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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Die allgemeine Wehrpflicht in den Mehrgesetzen Deutschlands und Frankreichs

Schlachtenkaisers nach, von ganz anderen Standpunkt ausgehend gelangte
man zurück zu dem Satze: Jeder Preuße ist wehrpflichtig. Mit seiner
Erhebung zum Gesetz ist die allgemeine Wehrpflicht das dauernde Eigentum
des preußischen Volkes geworden und so lange sein alleiniger Schatz geblieben,
bis die Erfolge von 1860 und 1870/71 der Welt die Augen über ihren Wert
öffneten. Hervorgewachsen aus der Not des Augenblicks, ist sie doch das Er¬
gebnis einer in langen, arbeitsreichen Jahren gereiften sittlichen Weltanschauung.
Es war ein Notbehelf, als man nach den Freiheitskriegen zur Stütze der Groß-
machtsansprüche des ausgesognen, kleinen und zerrissenen Landes die dauernde
Unterhaltung einer unverhältnismäßig starken Kriegsmacht beschloß; daß man
aber zu diesem Zwecke die allgemeine Wehrpflicht annahm, ist bezeichnend.
Ihr Begriff wurde in Preußen von Anfciug an höher gefaßt als irgendwo
sonst. Nicht nur im Kriege sollte sie bestehen -- daß jeder Bürger im Augen¬
blicke der Gefahr das Vaterland verteidigen müsse, erschien dem Heldengeschlecht
der Kämpfe von 1813 bis 1815 selbstverständlich -- , nein, auch im Frieden
für den Krieg. Deshalb schuf man mit ihr zugleich das "Rnhmenheer," in
das sich, als in eine Volksschule im edelsten Sinne des Wortes, jedes Jahr
der Strom der herangewachsenen, kriegstüchtigen Jugend ergießt, um es nach
beendeter militärischer Ausbildung, zurückkehrend zum bürgerlichen Beruf, wieder
zik verlassen. Nach diesen Grundsätzen war es möglich, ein Volk in Waffen
zu schaffen, das heißt ein Volk, in dem jeder kriegstüchtigc Mann jederzeit
bereit und fähig ist, zur Verteidigung des heimischen Bodens die Waffen zu
führen.

Schon hier muß aber nun bemerkt werden, daß die allgemeine Wehrpflicht
so rein, wie wir sie eben dargestellt haben, in Deutschland nur in ganz kurzen
Zeiträumen (wenn überhaupt jemals) durchgeführt worden ist. Die leidige
Geldfrage zwang zur Abweichung. Der Etat des Staates ertrug nur eine
gewisse Belastung, und so kam es, daß man, um ihn im Gleichgewicht zu
halten, den Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht und der Friedensausbildung
in der Praxis durch sehr hoch hinaufgeschraubte Anforderungen an die Kriegs-
brallchbarkeit und an die Abkömmlichkcit des Einzelnen mildern mußte. Auf
diese Weise gelaugte mau durch Rückschlüsse zu der ziemlich willkürlichen All¬
sicht, daß eine Friedensstärke des Heeres von Einem vom Hundert der Gesamt-
bevölkerungsziffer unter gleichzeitiger Festhaltung einer dreijährigen Dienstzeit
genüge, um alle kriegsbrauchbnren Kräfte der Nation zum Waffendienst heran¬
zuziehen. Diese Stärke, die sogenannte Friedcnspräsenzziffer des Heeres, ist
also ein Kompromiß zwischen den Forderungen der grundsätzlich beibehaltenen
allgemeinen Wehrpflicht und den finanziellen Rücksichten des Staates.

In noch größerm Maßstabe traten die erwähnten Abweichungen bei den
Wehrverfassungen der andern großen europäischen Mächte ein, als diese sich
nach 1866 zur Annahme der allgemeinen Wehrpflicht gezwungen sahe". Ge-


Die allgemeine Wehrpflicht in den Mehrgesetzen Deutschlands und Frankreichs

Schlachtenkaisers nach, von ganz anderen Standpunkt ausgehend gelangte
man zurück zu dem Satze: Jeder Preuße ist wehrpflichtig. Mit seiner
Erhebung zum Gesetz ist die allgemeine Wehrpflicht das dauernde Eigentum
des preußischen Volkes geworden und so lange sein alleiniger Schatz geblieben,
bis die Erfolge von 1860 und 1870/71 der Welt die Augen über ihren Wert
öffneten. Hervorgewachsen aus der Not des Augenblicks, ist sie doch das Er¬
gebnis einer in langen, arbeitsreichen Jahren gereiften sittlichen Weltanschauung.
Es war ein Notbehelf, als man nach den Freiheitskriegen zur Stütze der Groß-
machtsansprüche des ausgesognen, kleinen und zerrissenen Landes die dauernde
Unterhaltung einer unverhältnismäßig starken Kriegsmacht beschloß; daß man
aber zu diesem Zwecke die allgemeine Wehrpflicht annahm, ist bezeichnend.
Ihr Begriff wurde in Preußen von Anfciug an höher gefaßt als irgendwo
sonst. Nicht nur im Kriege sollte sie bestehen — daß jeder Bürger im Augen¬
blicke der Gefahr das Vaterland verteidigen müsse, erschien dem Heldengeschlecht
der Kämpfe von 1813 bis 1815 selbstverständlich — , nein, auch im Frieden
für den Krieg. Deshalb schuf man mit ihr zugleich das „Rnhmenheer," in
das sich, als in eine Volksschule im edelsten Sinne des Wortes, jedes Jahr
der Strom der herangewachsenen, kriegstüchtigen Jugend ergießt, um es nach
beendeter militärischer Ausbildung, zurückkehrend zum bürgerlichen Beruf, wieder
zik verlassen. Nach diesen Grundsätzen war es möglich, ein Volk in Waffen
zu schaffen, das heißt ein Volk, in dem jeder kriegstüchtigc Mann jederzeit
bereit und fähig ist, zur Verteidigung des heimischen Bodens die Waffen zu
führen.

