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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Die allgemeine Wehrpflicht in den Mehrgesetzen Deutschlands und Frankreichs

Niemals können zwanzig Übungswochen, wie sie die Ersatzreserven bei der
Fahne zubringen, noch dazu nicht in ununterbrochener Folge, sondern mit
langen Zwischenpausen in vier Jahren, eine fortlaufende Ausbildung von zwei¬
undfünfzig Wochen ersetzen. Nach der ganzen Beschaffenheit des Ersatzes für
den Dienst von einjähriger Dauer läßt sich annehmen, daß die französische
Armee diese Leute im Mobilmachungsfalle sofort in die Feldtruppen einreihen
kann. Wir dagegen würden, wollten wir dies mit unsern Ersatzreserven ver¬
suchen, trübe Erfahrungen machen; sie werden im besten Falle zur Füllung
der Rahmen der Ersatztruppeu in der Heimat zu verwenden sein und erst nach
gründlicher Auffrischung des früher flüchtig eingeprägten im weitern Verlauf
des Krieges bei der Feldarmee einrücken.

Auf Grund dieser Überlegungen muß man die Zahl der Mannschaften,
die wir jährlich weniger als Frankreich militärisch so ausbilden, daß sie sofort
nach Ausbruch eines Krieges im Felde zu gebrauchen sind, noch um 17 000
erhöhen. Darnach gewinnt also unser Nachbar jedes Jahr 50 000 Manu,
hat also nach zehn Jahren 500 000 ausgebildete Soldaten mehr als wir.
(Die Abgänge in den ältern Jahrgängen durch Tod, Krankheit, Aus¬
wanderung u. s. w. siud hier nicht berücksichtigt, da sie sich in beiden Heeren
ziemlich die Wage halten werden.)

Nun gut, wird mancher einwenden, unter solchen Umständen greifen wir
einfach weiter in die ältern Jahresklassen hinein, bis das Gleichgewicht her¬
gestellt ist. Er berücksichtigt dabei aber nicht, welche schweren Bedenken einer
solchen Maßnahme entgegenstehen. Einmal Hort das Zurückgreifen bereits bei
der Landwehr zweiten Aufgebots auf, da das Gesetz, das ihre Heranziehung
zu Kontrolversammlungen und Übungen untersagt, damit ihre sofortige Ver¬
wendung im Mobilmachungsfall unmöglich gemacht hat. Wir würden also
nur noch zwei Jahrgänge der Landwehr ersten Aufgebots für das Zurückgreifen
zur Verfügung haben. Was hindert aber die Franzosen, ein gleiches zu thun
und ihre Territorialarmee, die unsrer Landwehr gleichsteht, mitzuführen?

Jeder erfahrne Soldat mürb ferner zugeben, daß es sich nicht sehr em¬
pfiehlt, die Landwehr außerhalb des Landes zu verwenden. Es ist eben nicht
gleichgiltig, welche Bezeichnung eine Klasse der Wehrpflichtigen hat. Nach der
Volksmeinung ist die Landwehr zur Wehr für das Land da, und man wird
keine besondern Leistungen von ihr jenseits der Landesgrenzen erwarten dürfen.
Die Reserve kennt ihren Zweck, die Feldtruppen zu verstärken, die Landwehr
hält sich dazu für zu alt und ist thatsächlich zu bequem geworden. Man wende
nicht ein, die Landwehr habe sich in den letzten Feldzügen vorzüglich geschlagen.
Das beweist nicht viel, denn es spricht nnr für die Güte der damaligen Land¬
wehr. Als sicher bleibt bestehen, daß man an die ältern Landwehrleute nicht
dieselben und zwar durchaus notwendigen Anforderungen stellen kann, wie an
die jüngern Kräfte der Armee. Auch den Franzosen ist der erwähnte Namens-


Die allgemeine Wehrpflicht in den Mehrgesetzen Deutschlands und Frankreichs

Niemals können zwanzig Übungswochen, wie sie die Ersatzreserven bei der
Fahne zubringen, noch dazu nicht in ununterbrochener Folge, sondern mit
langen Zwischenpausen in vier Jahren, eine fortlaufende Ausbildung von zwei¬
undfünfzig Wochen ersetzen. Nach der ganzen Beschaffenheit des Ersatzes für
den Dienst von einjähriger Dauer läßt sich annehmen, daß die französische
Armee diese Leute im Mobilmachungsfalle sofort in die Feldtruppen einreihen
kann. Wir dagegen würden, wollten wir dies mit unsern Ersatzreserven ver¬
suchen, trübe Erfahrungen machen; sie werden im besten Falle zur Füllung
der Rahmen der Ersatztruppeu in der Heimat zu verwenden sein und erst nach
gründlicher Auffrischung des früher flüchtig eingeprägten im weitern Verlauf
des Krieges bei der Feldarmee einrücken.

Auf Grund dieser Überlegungen muß man die Zahl der Mannschaften,
die wir jährlich weniger als Frankreich militärisch so ausbilden, daß sie sofort
nach Ausbruch eines Krieges im Felde zu gebrauchen sind, noch um 17 000
erhöhen. Darnach gewinnt also unser Nachbar jedes Jahr 50 000 Manu,
hat also nach zehn Jahren 500 000 ausgebildete Soldaten mehr als wir.
(Die Abgänge in den ältern Jahrgängen durch Tod, Krankheit, Aus¬
wanderung u. s. w. siud hier nicht berücksichtigt, da sie sich in beiden Heeren
ziemlich die Wage halten werden.)

