Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.Jean Paul so sichrere Herrschaft gewinnt sie gerade jetzt über seine Person; vielleicht hat Nur wer sich über die tiefern Einwirkungen gewisser Jugendgewohnheiten Jean Paul so sichrere Herrschaft gewinnt sie gerade jetzt über seine Person; vielleicht hat Nur wer sich über die tiefern Einwirkungen gewisser Jugendgewohnheiten <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0099" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/206744"/> <fw type="header" place="top"> Jean Paul</fw><lb/> <p xml:id="ID_253" prev="#ID_252"> so sichrere Herrschaft gewinnt sie gerade jetzt über seine Person; vielleicht hat<lb/> auch hier das Körperliche eine allzu große Gewalt erlangt. Verhängnisvoller<lb/> jedoch noch als diese Wandlungen war eine Veränderung, welche noch in den<lb/> ersten Baireuther Jahren undenkbar schien: das Familienleben Jean Pauls<lb/> verlor mit den Jahren mehr und mehr den poetischen Zauber der ersten Zeit;<lb/> ja die während der Reisen zwischen ihm und der Gattin gewechselten Briefe<lb/> verraten, daß insbesondre Karoline Richter sich zu Zeiten tief unglücklich in<lb/> ihrer Ehe gefühlt hat. Jean Paul war zunächst empfindsamer und reizbarer<lb/> geworden. Er machte sodann sein Bewußtsein, daß er der Herr des Hauses<lb/> sei, allzu oft und an unrechter Stelle auch Kleinigkeiten gegenüber geltend<lb/> und glaubte selbst in dein, was lediglich in den Bereich des Frauenregiments<lb/> gehörte, Überlegenheit zu besitzen. Er war endlich von seinem genialen Egois¬<lb/> mus, der ihm früher so oft verhängnisvoll gewesen war, durch die Ehe keines¬<lb/> wegs geheilt und lebte unbekümmert um die liebeheischende Gattin in der Welt<lb/> seiner Ideen. So füllt anch jetzt erst das rechte Licht auf seine Besuche bei<lb/> der Nollwenzel; nichts hinderte ihn dort, sich selber zu leben, daß aber damit<lb/> allmählich das häusliche Glück untergraben werden mußte, entging ihm trotz<lb/> der besten Vorsätze."</p><lb/> <p xml:id="ID_254" next="#ID_255"> Nur wer sich über die tiefern Einwirkungen gewisser Jugendgewohnheiten<lb/> und die Eigenart einer in der Einsamkeit entwickelten und durch ein starkes<lb/> Selbstgefühl spätern Bildungseinflüssen entrückten genialen Natur nicht klar<lb/> ist, wird darüber erstaunen, daß Jean Paul in seinen spätern Jahren selbst<lb/> ein wenig die Rolle einer seiner Figuren, der Lenette nus dem „Siebenkäs,"<lb/> übernahm. Auch Nerrlichs liebevolle Charakteristik ändert an der Thatsache<lb/> nichts, daß bei Jean Paul der Schriftsteller größer war als der Mensch, daß<lb/> er keine jener Persönlichkeiten, jener Gestalten ist, zu denen eine nachkommende'<lb/> Jugend bewundernd, sich nachbildend emporblickt. Die Rückwirkung der<lb/> tiefen, erhabnen und edel» Gedanken Jean Pauls auf sein persönliches Leben<lb/> war viel geringer als bei andern Heroen unsrer Litteratur, ja selbst bei<lb/> kleinern Talenten vornehm männlichen Gepräges. Die völlige Hingebung an<lb/> seine Phantasie- und Ideenwelt, der für seine große Begabung ein merkwürdig<lb/> geringer Trieb nach künstlerischer Vollendung und Reife beigemischt war, ward<lb/> der Entfaltung der rein menschlichen Vorzüge in Jean Paul vielfach hinderlich,<lb/> und sein eignes Wort: „Der Jüngling ist aus Willkür sonderbar und freut<lb/> sich; der Mann ists unabsichtlich und gezwungen und ärgert sich" leidet auf<lb/> ehr nur zu viel Anwendung. Aber einen Zug' von Sympathie zu dem Herzen<lb/> Jean Pauls, zu seiner jünglinghaften Überschwünglichkeit, deren höchstes Ideal<lb/> unrer die Jugend selbst bleibt, wird auch der empfinden, der die Anschauung<lb/> Nerrlichs über Bedeutung und Vorbildlichkeit des großen Humoristen keines¬<lb/> wegs völlig zu teilen vermag. Eine der Voraussetzungen des Biographen<lb/> ist die, daß Jean Paul der Vorläufer eines Fortschritts und einer neuen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0099]
