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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Existenz hineingreift, verfolgt der moderne Stil Jean Pauls eine buntere Welt
in die tiefern Brüche des Bewußtseins und der Erscheinung, in die härtern
Bedingungen des Daseins und die schärfste Eigenheit der Individualität."
Ist nun in diese" Individualitäten nichts oder wenig mehr, was uns rührt,
ergreift, fesselt, spornt, trägt, hebt, bedürfen wir zum Verständnis dieser ,,ko¬
mischen und humoristischen Charaktere, dergleichen sich keine Nation rühmen
kann," doch immer eines beträchtliche" Maßes von Reflexion und historischer
Bildung, so können wir dem Anspruch nicht genng thun, den der Dichter,
jeder Dichter an uns stellt. Wie viel eine Biographie hieran bessern kann,
ob eine sehr feinfühlige und geschickte Auswahl aus Jean Pauls Werken
(natürlich nicht "Lichtstrahlen") größern Kreisen zum Bewußtsein des Lebendig-
Unvergänglichen in Jean Paul verhelfen könnte, lassen wir dahingestellt. Wer
nicht ganz in der Gegenwart aufgeht, wird es Nerrlich Dank wissen, sich so
eingehend und hingebend mit dem großen Schriftsteller beschäftigt zu haben,
und wird die eigentliche Lebensgeschichte mit Genuß und Belehrung lesen, mich
wenn er nicht ans den Standpunkt des Verfassers hinübertreten kaun.

In einer längern Einleitung hat Nerrlich sowohl seine Methode zu recht¬
fertigen, als das Ergebnis seiner Gesamtdarstellung vorläufig zusammenzufassen
gesucht. "Wir haben, heißt es, in Jean Paul ebenso einen unsrer größten
Genremaler und Jdhllendichter zu verehren, wie er im Gegensatze zu den
aristokratischen Schiller und Goethe der demokratische Dichter, welcher anch den
Niedrigen und Armen und Verachteten das Evangelium gepredigt hat, zu
nennen ist. Doch auch noch in andern Beziehungen erweisen sich seine Mängel
als Kehrseiten seiner Vorzüge. Reife Männer zwar hat er nicht darzustellen
gewußt, dafür aber hat er die Poesie der Kindheit und des Jünglingsalters
mit einer Tiefe und Wahrheit geschildert, wie kein zweiter neben ihm. Die
Naturforschung zwar war ihm fremd, dafür aber hat er Hymnen zum Preise
der Natur gedichtet, welchen nur die gebuudue Form fehlt, um ihn den ersten
unsrer Lyriker beizugesellen. Die Liebe des Mannes zum Weibe zwar hat
Jean Paul ihre Geheimnisse nicht entschleiert, dafür aber die des Jünglings
Ma Jünglinge, sodaß N'ir in ihm den klassischen Dichter der Freundschaft zu
erblicken haben. Formvollendete Schönheit fehlt allerdings seinen Werken, dafür
über rauscht seine Sprache nicht selten in süßem, bestrickenden Wohllaute dahin,
""d was für Goethe die bildende Kunst, ist für ihn die Musik gewesen. Jean
Paul war sodann ein sprachgewaltiges und sprachbildeudes Genie, wie kein
zweiter seit Luther; ein Blick nicht sowohl in seine Schriften als in Grimms
Wörterbuch zeigt, wie wir gerade in ihm den Nativnalschriftsteller und den
Krösus der Idiotismen zu verehren haben, den Herder verlangt und Prophezeit.
Er ist endlich aber anch der Klassiker der Metaphern und des Witzes gewesen,
und es ist eine eigentümliche Wendung des Schicksals, daß der Dichter des
^Piritnalismns und der Transzendenz seinem Witze die gesamte Natur dienstbar


Existenz hineingreift, verfolgt der moderne Stil Jean Pauls eine buntere Welt
in die tiefern Brüche des Bewußtseins und der Erscheinung, in die härtern
Bedingungen des Daseins und die schärfste Eigenheit der Individualität."
Ist nun in diese» Individualitäten nichts oder wenig mehr, was uns rührt,
ergreift, fesselt, spornt, trägt, hebt, bedürfen wir zum Verständnis dieser ,,ko¬
mischen und humoristischen Charaktere, dergleichen sich keine Nation rühmen
kann," doch immer eines beträchtliche» Maßes von Reflexion und historischer
Bildung, so können wir dem Anspruch nicht genng thun, den der Dichter,
jeder Dichter an uns stellt. Wie viel eine Biographie hieran bessern kann,
ob eine sehr feinfühlige und geschickte Auswahl aus Jean Pauls Werken
(natürlich nicht „Lichtstrahlen") größern Kreisen zum Bewußtsein des Lebendig-
Unvergänglichen in Jean Paul verhelfen könnte, lassen wir dahingestellt. Wer
nicht ganz in der Gegenwart aufgeht, wird es Nerrlich Dank wissen, sich so
eingehend und hingebend mit dem großen Schriftsteller beschäftigt zu haben,
und wird die eigentliche Lebensgeschichte mit Genuß und Belehrung lesen, mich
wenn er nicht ans den Standpunkt des Verfassers hinübertreten kaun.

