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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Die zukünftigen Parteien

überzustellen, die in politischer Beziehung konservativ ist, d. h. fest auf dem
Boden unsrer Verfassung steht, in sozialer Beziehung aber bis zu einem ge¬
wissen Grade radikales Gepräge trägt?

Den Kartellparteien fehlte es im letzten Wahlkampfe hie und da an den
rechten Männern, aber vor allem an einem durchschlagenden großen Ge¬
danken. Die kaiserlichen Erlasse kamen zu spät, als daß sie in ihrem tiefsten
Grnnde erfaßt und zu einem klaren Programm Hütten zugespitzt werden können.
Die Verteidigung der jetzigen Wirtschaftspolitik, das Hin- und Herwerfen mit
teilweise unsichern Zahlen aus dein Gebiete der Zucker- und Branntweinsteuer
war eine ebenso trockene als unfruchtbare Aufgabe, die selbst im Munde des
gewandtesten Redners ohne Eindruck auf die breitern Schichten blieb. Wo
aber traten die großen Ziele und Aufgaben der sozialen Gesetzgebung, des
Sozialistengesetzes, der Regelung der Verhältnisse der gesunden Arbeiter u. s. w.
hervor, mit einem Wort, wo machte sich die soziale Frage in durchgreifender
Weise geltend? Wir wüßten es nicht zu sagen, wir können aber nur den
dringenden Wunsch hegen, daß für die nächsten Wahlen eine sozial-monarchische
Partei auf dem Plane stünde, die die Masse der staatserhaltenden Gruppen
in sich ausgenommen Hütte und mit einem Programm im großen Stil hervor¬
träte, Aufklärung über die verfehlten Ziele der sozialdemokratischen Theorie
bis in die innersten Schichten unsers Volkes verbreitend und in ehrlichem
Streben für das Wohl der arbeitenden Klassen mit den Sozialdemokraten wett¬
eifernd. Das Gruseligmacheu allein zieht nicht mehr; höchstens bei denen, die
ob der rücksichtslosen Ausbeutung des vierten Standes oder ob der unsinnigen
Aufhäufung toter Kapitalien ihr Gewissen nicht ganz frei fühlen. Eine geistige
Bewegung kann allein mit ihren eignen Waffen bekämpft werden. Deshalb
wird ein eindringendes Studium der sozialen Frage allen denen empfohlen
werden müssen, die in den nüchsteu Jahren mitreden und mitraten wollen.
Jetzt noch mögen gar viele bei dem Brausen des neuen Geisteswehens sich
des Gefühls nicht erwehren können: Nirgends haften die unsichern Sohlen;
mit uns spielen Wolken und Winde. Aber das Gefühl der Unsicherheit wird
schwinde", wenn die ernste Zeit auch ernste Arbeiter findet, wenn die Parteien,
die bisher als staatserhaltende sich bezeichneten, ohne es immer in Wahrheit
zu sein, sich auf die eine große Aufgabe besinnen wollen, die arbeitenden
Klassen mit der bestehenden Gesellschaftsordnung zu versöhnen und ihnen inner¬
halb derselben ein menschenwürdiges Dasein zu bereiten.

Diese Aufgabe wird den Mittel- und Angelpunkt der nächsten Zukunft bilden.
Alle die aber, die billige, durch dringende Bedürfnisse empfohlene Reformen von
vornherein als revolutionäres Beginnen bezeichnen, weil sie in Egoismus erstarrt
kein Verständnis für die Strömungen der Zeit besitzen, mögen sich hinterher nicht
wundern, wenn der fortwährend anschwellende Gegensatz den Charakter einer
unaufhaltbaren Naturgewalt bekommt, die bisherigen Schranken durchbricht und


Die zukünftigen Parteien

überzustellen, die in politischer Beziehung konservativ ist, d. h. fest auf dem
Boden unsrer Verfassung steht, in sozialer Beziehung aber bis zu einem ge¬
wissen Grade radikales Gepräge trägt?

Den Kartellparteien fehlte es im letzten Wahlkampfe hie und da an den
rechten Männern, aber vor allem an einem durchschlagenden großen Ge¬
danken. Die kaiserlichen Erlasse kamen zu spät, als daß sie in ihrem tiefsten
Grnnde erfaßt und zu einem klaren Programm Hütten zugespitzt werden können.
Die Verteidigung der jetzigen Wirtschaftspolitik, das Hin- und Herwerfen mit
teilweise unsichern Zahlen aus dein Gebiete der Zucker- und Branntweinsteuer
war eine ebenso trockene als unfruchtbare Aufgabe, die selbst im Munde des
gewandtesten Redners ohne Eindruck auf die breitern Schichten blieb. Wo
aber traten die großen Ziele und Aufgaben der sozialen Gesetzgebung, des
Sozialistengesetzes, der Regelung der Verhältnisse der gesunden Arbeiter u. s. w.
hervor, mit einem Wort, wo machte sich die soziale Frage in durchgreifender
Weise geltend? Wir wüßten es nicht zu sagen, wir können aber nur den
dringenden Wunsch hegen, daß für die nächsten Wahlen eine sozial-monarchische
Partei auf dem Plane stünde, die die Masse der staatserhaltenden Gruppen
in sich ausgenommen Hütte und mit einem Programm im großen Stil hervor¬
träte, Aufklärung über die verfehlten Ziele der sozialdemokratischen Theorie
bis in die innersten Schichten unsers Volkes verbreitend und in ehrlichem
Streben für das Wohl der arbeitenden Klassen mit den Sozialdemokraten wett¬
eifernd. Das Gruseligmacheu allein zieht nicht mehr; höchstens bei denen, die
ob der rücksichtslosen Ausbeutung des vierten Standes oder ob der unsinnigen
Aufhäufung toter Kapitalien ihr Gewissen nicht ganz frei fühlen. Eine geistige
Bewegung kann allein mit ihren eignen Waffen bekämpft werden. Deshalb
wird ein eindringendes Studium der sozialen Frage allen denen empfohlen
werden müssen, die in den nüchsteu Jahren mitreden und mitraten wollen.
Jetzt noch mögen gar viele bei dem Brausen des neuen Geisteswehens sich
des Gefühls nicht erwehren können: Nirgends haften die unsichern Sohlen;
mit uns spielen Wolken und Winde. Aber das Gefühl der Unsicherheit wird
schwinde», wenn die ernste Zeit auch ernste Arbeiter findet, wenn die Parteien,
die bisher als staatserhaltende sich bezeichneten, ohne es immer in Wahrheit
zu sein, sich auf die eine große Aufgabe besinnen wollen, die arbeitenden
Klassen mit der bestehenden Gesellschaftsordnung zu versöhnen und ihnen inner¬
halb derselben ein menschenwürdiges Dasein zu bereiten.