Nun gut, wird mancher einwenden, unter solchen Umständen greifen wir
einfach weiter in die ältern Jahresklassen hinein, bis das Gleichgewicht her¬
gestellt ist. Er berücksichtigt dabei aber nicht, welche schweren Bedenken einer
solchen Maßnahme entgegenstehen. Einmal Hort das Zurückgreifen bereits bei
der Landwehr zweiten Aufgebots auf, da das Gesetz, das ihre Heranziehung
zu Kontrolversammlungen und Übungen untersagt, damit ihre sofortige Ver¬
wendung im Mobilmachungsfall unmöglich gemacht hat. Wir würden also
nur noch zwei Jahrgänge der Landwehr ersten Aufgebots für das Zurückgreifen
zur Verfügung haben. Was hindert aber die Franzosen, ein gleiches zu thun
und ihre Territorialarmee, die unsrer Landwehr gleichsteht, mitzuführen?

Jeder erfahrne Soldat mürb ferner zugeben, daß es sich nicht sehr em¬
pfiehlt, die Landwehr außerhalb des Landes zu verwenden. Es ist eben nicht
gleichgiltig, welche Bezeichnung eine Klasse der Wehrpflichtigen hat. Nach der
Volksmeinung ist die Landwehr zur Wehr für das Land da, und man wird
keine besondern Leistungen von ihr jenseits der Landesgrenzen erwarten dürfen.
Die Reserve kennt ihren Zweck, die Feldtruppen zu verstärken, die Landwehr
hält sich dazu für zu alt und ist thatsächlich zu bequem geworden. Man wende
nicht ein, die Landwehr habe sich in den letzten Feldzügen vorzüglich geschlagen.
Das beweist nicht viel, denn es spricht nnr für die Güte der damaligen Land¬
wehr. Als sicher bleibt bestehen, daß man an die ältern Landwehrleute nicht
dieselben und zwar durchaus notwendigen Anforderungen stellen kann, wie an
die jüngern Kräfte der Armee. Auch den Franzosen ist der erwähnte Namens-


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[0074] Die allgemeine Wehrpflicht in den Mehrgesetzen Deutschlands und Frankreichs Niemals können zwanzig Übungswochen, wie sie die Ersatzreserven bei der Fahne zubringen, noch dazu nicht in ununterbrochener Folge, sondern mit langen Zwischenpausen in vier Jahren, eine fortlaufende Ausbildung von zwei¬ undfünfzig Wochen ersetzen. Nach der ganzen Beschaffenheit des Ersatzes für den Dienst von einjähriger Dauer läßt sich annehmen, daß die französische Armee diese Leute im Mobilmachungsfalle sofort in die Feldtruppen einreihen kann. Wir dagegen würden, wollten wir dies mit unsern Ersatzreserven ver¬ suchen, trübe Erfahrungen machen; sie werden im besten Falle zur Füllung der Rahmen der Ersatztruppeu in der Heimat zu verwenden sein und erst nach gründlicher Auffrischung des früher flüchtig eingeprägten im weitern Verlauf des Krieges bei der Feldarmee einrücken. Auf Grund dieser Überlegungen muß man die Zahl der Mannschaften, die wir jährlich weniger als Frankreich militärisch so ausbilden, daß sie sofort nach Ausbruch eines Krieges im Felde zu gebrauchen sind, noch um 17 000 erhöhen. Darnach gewinnt also unser Nachbar jedes Jahr 50 000 Manu, hat also nach zehn Jahren 500 000 ausgebildete Soldaten mehr als wir. (Die Abgänge in den ältern Jahrgängen durch Tod, Krankheit, Aus¬ wanderung u. s. w. siud hier nicht berücksichtigt, da sie sich in beiden Heeren ziemlich die Wage halten werden.) Nun gut, wird mancher einwenden, unter solchen Umständen greifen wir einfach weiter in die ältern Jahresklassen hinein, bis das Gleichgewicht her¬ gestellt ist. Er berücksichtigt dabei aber nicht, welche schweren Bedenken einer solchen Maßnahme entgegenstehen. Einmal Hort das Zurückgreifen bereits bei der Landwehr zweiten Aufgebots auf, da das Gesetz, das ihre Heranziehung zu Kontrolversammlungen und Übungen untersagt, damit ihre sofortige Ver¬ wendung im Mobilmachungsfall unmöglich gemacht hat. Wir würden also nur noch zwei Jahrgänge der Landwehr ersten Aufgebots für das Zurückgreifen zur Verfügung haben. Was hindert aber die Franzosen, ein gleiches zu thun und ihre Territorialarmee, die unsrer Landwehr gleichsteht, mitzuführen? Jeder erfahrne Soldat mürb ferner zugeben, daß es sich nicht sehr em¬ pfiehlt, die Landwehr außerhalb des Landes zu verwenden. Es ist eben nicht gleichgiltig, welche Bezeichnung eine Klasse der Wehrpflichtigen hat. Nach der Volksmeinung ist die Landwehr zur Wehr für das Land da, und man wird keine besondern Leistungen von ihr jenseits der Landesgrenzen erwarten dürfen. Die Reserve kennt ihren Zweck, die Feldtruppen zu verstärken, die Landwehr hält sich dazu für zu alt und ist thatsächlich zu bequem geworden. Man wende nicht ein, die Landwehr habe sich in den letzten Feldzügen vorzüglich geschlagen. Das beweist nicht viel, denn es spricht nnr für die Güte der damaligen Land¬ wehr. Als sicher bleibt bestehen, daß man an die ältern Landwehrleute nicht dieselben und zwar durchaus notwendigen Anforderungen stellen kann, wie an die jüngern Kräfte der Armee. Auch den Franzosen ist der erwähnte Namens-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/74>, abgerufen am 23.07.2024.