Jean Paul
so sichrere Herrschaft gewinnt sie gerade jetzt über seine Person; vielleicht hat
auch hier das Körperliche eine allzu große Gewalt erlangt. Verhängnisvoller
jedoch noch als diese Wandlungen war eine Veränderung, welche noch in den
ersten Baireuther Jahren undenkbar schien: das Familienleben Jean Pauls
verlor mit den Jahren mehr und mehr den poetischen Zauber der ersten Zeit;
ja die während der Reisen zwischen ihm und der Gattin gewechselten Briefe
verraten, daß insbesondre Karoline Richter sich zu Zeiten tief unglücklich in
ihrer Ehe gefühlt hat. Jean Paul war zunächst empfindsamer und reizbarer
geworden. Er machte sodann sein Bewußtsein, daß er der Herr des Hauses
sei, allzu oft und an unrechter Stelle auch Kleinigkeiten gegenüber geltend
und glaubte selbst in dein, was lediglich in den Bereich des Frauenregiments
gehörte, Überlegenheit zu besitzen. Er war endlich von seinem genialen Egois¬
mus, der ihm früher so oft verhängnisvoll gewesen war, durch die Ehe keines¬
wegs geheilt und lebte unbekümmert um die liebeheischende Gattin in der Welt
seiner Ideen. So füllt anch jetzt erst das rechte Licht auf seine Besuche bei
der Nollwenzel; nichts hinderte ihn dort, sich selber zu leben, daß aber damit
allmählich das häusliche Glück untergraben werden mußte, entging ihm trotz
der besten Vorsätze."
Nur wer sich über die tiefern Einwirkungen gewisser Jugendgewohnheiten
und die Eigenart einer in der Einsamkeit entwickelten und durch ein starkes
Selbstgefühl spätern Bildungseinflüssen entrückten genialen Natur nicht klar
ist, wird darüber erstaunen, daß Jean Paul in seinen spätern Jahren selbst
ein wenig die Rolle einer seiner Figuren, der Lenette nus dem „Siebenkäs,"
übernahm. Auch Nerrlichs liebevolle Charakteristik ändert an der Thatsache
nichts, daß bei Jean Paul der Schriftsteller größer war als der Mensch, daß
er keine jener Persönlichkeiten, jener Gestalten ist, zu denen eine nachkommende'
Jugend bewundernd, sich nachbildend emporblickt. Die Rückwirkung der
tiefen, erhabnen und edel» Gedanken Jean Pauls auf sein persönliches Leben
war viel geringer als bei andern Heroen unsrer Litteratur, ja selbst bei
kleinern Talenten vornehm männlichen Gepräges. Die völlige Hingebung an
seine Phantasie- und Ideenwelt, der für seine große Begabung ein merkwürdig
geringer Trieb nach künstlerischer Vollendung und Reife beigemischt war, ward
der Entfaltung der rein menschlichen Vorzüge in Jean Paul vielfach hinderlich,
und sein eignes Wort: „Der Jüngling ist aus Willkür sonderbar und freut
sich; der Mann ists unabsichtlich und gezwungen und ärgert sich" leidet auf
ehr nur zu viel Anwendung. Aber einen Zug' von Sympathie zu dem Herzen
Jean Pauls, zu seiner jünglinghaften Überschwünglichkeit, deren höchstes Ideal
unrer die Jugend selbst bleibt, wird auch der empfinden, der die Anschauung
Nerrlichs über Bedeutung und Vorbildlichkeit des großen Humoristen keines¬
wegs völlig zu teilen vermag. Eine der Voraussetzungen des Biographen
ist die, daß Jean Paul der Vorläufer eines Fortschritts und einer neuen
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