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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Der verein fiir Schulreform

Schulzeit ausgenommen, täglich fünf bis sieben Stunden in überfüllte Schul¬
zimmer, pressen Jünglinge von sechzehn bis zwanzig Jahren in enge Schul¬
bänke, sodaß hochgewachsene und starke Schüler die Empfindung haben, als
würden sie täglich von neuem in den Stock geschlagen, und quälen sie und
uns wie zur Zeit des Triplum und Quadrivium den größten Teil des Tages
mit Grammatik und Mathematik, ja wir treiben es noch schlimmer, indem wir
die modernen Sprachen und Wissenschaften in den alten Unterrichtsstoff hinein¬
zwängen oder daneben einschieben. Was wollen gegen diese versteinerte Er¬
ziehungsweise die Annehmlichkeiten des biographischen und geographischen Unter¬
richts, die physikalischen Experimente, die naturgeschichtlichen Anschauungsmittel
und zwei Turnstunden wöchentlich bedeuten! Nach, wie vor schütten die
Lehrer, die jüngsten und eifrigsten voran, ohne Rücksicht auf Begabung und
Bedürfnis, die ganze Wissenschaft auf die Geistesmühle ihrer Schüler, oft mehr
unreifes Korn und mehr Unkrautsamen als gutes Getreide, und am Ende
wissen sie die Kleie nicht vom Mehl zu sondern. Unser Erziehungswesen, vor
allein das der männlichen Jugend, gleicht einem alten Schlosse mit Türmen,
Zinnen und Erkern, worin und woran im Laufe der Jahrhunderte Magazine,
Schreibstuben, Werkstätten und Schauspielhäuser gebant worden sind, sodaß es
ein ganz wunderliches Aussehen erhalten hat. Dieses große Institut der
öffentlichen Erziehung gehört dem Staate. Und was thut dieser? Ja was
kann er thun? Er stützt den alten Herrenbau aus der Renaissancezeit, den
ehrwürdigen und vornehmen Zufluchtsort des Lateinischen und Griechischen,
Gymnasium genannt, mit Berechtigungen, und immer muß er eine neue Säule
unterschieben, damit er -- nicht einsinke.

Unsre Zeit ist die Zeit der Reformen. Sollten wir, die Träger der
Ideen unsrer Zeit, nicht Abhilfe schaffen können? Wohl, aber schon die erste
Frage weist auf außerordentliche Schwierigkeiten hin. Soll es ein Neubau
werden oder nur ein Umbau? Ein Neubau ist kaum denkbar, denn wer soll
aus einmal das alte Gebäude zerschlagen? Kein Hammer, kein Pulver würde
den Mörtel dieser Grundmauern bewältigen, nur die Zeit vermag es. Jeder
Umbau aber ist, wie die Erfahrung bis jetzt gelehrt hat, mir ein Anbau.

Früher, das heißt ehe das Freiwilligenzeugnis eine Schulberechtigung
war, leisteten die Privatschulen als Versuchsstationen der Pädagogik große
Dienste. Die Erziehungsanstalten Pestalozzis in der Schweiz, das Philanthropin
in Dessau, die Anstalt in Schnepfenthal und andre haben den neuern Ideen
die Bahn gebrochen. Jetzt ist die Privatschule aus Geldrücksichten gezwungen,
in dem staatlich geebneten Gleise auf das Freiwilligenzeugnis loszuarbeiten,
und auch so ist sie gegen die öffentlichen Schulen im Nachteil, wenn sie
sich nicht auf das geringste Maß der gesetzlichen Forderungen beschränkt, um
die Schwachen, die ans andern Schulen nicht fortkommen, durchzubringen.
Die öffentliche Schule aber kann keine Neuerungen einführen, sie muß an dem


Grenzboten I 1890 75
Der verein fiir Schulreform

Schulzeit ausgenommen, täglich fünf bis sieben Stunden in überfüllte Schul¬
zimmer, pressen Jünglinge von sechzehn bis zwanzig Jahren in enge Schul¬
bänke, sodaß hochgewachsene und starke Schüler die Empfindung haben, als
würden sie täglich von neuem in den Stock geschlagen, und quälen sie und
uns wie zur Zeit des Triplum und Quadrivium den größten Teil des Tages
mit Grammatik und Mathematik, ja wir treiben es noch schlimmer, indem wir
die modernen Sprachen und Wissenschaften in den alten Unterrichtsstoff hinein¬
zwängen oder daneben einschieben. Was wollen gegen diese versteinerte Er¬
ziehungsweise die Annehmlichkeiten des biographischen und geographischen Unter¬
richts, die physikalischen Experimente, die naturgeschichtlichen Anschauungsmittel
und zwei Turnstunden wöchentlich bedeuten! Nach, wie vor schütten die
Lehrer, die jüngsten und eifrigsten voran, ohne Rücksicht auf Begabung und
Bedürfnis, die ganze Wissenschaft auf die Geistesmühle ihrer Schüler, oft mehr
unreifes Korn und mehr Unkrautsamen als gutes Getreide, und am Ende
wissen sie die Kleie nicht vom Mehl zu sondern. Unser Erziehungswesen, vor
allein das der männlichen Jugend, gleicht einem alten Schlosse mit Türmen,
Zinnen und Erkern, worin und woran im Laufe der Jahrhunderte Magazine,
Schreibstuben, Werkstätten und Schauspielhäuser gebant worden sind, sodaß es
ein ganz wunderliches Aussehen erhalten hat. Dieses große Institut der
öffentlichen Erziehung gehört dem Staate. Und was thut dieser? Ja was
kann er thun? Er stützt den alten Herrenbau aus der Renaissancezeit, den
ehrwürdigen und vornehmen Zufluchtsort des Lateinischen und Griechischen,
Gymnasium genannt, mit Berechtigungen, und immer muß er eine neue Säule
unterschieben, damit er — nicht einsinke.

