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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Die zukünftigen Parteien

zeugung sich Bah" bricht, das; der geistige und moralische Schatz am besten
dadurch bewahrt wird, das; man aus dein Bann der Staatskirche heraustreten
und sich mitten hinein in die sozialen Strömungen stürzen muß, wenn man
bestimmenden Einfluß auf sie gewinnen will. Daß ferner die Geldaristokratie,
der Kapitalismus, nicht sozial wird, ist selbstverständlich. Aber das Kaisertum
kann es werden und ist es geworden, wie wir jetzt sehen. So wenig ein
politisch-radikales Kaisertum denkbar ist -- denn das ist ein Unding --, ein
sozial-radikales ist nicht nur möglich, sondern die einzige Rettung. Möglich
ist es, da es nicht durch die Überlieferungen der Aristokratie gebunden ist,
sondern nur durch die des eignen Hauses. Eine große und herrliche Über¬
lieferung aber ist es, selber die Bahn zu zeigen, wo auch der kühnste Wäger
es verschmäht, den Weg vorzuschreiben.

Ein merkwürdiges Zeichen der Zeit. Einer der mächtigsten Herrscher
nimmt sich in der thatkräftigsten Weise der Arbeiterfrage an. Er will zeigen,
daß diese auch in dem Rahmen der alten gesellschaftlichen Ordnung gelöst
werden könne gegenüber der Ansicht der Sozialdemokratie, die dahin geht, daß
die Arbeiterfrage nicht nnr eine Reformirung der Gesellschaft erfordere, sondern
eine ganz neue Gesellschaft. Glückt es, daß das soziale Problem von der
alten Gesellschaftsordnung zu einer allseitig befriedigenden Lösung gebracht
wird, dann wird der Sozialdemokratie als Gesellschaftsthevrie eine Niederlage
bereitet, von der sie sich kaum erholen dürfte. Und wirklich ist die Hoffnung
ans friedliche Lösung berechtigt, ohne daß der ökonomische Grundstock der Ge¬
sellschaft eine durchgreifende Umbildung erfährt. Das Ziel der Arbeitermassen
ist überhaupt nicht eine Gesellschaftsreform. Ihr Ziel besteht in der ökono¬
mischen Freimachung. Die Forderung nach einer neuen Gesellschaftsordnung
haben sie nnr deshalb aufgestellt, weil sie meine!?, dies sei das einzige Mittel,
das Ziel zu erreichen. Kann das Ziel aus einem andern Wege ebenso gut
erreicht werden, so werden sie sich bald zufrieden geben, soweit sie nicht in
Parteifanatismus und Doktrinarismus befangen sind.

So ist die gegenwärtige Lage unsers Vaterlandes äußerst interessant.
Der Kaiser wird praktischer Sozialist, um den theoretischen Sozialismus zu
bekämpfen. Er nimmt die gegenwärtigen praktischen Forderungen der Sozia¬
listen auf, um ihrem letzten Programm den Boden zu entziehen.

Diese tiefgreifende Bewegung wird nicht ohne Einfluß auf die Partei¬
gestaltung bleiben können. Die soziale Frage steht im Vordergründe und wird
voraussichtlich auf lange Zeit hinaus diesen Platz behaupten. Das rein
Politische tritt so weit zurück, daß schon jetzt die alten Bezeichnungen und
Firmenschilder als bloße Namen erscheinen, denen der rechte Inhalt abhanden
gekommen ist. Wäre eS da nicht an der Zeit, mit den abgenutzten Aufschriften
auch die nicht mehr zutreffenden Parteischeidungen zu beseitigen und im Sinne
einer großen Zeit der Sozialdemokratie eine große sozialistische Partei gegen-


Die zukünftigen Parteien

zeugung sich Bah» bricht, das; der geistige und moralische Schatz am besten
dadurch bewahrt wird, das; man aus dein Bann der Staatskirche heraustreten
und sich mitten hinein in die sozialen Strömungen stürzen muß, wenn man
bestimmenden Einfluß auf sie gewinnen will. Daß ferner die Geldaristokratie,
der Kapitalismus, nicht sozial wird, ist selbstverständlich. Aber das Kaisertum
kann es werden und ist es geworden, wie wir jetzt sehen. So wenig ein
politisch-radikales Kaisertum denkbar ist — denn das ist ein Unding —, ein
sozial-radikales ist nicht nur möglich, sondern die einzige Rettung. Möglich
ist es, da es nicht durch die Überlieferungen der Aristokratie gebunden ist,
sondern nur durch die des eignen Hauses. Eine große und herrliche Über¬
lieferung aber ist es, selber die Bahn zu zeigen, wo auch der kühnste Wäger
es verschmäht, den Weg vorzuschreiben.