Schon hier muß aber nun bemerkt werden, daß die allgemeine Wehrpflicht
so rein, wie wir sie eben dargestellt haben, in Deutschland nur in ganz kurzen
Zeiträumen (wenn überhaupt jemals) durchgeführt worden ist. Die leidige
Geldfrage zwang zur Abweichung. Der Etat des Staates ertrug nur eine
gewisse Belastung, und so kam es, daß man, um ihn im Gleichgewicht zu
halten, den Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht und der Friedensausbildung
in der Praxis durch sehr hoch hinaufgeschraubte Anforderungen an die Kriegs-
brallchbarkeit und an die Abkömmlichkcit des Einzelnen mildern mußte. Auf
diese Weise gelaugte mau durch Rückschlüsse zu der ziemlich willkürlichen All¬
sicht, daß eine Friedensstärke des Heeres von Einem vom Hundert der Gesamt-
bevölkerungsziffer unter gleichzeitiger Festhaltung einer dreijährigen Dienstzeit
genüge, um alle kriegsbrauchbnren Kräfte der Nation zum Waffendienst heran¬
zuziehen. Diese Stärke, die sogenannte Friedcnspräsenzziffer des Heeres, ist
also ein Kompromiß zwischen den Forderungen der grundsätzlich beibehaltenen
allgemeinen Wehrpflicht und den finanziellen Rücksichten des Staates.

In noch größerm Maßstabe traten die erwähnten Abweichungen bei den
Wehrverfassungen der andern großen europäischen Mächte ein, als diese sich
nach 1866 zur Annahme der allgemeinen Wehrpflicht gezwungen sahe». Ge-


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[0069] Die allgemeine Wehrpflicht in den Mehrgesetzen Deutschlands und Frankreichs Schlachtenkaisers nach, von ganz anderen Standpunkt ausgehend gelangte man zurück zu dem Satze: Jeder Preuße ist wehrpflichtig. Mit seiner Erhebung zum Gesetz ist die allgemeine Wehrpflicht das dauernde Eigentum des preußischen Volkes geworden und so lange sein alleiniger Schatz geblieben, bis die Erfolge von 1860 und 1870/71 der Welt die Augen über ihren Wert öffneten. Hervorgewachsen aus der Not des Augenblicks, ist sie doch das Er¬ gebnis einer in langen, arbeitsreichen Jahren gereiften sittlichen Weltanschauung. Es war ein Notbehelf, als man nach den Freiheitskriegen zur Stütze der Groß- machtsansprüche des ausgesognen, kleinen und zerrissenen Landes die dauernde Unterhaltung einer unverhältnismäßig starken Kriegsmacht beschloß; daß man aber zu diesem Zwecke die allgemeine Wehrpflicht annahm, ist bezeichnend. Ihr Begriff wurde in Preußen von Anfciug an höher gefaßt als irgendwo sonst. Nicht nur im Kriege sollte sie bestehen — daß jeder Bürger im Augen¬ blicke der Gefahr das Vaterland verteidigen müsse, erschien dem Heldengeschlecht der Kämpfe von 1813 bis 1815 selbstverständlich — , nein, auch im Frieden für den Krieg. Deshalb schuf man mit ihr zugleich das „Rnhmenheer," in das sich, als in eine Volksschule im edelsten Sinne des Wortes, jedes Jahr der Strom der herangewachsenen, kriegstüchtigen Jugend ergießt, um es nach beendeter militärischer Ausbildung, zurückkehrend zum bürgerlichen Beruf, wieder zik verlassen. Nach diesen Grundsätzen war es möglich, ein Volk in Waffen zu schaffen, das heißt ein Volk, in dem jeder kriegstüchtigc Mann jederzeit bereit und fähig ist, zur Verteidigung des heimischen Bodens die Waffen zu führen. Schon hier muß aber nun bemerkt werden, daß die allgemeine Wehrpflicht so rein, wie wir sie eben dargestellt haben, in Deutschland nur in ganz kurzen Zeiträumen (wenn überhaupt jemals) durchgeführt worden ist. Die leidige Geldfrage zwang zur Abweichung. Der Etat des Staates ertrug nur eine gewisse Belastung, und so kam es, daß man, um ihn im Gleichgewicht zu halten, den Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht und der Friedensausbildung in der Praxis durch sehr hoch hinaufgeschraubte Anforderungen an die Kriegs- brallchbarkeit und an die Abkömmlichkcit des Einzelnen mildern mußte. Auf diese Weise gelaugte mau durch Rückschlüsse zu der ziemlich willkürlichen All¬ sicht, daß eine Friedensstärke des Heeres von Einem vom Hundert der Gesamt- bevölkerungsziffer unter gleichzeitiger Festhaltung einer dreijährigen Dienstzeit genüge, um alle kriegsbrauchbnren Kräfte der Nation zum Waffendienst heran¬ zuziehen. Diese Stärke, die sogenannte Friedcnspräsenzziffer des Heeres, ist also ein Kompromiß zwischen den Forderungen der grundsätzlich beibehaltenen allgemeinen Wehrpflicht und den finanziellen Rücksichten des Staates. In noch größerm Maßstabe traten die erwähnten Abweichungen bei den Wehrverfassungen der andern großen europäischen Mächte ein, als diese sich nach 1866 zur Annahme der allgemeinen Wehrpflicht gezwungen sahe». Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/69>, abgerufen am 23.07.2024.