Unsre Zeit ist die Zeit der Reformen. Sollten wir, die Träger der
Ideen unsrer Zeit, nicht Abhilfe schaffen können? Wohl, aber schon die erste
Frage weist auf außerordentliche Schwierigkeiten hin. Soll es ein Neubau
werden oder nur ein Umbau? Ein Neubau ist kaum denkbar, denn wer soll
aus einmal das alte Gebäude zerschlagen? Kein Hammer, kein Pulver würde
den Mörtel dieser Grundmauern bewältigen, nur die Zeit vermag es. Jeder
Umbau aber ist, wie die Erfahrung bis jetzt gelehrt hat, mir ein Anbau.

Früher, das heißt ehe das Freiwilligenzeugnis eine Schulberechtigung
war, leisteten die Privatschulen als Versuchsstationen der Pädagogik große
Dienste. Die Erziehungsanstalten Pestalozzis in der Schweiz, das Philanthropin
in Dessau, die Anstalt in Schnepfenthal und andre haben den neuern Ideen
die Bahn gebrochen. Jetzt ist die Privatschule aus Geldrücksichten gezwungen,
in dem staatlich geebneten Gleise auf das Freiwilligenzeugnis loszuarbeiten,
und auch so ist sie gegen die öffentlichen Schulen im Nachteil, wenn sie
sich nicht auf das geringste Maß der gesetzlichen Forderungen beschränkt, um
die Schwachen, die ans andern Schulen nicht fortkommen, durchzubringen.
Die öffentliche Schule aber kann keine Neuerungen einführen, sie muß an dem


Grenzboten I 1890 75
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[0601] Der verein fiir Schulreform Schulzeit ausgenommen, täglich fünf bis sieben Stunden in überfüllte Schul¬ zimmer, pressen Jünglinge von sechzehn bis zwanzig Jahren in enge Schul¬ bänke, sodaß hochgewachsene und starke Schüler die Empfindung haben, als würden sie täglich von neuem in den Stock geschlagen, und quälen sie und uns wie zur Zeit des Triplum und Quadrivium den größten Teil des Tages mit Grammatik und Mathematik, ja wir treiben es noch schlimmer, indem wir die modernen Sprachen und Wissenschaften in den alten Unterrichtsstoff hinein¬ zwängen oder daneben einschieben. Was wollen gegen diese versteinerte Er¬ ziehungsweise die Annehmlichkeiten des biographischen und geographischen Unter¬ richts, die physikalischen Experimente, die naturgeschichtlichen Anschauungsmittel und zwei Turnstunden wöchentlich bedeuten! Nach, wie vor schütten die Lehrer, die jüngsten und eifrigsten voran, ohne Rücksicht auf Begabung und Bedürfnis, die ganze Wissenschaft auf die Geistesmühle ihrer Schüler, oft mehr unreifes Korn und mehr Unkrautsamen als gutes Getreide, und am Ende wissen sie die Kleie nicht vom Mehl zu sondern. Unser Erziehungswesen, vor allein das der männlichen Jugend, gleicht einem alten Schlosse mit Türmen, Zinnen und Erkern, worin und woran im Laufe der Jahrhunderte Magazine, Schreibstuben, Werkstätten und Schauspielhäuser gebant worden sind, sodaß es ein ganz wunderliches Aussehen erhalten hat. Dieses große Institut der öffentlichen Erziehung gehört dem Staate. Und was thut dieser? Ja was kann er thun? Er stützt den alten Herrenbau aus der Renaissancezeit, den ehrwürdigen und vornehmen Zufluchtsort des Lateinischen und Griechischen, Gymnasium genannt, mit Berechtigungen, und immer muß er eine neue Säule unterschieben, damit er — nicht einsinke. Unsre Zeit ist die Zeit der Reformen. Sollten wir, die Träger der Ideen unsrer Zeit, nicht Abhilfe schaffen können? Wohl, aber schon die erste Frage weist auf außerordentliche Schwierigkeiten hin. Soll es ein Neubau werden oder nur ein Umbau? Ein Neubau ist kaum denkbar, denn wer soll aus einmal das alte Gebäude zerschlagen? Kein Hammer, kein Pulver würde den Mörtel dieser Grundmauern bewältigen, nur die Zeit vermag es. Jeder Umbau aber ist, wie die Erfahrung bis jetzt gelehrt hat, mir ein Anbau. Früher, das heißt ehe das Freiwilligenzeugnis eine Schulberechtigung war, leisteten die Privatschulen als Versuchsstationen der Pädagogik große Dienste. Die Erziehungsanstalten Pestalozzis in der Schweiz, das Philanthropin in Dessau, die Anstalt in Schnepfenthal und andre haben den neuern Ideen die Bahn gebrochen. Jetzt ist die Privatschule aus Geldrücksichten gezwungen, in dem staatlich geebneten Gleise auf das Freiwilligenzeugnis loszuarbeiten, und auch so ist sie gegen die öffentlichen Schulen im Nachteil, wenn sie sich nicht auf das geringste Maß der gesetzlichen Forderungen beschränkt, um die Schwachen, die ans andern Schulen nicht fortkommen, durchzubringen. Die öffentliche Schule aber kann keine Neuerungen einführen, sie muß an dem Grenzboten I 1890 75

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/601>, abgerufen am 23.07.2024.