespalt zu finden, und er lag doch für sein sonst so mutiges Zugreifen sehr nahe! Der letzte Grund, worauf sich diese Einseitigkeit Ibsens aufbaut, ist der, daß er uicht allen Lebensformen mit gleicher Vorurteilslosigkeit beobachtend gegenübertritt und daß er darum alles eher ist als der „große Realist." Es ist seinem neuesten Werke vorbehalten geblieben, sich sogar in das Gebiet einer blühenden Phantastik zu verlieren und damit die Befürchtung aller derer zu zer-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/134>, abgerufen am 22.07.2024.