Ein merkwürdiges Zeichen der Zeit. Einer der mächtigsten Herrscher
nimmt sich in der thatkräftigsten Weise der Arbeiterfrage an. Er will zeigen,
daß diese auch in dem Rahmen der alten gesellschaftlichen Ordnung gelöst
werden könne gegenüber der Ansicht der Sozialdemokratie, die dahin geht, daß
die Arbeiterfrage nicht nnr eine Reformirung der Gesellschaft erfordere, sondern
eine ganz neue Gesellschaft. Glückt es, daß das soziale Problem von der
alten Gesellschaftsordnung zu einer allseitig befriedigenden Lösung gebracht
wird, dann wird der Sozialdemokratie als Gesellschaftsthevrie eine Niederlage
bereitet, von der sie sich kaum erholen dürfte. Und wirklich ist die Hoffnung
ans friedliche Lösung berechtigt, ohne daß der ökonomische Grundstock der Ge¬
sellschaft eine durchgreifende Umbildung erfährt. Das Ziel der Arbeitermassen
ist überhaupt nicht eine Gesellschaftsreform. Ihr Ziel besteht in der ökono¬
mischen Freimachung. Die Forderung nach einer neuen Gesellschaftsordnung
haben sie nnr deshalb aufgestellt, weil sie meine!?, dies sei das einzige Mittel,
das Ziel zu erreichen. Kann das Ziel aus einem andern Wege ebenso gut
erreicht werden, so werden sie sich bald zufrieden geben, soweit sie nicht in
Parteifanatismus und Doktrinarismus befangen sind.

So ist die gegenwärtige Lage unsers Vaterlandes äußerst interessant.
Der Kaiser wird praktischer Sozialist, um den theoretischen Sozialismus zu
bekämpfen. Er nimmt die gegenwärtigen praktischen Forderungen der Sozia¬
listen auf, um ihrem letzten Programm den Boden zu entziehen.

Diese tiefgreifende Bewegung wird nicht ohne Einfluß auf die Partei¬
gestaltung bleiben können. Die soziale Frage steht im Vordergründe und wird
voraussichtlich auf lange Zeit hinaus diesen Platz behaupten. Das rein
Politische tritt so weit zurück, daß schon jetzt die alten Bezeichnungen und
Firmenschilder als bloße Namen erscheinen, denen der rechte Inhalt abhanden
gekommen ist. Wäre eS da nicht an der Zeit, mit den abgenutzten Aufschriften
auch die nicht mehr zutreffenden Parteischeidungen zu beseitigen und im Sinne
einer großen Zeit der Sozialdemokratie eine große sozialistische Partei gegen-


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[0598] Die zukünftigen Parteien zeugung sich Bah» bricht, das; der geistige und moralische Schatz am besten dadurch bewahrt wird, das; man aus dein Bann der Staatskirche heraustreten und sich mitten hinein in die sozialen Strömungen stürzen muß, wenn man bestimmenden Einfluß auf sie gewinnen will. Daß ferner die Geldaristokratie, der Kapitalismus, nicht sozial wird, ist selbstverständlich. Aber das Kaisertum kann es werden und ist es geworden, wie wir jetzt sehen. So wenig ein politisch-radikales Kaisertum denkbar ist — denn das ist ein Unding —, ein sozial-radikales ist nicht nur möglich, sondern die einzige Rettung. Möglich ist es, da es nicht durch die Überlieferungen der Aristokratie gebunden ist, sondern nur durch die des eignen Hauses. Eine große und herrliche Über¬ lieferung aber ist es, selber die Bahn zu zeigen, wo auch der kühnste Wäger es verschmäht, den Weg vorzuschreiben. Ein merkwürdiges Zeichen der Zeit. Einer der mächtigsten Herrscher nimmt sich in der thatkräftigsten Weise der Arbeiterfrage an. Er will zeigen, daß diese auch in dem Rahmen der alten gesellschaftlichen Ordnung gelöst werden könne gegenüber der Ansicht der Sozialdemokratie, die dahin geht, daß die Arbeiterfrage nicht nnr eine Reformirung der Gesellschaft erfordere, sondern eine ganz neue Gesellschaft. Glückt es, daß das soziale Problem von der alten Gesellschaftsordnung zu einer allseitig befriedigenden Lösung gebracht wird, dann wird der Sozialdemokratie als Gesellschaftsthevrie eine Niederlage bereitet, von der sie sich kaum erholen dürfte. Und wirklich ist die Hoffnung ans friedliche Lösung berechtigt, ohne daß der ökonomische Grundstock der Ge¬ sellschaft eine durchgreifende Umbildung erfährt. Das Ziel der Arbeitermassen ist überhaupt nicht eine Gesellschaftsreform. Ihr Ziel besteht in der ökono¬ mischen Freimachung. Die Forderung nach einer neuen Gesellschaftsordnung haben sie nnr deshalb aufgestellt, weil sie meine!?, dies sei das einzige Mittel, das Ziel zu erreichen. Kann das Ziel aus einem andern Wege ebenso gut erreicht werden, so werden sie sich bald zufrieden geben, soweit sie nicht in Parteifanatismus und Doktrinarismus befangen sind. So ist die gegenwärtige Lage unsers Vaterlandes äußerst interessant. Der Kaiser wird praktischer Sozialist, um den theoretischen Sozialismus zu bekämpfen. Er nimmt die gegenwärtigen praktischen Forderungen der Sozia¬ listen auf, um ihrem letzten Programm den Boden zu entziehen. Diese tiefgreifende Bewegung wird nicht ohne Einfluß auf die Partei¬ gestaltung bleiben können. Die soziale Frage steht im Vordergründe und wird voraussichtlich auf lange Zeit hinaus diesen Platz behaupten. Das rein Politische tritt so weit zurück, daß schon jetzt die alten Bezeichnungen und Firmenschilder als bloße Namen erscheinen, denen der rechte Inhalt abhanden gekommen ist. Wäre eS da nicht an der Zeit, mit den abgenutzten Aufschriften auch die nicht mehr zutreffenden Parteischeidungen zu beseitigen und im Sinne einer großen Zeit der Sozialdemokratie eine große sozialistische Partei gegen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/598>, abgerufen am 25.08.2024.