In einer längern Einleitung hat Nerrlich sowohl seine Methode zu recht¬
fertigen, als das Ergebnis seiner Gesamtdarstellung vorläufig zusammenzufassen
gesucht. „Wir haben, heißt es, in Jean Paul ebenso einen unsrer größten
Genremaler und Jdhllendichter zu verehren, wie er im Gegensatze zu den
aristokratischen Schiller und Goethe der demokratische Dichter, welcher anch den
Niedrigen und Armen und Verachteten das Evangelium gepredigt hat, zu
nennen ist. Doch auch noch in andern Beziehungen erweisen sich seine Mängel
als Kehrseiten seiner Vorzüge. Reife Männer zwar hat er nicht darzustellen
gewußt, dafür aber hat er die Poesie der Kindheit und des Jünglingsalters
mit einer Tiefe und Wahrheit geschildert, wie kein zweiter neben ihm. Die
Naturforschung zwar war ihm fremd, dafür aber hat er Hymnen zum Preise
der Natur gedichtet, welchen nur die gebuudue Form fehlt, um ihn den ersten
unsrer Lyriker beizugesellen. Die Liebe des Mannes zum Weibe zwar hat
Jean Paul ihre Geheimnisse nicht entschleiert, dafür aber die des Jünglings
Ma Jünglinge, sodaß N'ir in ihm den klassischen Dichter der Freundschaft zu
erblicken haben. Formvollendete Schönheit fehlt allerdings seinen Werken, dafür
über rauscht seine Sprache nicht selten in süßem, bestrickenden Wohllaute dahin,
"»d was für Goethe die bildende Kunst, ist für ihn die Musik gewesen. Jean
Paul war sodann ein sprachgewaltiges und sprachbildeudes Genie, wie kein
zweiter seit Luther; ein Blick nicht sowohl in seine Schriften als in Grimms
Wörterbuch zeigt, wie wir gerade in ihm den Nativnalschriftsteller und den
Krösus der Idiotismen zu verehren haben, den Herder verlangt und Prophezeit.
Er ist endlich aber anch der Klassiker der Metaphern und des Witzes gewesen,
und es ist eine eigentümliche Wendung des Schicksals, daß der Dichter des
^Piritnalismns und der Transzendenz seinem Witze die gesamte Natur dienstbar


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[0095] Existenz hineingreift, verfolgt der moderne Stil Jean Pauls eine buntere Welt in die tiefern Brüche des Bewußtseins und der Erscheinung, in die härtern Bedingungen des Daseins und die schärfste Eigenheit der Individualität." Ist nun in diese» Individualitäten nichts oder wenig mehr, was uns rührt, ergreift, fesselt, spornt, trägt, hebt, bedürfen wir zum Verständnis dieser ,,ko¬ mischen und humoristischen Charaktere, dergleichen sich keine Nation rühmen kann," doch immer eines beträchtliche» Maßes von Reflexion und historischer Bildung, so können wir dem Anspruch nicht genng thun, den der Dichter, jeder Dichter an uns stellt. Wie viel eine Biographie hieran bessern kann, ob eine sehr feinfühlige und geschickte Auswahl aus Jean Pauls Werken (natürlich nicht „Lichtstrahlen") größern Kreisen zum Bewußtsein des Lebendig- Unvergänglichen in Jean Paul verhelfen könnte, lassen wir dahingestellt. Wer nicht ganz in der Gegenwart aufgeht, wird es Nerrlich Dank wissen, sich so eingehend und hingebend mit dem großen Schriftsteller beschäftigt zu haben, und wird die eigentliche Lebensgeschichte mit Genuß und Belehrung lesen, mich wenn er nicht ans den Standpunkt des Verfassers hinübertreten kaun. In einer längern Einleitung hat Nerrlich sowohl seine Methode zu recht¬ fertigen, als das Ergebnis seiner Gesamtdarstellung vorläufig zusammenzufassen gesucht. „Wir haben, heißt es, in Jean Paul ebenso einen unsrer größten Genremaler und Jdhllendichter zu verehren, wie er im Gegensatze zu den aristokratischen Schiller und Goethe der demokratische Dichter, welcher anch den Niedrigen und Armen und Verachteten das Evangelium gepredigt hat, zu nennen ist. Doch auch noch in andern Beziehungen erweisen sich seine Mängel als Kehrseiten seiner Vorzüge. Reife Männer zwar hat er nicht darzustellen gewußt, dafür aber hat er die Poesie der Kindheit und des Jünglingsalters mit einer Tiefe und Wahrheit geschildert, wie kein zweiter neben ihm. Die Naturforschung zwar war ihm fremd, dafür aber hat er Hymnen zum Preise der Natur gedichtet, welchen nur die gebuudue Form fehlt, um ihn den ersten unsrer Lyriker beizugesellen. Die Liebe des Mannes zum Weibe zwar hat Jean Paul ihre Geheimnisse nicht entschleiert, dafür aber die des Jünglings Ma Jünglinge, sodaß N'ir in ihm den klassischen Dichter der Freundschaft zu erblicken haben. Formvollendete Schönheit fehlt allerdings seinen Werken, dafür über rauscht seine Sprache nicht selten in süßem, bestrickenden Wohllaute dahin, "»d was für Goethe die bildende Kunst, ist für ihn die Musik gewesen. Jean Paul war sodann ein sprachgewaltiges und sprachbildeudes Genie, wie kein zweiter seit Luther; ein Blick nicht sowohl in seine Schriften als in Grimms Wörterbuch zeigt, wie wir gerade in ihm den Nativnalschriftsteller und den Krösus der Idiotismen zu verehren haben, den Herder verlangt und Prophezeit. Er ist endlich aber anch der Klassiker der Metaphern und des Witzes gewesen, und es ist eine eigentümliche Wendung des Schicksals, daß der Dichter des ^Piritnalismns und der Transzendenz seinem Witze die gesamte Natur dienstbar

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/95>, abgerufen am 23.07.2024.