Diese Aufgabe wird den Mittel- und Angelpunkt der nächsten Zukunft bilden.
Alle die aber, die billige, durch dringende Bedürfnisse empfohlene Reformen von
vornherein als revolutionäres Beginnen bezeichnen, weil sie in Egoismus erstarrt
kein Verständnis für die Strömungen der Zeit besitzen, mögen sich hinterher nicht
wundern, wenn der fortwährend anschwellende Gegensatz den Charakter einer
unaufhaltbaren Naturgewalt bekommt, die bisherigen Schranken durchbricht und


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[0599] Die zukünftigen Parteien überzustellen, die in politischer Beziehung konservativ ist, d. h. fest auf dem Boden unsrer Verfassung steht, in sozialer Beziehung aber bis zu einem ge¬ wissen Grade radikales Gepräge trägt? Den Kartellparteien fehlte es im letzten Wahlkampfe hie und da an den rechten Männern, aber vor allem an einem durchschlagenden großen Ge¬ danken. Die kaiserlichen Erlasse kamen zu spät, als daß sie in ihrem tiefsten Grnnde erfaßt und zu einem klaren Programm Hütten zugespitzt werden können. Die Verteidigung der jetzigen Wirtschaftspolitik, das Hin- und Herwerfen mit teilweise unsichern Zahlen aus dein Gebiete der Zucker- und Branntweinsteuer war eine ebenso trockene als unfruchtbare Aufgabe, die selbst im Munde des gewandtesten Redners ohne Eindruck auf die breitern Schichten blieb. Wo aber traten die großen Ziele und Aufgaben der sozialen Gesetzgebung, des Sozialistengesetzes, der Regelung der Verhältnisse der gesunden Arbeiter u. s. w. hervor, mit einem Wort, wo machte sich die soziale Frage in durchgreifender Weise geltend? Wir wüßten es nicht zu sagen, wir können aber nur den dringenden Wunsch hegen, daß für die nächsten Wahlen eine sozial-monarchische Partei auf dem Plane stünde, die die Masse der staatserhaltenden Gruppen in sich ausgenommen Hütte und mit einem Programm im großen Stil hervor¬ träte, Aufklärung über die verfehlten Ziele der sozialdemokratischen Theorie bis in die innersten Schichten unsers Volkes verbreitend und in ehrlichem Streben für das Wohl der arbeitenden Klassen mit den Sozialdemokraten wett¬ eifernd. Das Gruseligmacheu allein zieht nicht mehr; höchstens bei denen, die ob der rücksichtslosen Ausbeutung des vierten Standes oder ob der unsinnigen Aufhäufung toter Kapitalien ihr Gewissen nicht ganz frei fühlen. Eine geistige Bewegung kann allein mit ihren eignen Waffen bekämpft werden. Deshalb wird ein eindringendes Studium der sozialen Frage allen denen empfohlen werden müssen, die in den nüchsteu Jahren mitreden und mitraten wollen. Jetzt noch mögen gar viele bei dem Brausen des neuen Geisteswehens sich des Gefühls nicht erwehren können: Nirgends haften die unsichern Sohlen; mit uns spielen Wolken und Winde. Aber das Gefühl der Unsicherheit wird schwinde», wenn die ernste Zeit auch ernste Arbeiter findet, wenn die Parteien, die bisher als staatserhaltende sich bezeichneten, ohne es immer in Wahrheit zu sein, sich auf die eine große Aufgabe besinnen wollen, die arbeitenden Klassen mit der bestehenden Gesellschaftsordnung zu versöhnen und ihnen inner¬ halb derselben ein menschenwürdiges Dasein zu bereiten. Diese Aufgabe wird den Mittel- und Angelpunkt der nächsten Zukunft bilden. Alle die aber, die billige, durch dringende Bedürfnisse empfohlene Reformen von vornherein als revolutionäres Beginnen bezeichnen, weil sie in Egoismus erstarrt kein Verständnis für die Strömungen der Zeit besitzen, mögen sich hinterher nicht wundern, wenn der fortwährend anschwellende Gegensatz den Charakter einer unaufhaltbaren Naturgewalt bekommt, die bisherigen Schranken durchbricht und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/599>, abgerufen am 25.08.2024.